Vor ein paar Tagen bin ich von Reuters für einen Artikel zum Thema „neue Milizen in Kunduz“ interviewt worden. (Meine Einschätzung der Situation dort findet sich hier.) Davon hat es nur ein einziger Satz in die folgende Meldung gebracht („Stretched Afghan army falls back on militias to help defend Kunduz“). Deshalb hier (ganz unten, nach der Einleitung) noch einmal meine gesamte Einlassung im Zusammenhang.
Der Hintergrund ist, dass der neue Verteidigungsminister Ulumi – Anfang der 1990er Jahre unter der DVPA-Regierung eine Art Super-Gouverneur für Süd-Afghanistan um Kandahar herum – angekündigt hat, dass für Kunduz und ganz Nord-Afghanistan neue Milizen aufgestellt werden sollen. Er versucht damit, sein eigenes Rezept aus den 90ern zu kopieren, als er in der Region Kandahar eine Art Waffenstillstand mit den Mudschahedin durchsetzte, auch dadurch, dass er auf Regierungsseiten zusätzliche, irreguläre bewaffnete Kräfte mobilisierte.
Dazu gehörte im übrigen auch eine Miliz, die sich vor allem aus dem Stamm der Atschakzai (eigentlich Atsakzai) rekrutierte. Ihr Führer war der für seinen Alkohol- und Haschischkonsum berüchtigte Ismatullah Muslim, der inzwischen verstorben ist. Aus ihr ging indirekt der gegenwärtige Polizeichef von Kandahar, Abdul Razeq hervor, dessen Vater zu der Atsakzai-Miliz gehört haben soll. Razeq ist für seine gravierenden Menschenrechtsverletzungen bekannt, zu denen auch von ihm geführte irreguläre Kräfte beitragen. Einzelheiten im letzten HRW-Report (Analyse und Link hier).
Gleichzeitig stellt Ulumis Programm nur ein nachträgliches Gutheißen durch die Regierung dessen an, was sich sowieso schon „spontan“ vollzieht: dass örtliche Kommandanten, vor allem aus dem Mudschahedin-Umfeld Milizen zur Taleban-Abwehr bilden. (So spontan ist das nicht, denn diese Milizen gibt es schon seit Jahren – siehe zahlreiche Berichte bei AAN (z.B. hier) sowie ein nach wie vor hochaktuelles Papier von 2008). Aber jetzt bietet sich die Gelegenheit, sie staatlich zu sanktionieren. Dazu kommt, dass viele ehemalige Mudschehadin-Führer der Ansicht sind, sie würden zunehmend aus Machtpositionen verdrängt, und die Regierung durch die Sanktionierung dieser illegalen Gruppierungen nun versucht, diesen Ansichten etwas Wind aus den Segeln zu nehmen. Zudem gehört Ulumi, ein früherer Funktionäre des DVPA-Linksregimes zwar, inzwischen zum Lager von CEO Abdullah und damit der ehemaligen Nordallianz, die in Nord-Afghanistan zahlreiche Netzwerke illegaler und inzwischen schon wieder legalisierter Milizen unterhält. Damit schließt sich der politische Kreis.
Präsidentensprecher Abidy nannte das neue Milizenrekrutierungsprogramm im (bisherigen) Euphemismus des Jahres „selektive, freiwillige Bürgerbeteiligung bei der Verteidigung des Landes gegen Terroristen“.
Interessanterweise hatte im März der neue, vom Präsident Ghani eingesetzte Gouverneur der später so umkämpften Provinz Kunduz angedroht, sein Amt zu quittieren, falls den „illegalen bewaffneten Gruppen“ kein Riegel vorgeschoben werde.
Schon früher hat sich in Mazar-e Scharif eine neue Miliz namens „Marg“ gebildet. Sie behauptete, 5000 Mitglieder zu haben, und erklärte, sie wolle den IS (Daesh) und die Taleban bekämpfen. Eine Gruppe von Mitgliedern (siehe Foto) zog damals zum Provinzrat von Balkh, mit Kleidern in den Landesfarben Grün-Rot-Schwarz, was beim Kämpfen aber vermutlich eher nachteilig wäre. Die afghanische Nachrichtenagentur Khaama berichtete das bereits im Januar 2015.
Ihren Namen „Marg“, also „Tod“, gebraucht die Gruppe wohl in dem Sinne, wie es auch die kurdischen Peschmerga („die vor dem Tod Stehenden“) tun. Allerdings hat man seither nichts mehr von ihnen gehört, jedenfalls was konkrete Aktivitäten angeht.
Einen Monat später griff die Washington Post das Thema auf und sagte, viele der Marg-Mitglieder seien Hazara. Wie dem auch sei – wichtiger war die ebenfalls enthaltene Aussage eines Vertreters der örtlichen Menschenrechtskommission: „Die Erfahrung, die wir in der Vergangenheit in diesem Land gemacht haben, ist, dass solche illegalen bewaffneten Gruppen Probleme für die Bevölkerung schaffen. Wir wissen nicht, wer sie [die Marg-Miliz] unterstützt oder für wen sie arbeitet. Das ist unsere Angst.“
Der WP-Artikel enthält des weiteren auch den bemerkenswerten Satz des Sprechers des afghanischen Verteidigungsministeriums:
„Es gibt in Afghanistan keine Milizen.“
(Im übrigen heißt die Miliz nicht, wie im Text der Washington Post, „Margh“ – nicht jedes „g“ in Dari ist ein „gh“, wie in Afghanistan oder Aschraf Ghani; es gibt beide Buchstaben.)
Hier nun meine Äußerungen gegenüber Reuters in voller Länge:
Wieder einmal ist Afghanistan zwischen kurzfristigen Notwendigkeiten und langfristigen Problemen gefangen. Kurzfristtig ist es verständlich, dass man der Taleban-Offensive entgegentreten muss und dass Afghanistan deshalb alle verfügbaren Kräfte mobilisiert. Das schließt Milizen aller Art ein. Das Problem ist, dass diese Milizen oft nicht unter Kontrolle der Regierung stehen, oder nur unter formaler Kontrolle, aber meistens unter der Kontrolle lokaler Machthaber sind, die mit der Regierung verbündet sind und manchmal auch nicht, die diesen Kräften sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Im Moment mögen sie die Regierung unterstützen, aber wir wissen nicht, was sie nächste Woche tun werden.
Das Problem ist: Afghanistan ist eine militarisierte Gesellschaft, und wenn man mehr und mehr Milizen hinzufügt, fügt man auch neuen Zündstoff zu schon existierenden Konflikten hinzu, die man dadurch für die Zukunft noch gefährlicher macht. Und das ist gefährlich. Probleme kurzfristig zu lösen kann langfristig andere Probleme für Afghanistan verschärfen.
Es wäre besser gewesen, die Mitglieder solcher Milizen – individuell! – für die reguläre Polizei zu rekrutieren. Immerhin war die Aufgabe der internationalen Intervention ja, Institutionen in Afghanistan aufzubauen. [Nicht bestehende, wie die Polizei, durch die Rekrutierung von „Ersatzpolizeien“ zu untergraben.] Aber in der Praxis sind oft Ressourcen, die man für die reguläre Polizei werden werden könnten, in „Parallellösungen“ wie die frühere ANAP (Afghanische Nationale Hilfspolizei oder die jetzige Afghanische Lokalpolizei geflossen.
Vor Ort ist es völlig klar, dass diese [ALP] keinerlei Befehle vom örtlichen Polizeichef [dem sie formal unterstellt sind] oder dem Gouverneur annehmen. Sie hören auf die [oft Mudschahedin-]Kommandeure oder jene [Machthaber höherer Ebene, oft in Kabul], die diese Netzwerke kontrollieren.
Das [Ulumis Pläne] ist nur eine neue Runde in einem alten Spiel. Man fügt dem Milizenkomplex nur eine neue Schicht hinzu.
Meine bisherigen Artikel zum Thema Kunduz auf einen Blick finden sich unter diesem Link.
Hier zusätzlich ein AAN-Report über frühere „Ersatzpolizei“-Strukturen, schon von 2010 (auf Englisch).
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