Schlagwörter
Ein Rundgang durch Kabul zehn Jahre nach dem 11.September und der folgenden US-geführten Intervention in Afghanistan
Der Artikel wurde ursprünglich im Neuen Deutschland (Berlin) in der Ausgabe vom 10/11.9.2011 unter dem Titel „Hoffnung ist knapp geworden“ publiziert, online hier (nur für Abonnenten).
„Kabul ist nicht Afghanistan“, lautete ein Merksatz, den jeder Afghanistan-Reisende beherzigen sollte. Zwar fokussieren sich in der afghanischen Hauptstadt viele Probleme des Landes, aber anderes, das das Afghanistan zehn Jahre nach den Anschlägen des 11. September und Bushs anschließendem Rachefeldzug charakterisiert, bleibt in Kabul auf den ersten Blick unsichtbar: wie brutal der Krieg von beiden Seiten geführt wird, die tiefe Armut großer Teile gerade der ländlichen Bevölkerung, die kaum etwas von den Wiederaufbaumilliarden gehabt hat, wie der allgemeine Sicherheitswahn, die Mega-Kontrakte des Militärs und die Korruption Hand in Hand gehen.
Und doch machen sich Delegationen aus den Geberländern oft ein Bild über das Land, das ausschließlich aus Eindrücken während der Autopassagen zwischen Flughafen, Botschaften und Ministerien in Kabul, durch kugelsichere und getönte Scheiben blickend, ein paar Tagen in einem Bundeswehr-Camp und schöngefärbten Briefings von Ministern und Diplomaten besteht.
Auch der in Kabul gut sichtbare Baumboom, oft als Fortschritt gesehen, ist ein solcher nur an der Oberfläche. Tatsächlich steht er für die wachsende soziale Kluft zwischen einer westlich finanzierten Neo-Oligarchie, die auch den Immobilienmarkt und das Baugeschäft beherrscht, und der Mehrheit der Bevölkerung. Bauarbeiter in Kabul sind meist Tagelöhner. Sie sitzen an belebten Straßenecken und warten darauf, angeheuert zu werden, oft umsonst. Aber auch Übersetzer bei den ISAF-Truppen, viele Mitarbeiter von UNO und Hilfsorganisationen gehören, obwohl besser bezahlt, zum Prekariat. Spätestens in ein paar Jahren werden auch sie ihre Arbeit verlieren, während Minister und andere hohe Beamte mit ihren Top-up-Gehälter, gezahlt über die Weltbank oder direkt von einzelnen Regierungen, etwas auf die Kante legen können.
Schon jetzt sind viele afghanische Familien in dem Dilemma gefangen, zwischen dem unsicheren aber preiswerteren Umland und der Stadt mit ihren steigenden Preisen und Mieten wählen zu müssen. Und oft lassen Taleban-Drohungen ihnen gar keine Wahl.
„Das Leben nur einen Kilometer abseits der geteerten Straßen hat sich keinen Deut verändert“, sagt ein Arzt, der in einer ärmsten Provinzen im Süden lebt. Auch deshalb die Landflucht, die Kabul, einst für eine halbe Million Menschen geplant, mit heute drei bis vier Millionen Einwohnern aus den Nähten platzen lässt. Denn in Kabul gibt es wenigstens die Aussicht auf Arbeit.
Was Besucher nicht wahrnehmen – oder wahrnehmen wollen: Die Stadt ist ein riesiges Provisorium mit einer korrupten Verwaltung. Zudem belasten die Befreier von 2001, die sich oft eher wie Okkupanten bewegen. Ihre Konvois tragen rote Warnschilder: Abstand halten, sonst wird geschossen.
Kabuls Infrastruktur ging 1982, während der Befreiung durch die Mudschahedin, unter. Vom öffentlichen Transportsystem sind Buswracks übrig, die sich im alten Depot dreifach übereinander stapeln. Ein paar Straßen sind seit Ende 2001 beleuchtet und asphaltiert worden, die Müllabfuhr – meist immer noch per offenem LKW und Schaufel – fängt langsam an zu funktionieren. Sie konkurriert mit privaten Müllsammlern, die die besseren Stadtvierteln abklappern und aussondern was recycling-fähig ist. Es dauerte acht Jahre während der größten Wiederaufbau-Intervention in der Geschichte des Westens, bis die Kabuler Strom rund um die Uhr erhielten, jedenfalls beinahe. Das Abwassersystem besteht aus offenen Kanälen, in denen sich zunehmend Plastikreste sammeln. Sein Trinkwasser lässt man besser immer noch nicht analysieren.
Nur der Erfindungsreichtum seiner Bewohner, ihre Gewöhnung an oft unzumutbare Zustände, Zuwendungen meist auch nicht wohlhabenden Exil-Afghanen und hier und da ein paar gute Entwicklungsprojekte machen ein Überleben in diesem Chaos überhaupt möglich.
Kabul lebt im Dauerverkehrskollaps. Noch vor zehn Jahren, unter den Taleban, sah man kaum PKWs auf den Straßen. Welcher Kabuli einen besaß, ließ ihn lieber zu Hause. Man wusste nie, ob eine Patrouille ihn beschlagnahmen würde. Jetzt konkurrieren schrottreife Taxis mit geplatzten Scheiben mit den superteuren Spritfressern der Warlord-Söhne, von Kindern gelenkte Eselskarren und todesmutigen Radfahrern. Am Straßenrand weiden Schafherden auf Müllbergen. Gegenüber laufen Reklamevideos auf dem Riesendisplay vor dem Ableger einer Supermarkt-Kette aus Dubai. Im Supermarkt selbst sprengte sich Anfang des Jahres ein Selbstmordattentäter in die Luft. Angeblich hatte er es auf den Manager einer ausländischen Sicherheitsfirma abgesehen, aber er traf die Familie einer Menschenrechtlerin.
Wo sich Botschaften und NATO-Einrichtungen ballen, sieht Kabul aus, als ob die Berliner Mauer an den Hindukusch verlegt worden wäre. Meterhohe, oft doppelte Betonelemente mit Stacheldrahtverhauen, Wachtürmen und wahrscheinlich auch Schießbefehl säumen dort die Straßen. Wachleute privater afghanischer Sicherheitsdienst stellen sich selbst Fußgängern in den Weg, wenn ein ausländischer Berater auch nur die eigentlich öffentliche, aber nun schon abgesperrte Straße queren will.
Eines Tage begegnete ich in der Mauergasse einem bärtigen Paschtunen, der unter brennender Sonne durch den Staub schlurfte. Auf mein erschöpftes „Salam alaikum“ hin umarmte er mich und sagte: „Endlich ein Mensch!“ Lächelnd gingen wir beide weiter, in entgegengesetzte Richtungen.
Es gibt noch zwei offene Durchgangsstraßen, durch die sich das motorisierte Kabul im Schritttempo quälen muss. Alle anderen sind gesperrt. An der Platanenallee zum früheren Königspalast, durch die ich in den 80er Jahren spazierte, befindet sich die bunkergleiche US-Botschaft. Mit dem gegenüberliegenden Gelände der Entwicklungsagentur USAID ist sie durch einen Tunnel verbunden. An der Kreuzung, an dem die Taleban 1996 den früheren Präsidenten Najibullah aufhängten, im früheren Ariana-Hotel, hat die CIA ihr afghanisches Hauptquartier aufgeschlagen. Der dickste Schlagbaum Kabuls aber blockiert die Zufahrt zur deutschen Botschaft. Er wurde aufgestellt, nachdem Anfang 2009 eine Autobombe der Taleban einen vermeintlichen Tankwagen für das gegenüberliegende ISAF-Kommando in die Luft sprengte. Zum Glück war es nur ein Jauchewagen, und die Opferzahl – drei Tote, zwölf Verletzte – hielt sich vergleichsweise in Grenzen.
Noch offen ist die Hauptstraße durch das sogenannte Botschaftsviertel Wazir Akbar Khan. Natürlich ist sie immer verstopft. Wir nehmen einen Schleichweg durch den Stadtteil Scherpur, den skurrilsten Teil der Stadt. Hier befand sich im 19. Jahrhundert das Feldlager der Briten, als die Kolonialmacht wähnte, jetzt auch die freiheitsliebenden Afghanen unterworfen zu haben. Vor zehn Jahren noch ein unpassierbares Gewirr aus Schrottplätzen und illegalen Hütten, residieren dort heute Afghanistans Neo-Oligarchen. Protzvillen mit falschen dorischen Säulen, Adlerskulpturen und riesige Sonnenterrassen, auf denen nie ein Mensch zu sehen ist, bewacht von unrasierten Milizionären, kontrastieren mit den ungeteerten Schlaglochpisten dazwischen. Der ästhetische Anspruch der Warlords endet an der Grundstücksgrenze.
Mit Hinweis auf die Herkunft der Finanzquellen wird diese Bauweise „Narcotektur“ genannt. Zudem wurden die Behausungen der Flüchtlinge, die hier früher lebten, vom Polizeichef mit Bulldozern plattgemacht, bevor die Grundstücke an Regierungsmitglieder verteilt wurden. Fast alle griffen zu. „Tschorpur“ nennt der Volksmund deshalb die Gegend, „Plündererstadt“.
„Ausweis?“, fragt der junge Polizist einsilbig meinen Fahrer. Heute sind offenbar kupferrote Toyotas dran. Oft kursieren Informationen, welchen Typ Auto die immer wieder gruppenweise einsickernden Selbstmordattentäter fahren. „Sehe ich aus wie al-Qaida?“, frage ich zurück. Der junge Polizist grinst, murmelt etwas von Pflicht, winkt uns weiter. Er steht an einem Posten des sogenannten Stahlringes, eine Kette von Posten an wichtigen Kabuler Straßenkreuzungen. Der Name ist wahrscheinlich auch eine Erfindung der NATO-Presseabteilung. Doch gegen 17 Uhr werden viele seiner Kollegen nach Hause gehen. Der Stahlring ähnelt dann eher einem Schweizer Käse, eine Einladung für die Aufständischen.
Die Folgen konnte ich am Abend 28. Juni von der Dachterrasse unseres Büros beobachten: den Angriff eines Taleban-Kommando auf ein bei wohlhabenderen Afghanen beliebtes Hotel. Von vornherein verhinderten weder afghanische Polizei noch NATO-Soldaten diesen Angriff. Genau das gibt vielen Kabulis zu Denken, und sie beginnen bereits für die Zeit nach dem Abzug 2014 Familienmitglieder im Ausland zu positionieren. Im chaotischen Kabul ist auch die 2001 aufgekeimte Hoffnung wieder knapp geworden.
Diese Reportage entstand vor drei Jahren, und ich bin gespannt, wie ich Kabul nach drei Jahren Zwangspause vorfinden werde – wieder im grauen Monat November.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.