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In Kabul haben sich nach dem Anschlag um 1 Uhr früh in der Nacht zum Freitag in Schah Schahid zwei weitere Anschläge ereignet.

Schäden nach dem Bombenanschlag in der Nacht im Kabuler Stadtteil Schah Schahid. Foto: ToloNews.

Schäden nach dem Bombenanschlag in der Nacht im Kabuler Stadtteil Schah Schahid. Foto: ToloNews.

 

Am späten Nachmittag sprengte sich offenbar ein Selbstmordattentäter am Eingang der Polizei-Akademie in die Luft. Sie ist im Nordwesten Kabuls, westlich des Hotel Continental, an der Straße nach Kargha gelegen. Gegenüber sind neue Wohnhochhäuser entstanden. Ich hoffe nur, dass er dort nicht zu viele Opfer gibt. Der Attentäter, offenbar in Polizei-Uniform, sprengte sich zwischen nach dem Wochenend-Freitag zurückkehrenden Rekruten in die Luft. Dabei gab es wohl etwa 25 Tote und eine ähnliche Zahl an Verletzten.

Am Abend, nach 23 Uhr, waren mehrere Explosionen aus dem Norden Kabuls zu hören – die erste davon sehr stark; der Stadtteil heißt Qasaba und liegt gleich hinter dem Flughafen. Dort ist offenbar ein sogenannte komplexer Angriff auf das Drogenbekämpfungsdirektorat (mit angeschlossenem Gefängnis) und eine naheliegendes Polizeirevier im Gange. (Hier eine Karte.)

Solche Angriffe laufen meist wie folgt ab: Ein oder mehrere Angreifer sprengen sich in die Luft und damit den Weg frei, andere stoßen nach. Bei dem zweiten abendlichen Angriff wurden hinterher Schusswechsel gemeldet. Einzelheiten gibt es noch nicht. Aber Flugzeuge und Hubschrauber sind in der Luft, Sirenen von Polizeifahrzeugen und/oder Krankenwagen zu hören.

Die Taleban haben sich zu dem Angriff auf die Polizeiakademie bekannt. Sie werden wahrscheinlich argumentieren, dass es sich in beiden Fällen um militärische Ziele gehandelt habe. Mögliche zivile Opfer (von denen wir noch nicht wissen, die aber wahrscheinlich sind) nehmen sie dabei in Kauf.

Es handelt sich offenbar um die schwersten Opfer seit den Aschura-Attacken 2011 in Kabul und Mazar-e Scharif (AAN-Analyse hier).

Die Empörung in Kabul ist natürlich groß. Aber man darf auch nicht vergessen, dass zum Teil ähnlich schwere Anschläge in diesem Jahr in Provinzen weit weniger Aufmerksamkeit erhalten haben (die Liste ist wahrscheinlich nicht vollständig):

  • 22. Juli: sprengte sich ein Selbstmordattentäter auf einem Basar im Distriktzentrum von Almar (Provinz Faryab) in die Luft – 15 Tote
  • 7. Juli, Kabul: Anschlag auf einen NATO-Konvoy, ebenfalls im Wohnviertel Schah Schahid, mindestens drei tote Zivilisten
  • 30. Juni, LKW-Bombe in Laschkargah, Hauptstadt der Provinz Helmand, 2 Tote und 51 verletzte Zivilisten
  • 1. Juni, Angriff auf das Polizei-HQ der Provinz Nangrahar in Dschalalabad, mindestens 7 verletzte Zivilisten
  • 27. Mai, Kabul: vier Angreifer attackieren das der Rabbani-Familie gehörende Hital-Hotel am Bimaru-Hügel; sechsstündige Feuergefecht; Opferzahl nicht klar
  • 26. Mai: Angriff auf das Gerichtgebäude von Maidanschahr, Wardak, zwei Polizisten getötet
  • 25. Mai: LKW-Bombe in der Nähe des Provinratsgebäudes in Qalat, Hauptstadt der Provinz Zabul, tötet 4 Zivilisten und verwundet 73
  • 20. Mai, Kabul: Autobombe nahe dem Justizministerium tötet 4 Zivilisten und verletzt 53
  • 17. Mai, Kabul: 3 Tote und 18 verletzte Zivilisten bei Autobomben-Selbstmordanschlag nahe dem Kabuler Flughafen
  • 4. Mai, Kabul: Selbstmordanschlag auf Bus, der Angestellte der Generalstaatsanwaltschaft zur Arbeit befördert, 2 Tote und 30 Verletzte
  • 9. April, Mazar-e Scharif, komplexe Attacke auf ein Gerichtsgebäude, fünf tote Polizisten, fünf Tote Zivilisten, über 60 Verletzte
  • 9. März, Laschkargah, 7 Tote und 23 Verwundete, als ein Polizeiposten eine Autobombe stoppt
  • 19. Februar, Spin Boldak (Grenzübergang nach Pakistan in der Provinz Kandahar), Selbstmordanschlag, drei tote Zivilisten, ein toter Polizist, 8 Verletzte
  • 17. Februar, 10 tote Polizisten bei Angriff auf Polizei-HQ in der Provinzhauptstadt von Logar
  • 10. Februar, ein Verletzter bei Angriff auf des Polizei-HQ in Kunduz

Bemerkungen vor allem von Exil-Afghanen auf sozialen Medien, ob „Kabul nun Bagdad“ werde, liegen allerdings daneben. Obwohl es so schon schlimm genug ist, vor allem wenn man selbst mittendrin sitzt, sind die Dimensionen nicht vergleichbar – und es fehlt die mörderische sektiererische (Sunni-Shia) Komponente.

Besorgnis erregend sind auch erste offizielle Reaktionen. Ein Geheimdienstsprecher erklärte, die Anschläge würden „nicht ohne Antwort“ bleiben. Schon nach früheren Anschlägen wurde aus den Sicherheitskräften das Wort „Rache“ laut, und der jüngste Unama-Bericht enthält Beispiele, wo afghanische Soldaten das Feuer unterschiedslos auf zivile Wohngebiete eröffnet haben. Jüngst wurde gemeldet, wie Milizen, die Vizepräsident Dostum nahestehen, in Faryab Häuser von Zivilisten in Brand gesteckt haben, die sie verdächtigten, die Taleban zu unterstützen. So verständlich Emotionen sind, staatliche Institutionen haben die Pflicht, sachlich zu bleiben, die eigene Bevölkerung zu schützen und selbst Talebananhänger, wenn sie Nichtkombattanten sind.

Mir läuft es auch kalt den Rücken herunter, wenn sich frühere Warlords und andere jetzt als Ankläger gegen die Taleban aufspielen, obwohl sie selbst mit ihren Terrormethoden in den 1990er Jahren erst für deren Entstehen gesorgt haben und bis heute jegliche Verantwortung dafür und für Kriegsverbrechen und andere Menschenrechtsverletzungen leugnen.

Die Frage stellt sich natürlich: Sind die heutigen Anschläge Ausdruck der „Politik“ der gesamten Taleban-Bewegung unter Führung von Mulla Mansur, oder wollen Hardliner Friedensgespräche beenden, bevor sie richtig begonnen haben? Oder wollen sie die neue Führung von Mansur diskreditieren? Stecken pakistanische Elemente dahinter, oder unterstützen sie logistisch?

Mich würde besonders interessieren, was westliche Geheimdienste zu dem verwendeten Sprengstoff sagen. Offenbar gibt es ja auch bei Sprengstoff eine Art Fingerabdruck. Der afghanische Ex-Geheimdienstchef Amrullah Saleh behauptet, es handele sich um Sprengstoff aus pakistanischen, wahrscheinlich dem dortigen Militär gehörenden Fabriken. Saleh ist natürlich nicht besonders unparteiisch. Stammen seine Informationen noch aus seiner Amtszeit? Sind diese Angaben korrekt? Behalten westliche Regierungen Informationen für sich, weil sie die Beziehungen mit der Atommacht Pakistan nicht gefährden wollen? Oder sind Salehs Angaben nicht richtig?

Es wird Zeit, dass hier Stellung bezogen wird. Auch Pakistan wird sich einige Fragen gefallen lassen müssen.