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Innerhalb einer Woche hat Afghanistan seine Politik gegenüber drohenden Abschiebungen aus Deutschland diametral geändert. Dazu hat offenbar ein kürzliches Gespräch zwischen Präsident Aschraf Ghani und Bundeskanzlerin Angela Merkel geführt; Ghani soll auch mit Außenminister Steinmeier telefoniert haben, als dieser zu Syrien-Gesprächen in Wien weilte.

Afghanische Flüchtlinge, Aufenthaltsländer. Quelle: UNHCR.

Afghanische Flüchtlinge, Aufenthaltsländer. Quelle: UNHCR.

 

Heute meldete die Nachrichtenagentur AP, das Land sehe sich als 
Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention dazu verpflichtet,
seine Bürger aufzunehmen, deren Asylanträge abgelehnt wurden, so der Vize-Präsidentensprecher Safar Haschemi.
Noch vor einer Woche hatte der zuständige afghanische Ressortminister Sayed Hussain Alemi Balkhi in einem Interview mit der Deutschen Welle das Gegenteil angekündigt. Darin sagte er unter anderem, dass seine Regierung von Abschiebungsplänen nichts wisse.

Heute sagte einer seiner Berater, der Beschluss des Präsidenten werde umgesetzt. Dafür werde der Reintegrationsplan für freiwillige Rückkehrer auf Abgeschobene ausgedehnt. Wie Minister Alemi Balkhi, ein schiitischer Geistlicher und früherer Parlamentsabgeordneter für Kabul, das finanzieren will, oder ob es neue Zusagen gegeben hat, ist unklar – noch im Interview hatte er erklärt, kein Geld zur Verfügung zu haben.

Im DW-Interview hatte Minister Alemi Balkhi im einzelnen gesagt:

Wir haben mit den Deutschen eine Vereinbarung über Abschiebungen. Danach müssen sie uns eine Liste von Asylbewerbern, die sie abschieben wollen, zukommen lassen. Bis jetzt haben wir so eine Liste nicht bekommen.

Ich habe kürzlich eine deutsche Regierungsdelegation in Genf getroffen. Bei dem Treffen habe ich betont, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechtert. Ich habe sie deshalb ausdrücklich darum gebeten, keine afghanischen Asylbewerber abzuschieben. Gleichzeitig habe ich die deutschen Behörden dringend darum gebeten, mehr afghanische Flüchtlinge aufzunehmen.

In der vergangenen Woche habe ich den deutschen Botschafter in Afghanistan in meinem Büro empfangen und die deutsche Regierung offiziell darum gebeten, Abschiebungen von afghanischen Asylbewerbern zu vermeiden. Während des Treffens habe ich betont, dass Deutschland mehr Asylanträge von Afghanen wegen der Umstände vor Ort genehmigen sollte. Wir alle haben Sicherheits-Probleme in den Provenzen Kundus, Baghlan, Nangarhar, Sare Pul und Faryab erlebt. Und weitere afghanische Provinzen sind ebenso mit Sicherheitsproblemen konfrontiert.

Wir werden uns dem geltenden Abkommen entsprechend verhalten, das wir mit der Bundesregierung haben. Demnach können schutzlose afghanische Asylsuchende nicht aus Deutschland abgeschoben werden. Das betrifft zum Beispiel Familien, die in Folge der Abschiebung zerbrechen würden, Kinder oder alleinerziehende Mütter und Menschen, die aus unsicheren Regionen stammen.

Asylsuchende, die nicht unter eine dieser Kategorien fallen, können nur dann abgeschoben werden, nachdem wir uns gemeinsam auf ein Vorgehen geeinigt haben und wenn die deutschen Behörden uns im Vorfeld eine Liste mit den Namen der Betroffenen haben zukommen lassen.

Die sich verschlechternde Sicherheitslage ist der Hauptgrund für die Flucht aus Afghanistan. Bei meinem letzten Treffen mit EU-Vertretern habe ich auf die Gefahren hingewiesen, denen die Menschen in unserem Land ausgesetzt sind. Ich habe die EU und auch Deutschland aufgerufen, in Anbetracht der Lage mehr Asylgesuchen von Afghanen stattzugeben. Die afghanische Regierung hofft, dass die EU-Mitgliedsstaaten ein Verständnis für die Situation im Land entwickeln und ihnen Hilfe anbieten.

Wir werden uns nur um die Fälle kümmern, die unter das Abkommen fallen, das wir mit Deutschland haben. Sollten Menschen abgeschoben werden, die entgegen der Richtlinien abgeschoben werden sollen, werden wir an Deutschland appellieren, die Vereinbarungen einzuhalten.

… wir haben keinerlei Mittel, uns um abgeschobene Flüchtlinge aus Deutschland oder einem anderen europäischen Land zu kümmern. …

Afghanistan ist mit denselben Problemen konfrontiert wie Syrien – und teilweise sind diese Probleme sogar noch drängender als dort. Wir haben die Situation gegenüber sämtlichen EU-Ländern thematisiert – verbunden mit der Bitte, Asylgesuche von afghanischen Flüchtlingen mit derselben Priorität zu behandeln wie die aus anderen Krisenländern, beispielsweise aus Syrien.

(Der Volltext des Interviews findet sich hier.)

In Deutschland hatten sich in der vergangenen Woche zunächst unter anderem EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD), Bayerns Innenminister Joachim Herrmann und Julia Klöckner, CDU-Chefin und Spitzenkandidatin für die Landtagswahl 2016 in Rheinland-Pfalz, für Abschiebungen von Afghanen ausgesprochen. Die letztere hatte den Massenexodus aus Afghanistan vor allem an der Ausgabe elektronischer Pässe festgemacht (meine Argumentation dazu hier) und sogar von einer „konzertierten Aktion“ gesprochen – also der afghanischen Regierung die Absicht unterstellt, die Ausreisen zu fördern. Das ist ganz und gar nicht der Fall, denn Kabul sieht das als einen gefährlichen Brain Drain.

Dann hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière am 28. Oktober auf einer Pressekonferenz seines Ministeriums erklärt (meine Transkription aus dem Mitschnitt der PK):

Afghanistan steht im laufenden Monat und auch im Verlauf des ganzen Jahres inzwischen auf Platz zwei der Liste der Herkunftsländer. Das ist inakzeptabel. Wir sind uns einig mit der afghanischen Regierung: Das wollen wir nicht.

Es kommen auch zunehmend Angehörige der afghanischen Mittelschicht, viele auch aus Kabul. Wir sind uns mit der afghanischen Regierung einig, dass die Jugend Afghanistans und die Mittelschichtfamilien in ihrem Land verbleiben sollen und dort das Land aufbauen.

Deutsche Soldaten und Polizisten tragen dazu bei, Afghanistan sicher zu machen Es sind viele, viele Summen an Entwicklungshilfe nach Afghanistan geflossen, da kann man erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben. Deswegen sage ich heute auch ganz klar: Die Menschen, die als Flüchtlinge aus Afghanistan zu uns kommen, können nicht alle erwarten, dass sie in Deutschland bleiben können, auch nicht als Geduldete.

[Journalistenfrage] Das bedeutet aber nicht, dass Afghanistan zum sicheren Herkunftsland erklärt wird, sondern in jedem Fall erstmal ein aufwändiges Asylverfahren geführt werden muss?

TdM: Die Sicherheit in Afghanistan ist natürlich nicht so hoch wie anderswo. Ich möchte jetzt nicht den Vorschlag machen, Afghanistan zu einem sicheren Herkunftsland zu machen. Es wird in jedem Einzelfall bei sorgfältigen und rechtsstaatlichen Prüfungen bleiben, aber wir haben auch ein sehr hohes Maß an Duldungen, insbesondere weil Menschen aus bestimmten Gegenden [letzteres mit erhobener Stimme] in Afghanistan kommen, die unsicherer sind als andere. Aber es kann auf Dauer kein Entscheidungsgrund sein, wenn es sichere Gegenden in einem Land gibt [stockt], dass es nur deswegen zu Duldungen kommt, weil man aus einem anderen Landesteil kommt. Deswegen werden wir gemeinsam mit der afghanischen Regierung dafür sorgen, dass es zu Rückführung nach Afghanistan kommt und dass die Entscheidungspraxis anders wird. Das Treffen der Regierungschef, der kleine Gipfel am Sonntag [in Brüssel von einigen EU-Ländern auf Einladung von Kommissionschef Juncker] hat ja auch dazu geführt, dass die Kommission jetzt unverzüglich ein Rücknahmeabkommen mit der afghanischen Regierung verhandeln wird, das auch diesem Ziel dient.

[Frage zu Themen im Kabinett]

TdM: … Wir haben heute über … Afghanistan gesprochen und die Entwicklung, dass die Zahl der Flüchtlinge in die Höhe gestiegen ist und dass das insbesondere auch von denen organisiert wird, die bisher kriminelle Geschäfte gemacht haben auf dem Weg von Afghanistan nach Deutschland, unter anderem mit Drogen, durch den Iran und anderswo. Diese Entwicklung müssen wir stoppen.

(Das ganze Statement, nur im Video, hier)

Jürgen Webermann, Leiter des ARD-Hörfunkstudios für Südasien (in dessen Berichtsgebiet Afghanistan fällt) nannte Bundesinnenminister Thomas de Maizières Bemerkung über die „Entwicklungsgelder“ in einem Kommentar „besonders zynisch“. Das gilt besonders aus zwei Gründen: dem – um es gelinde ausdrücken – Ungleichgewicht zwischen Militär- und tatsächlichen Entwicklungsausgaben in Afghanistan und der u.a. von Oxfam früh erkannten Bevorzugung umkämpfter Gebiete über friedliche Gebiete, also dem Einsatz von Geldern der Entwicklungszusammenarbeit (so müsste es korrekt heißen) zur Aufstandsbekämpfung, und nicht prioritär zur Bekämpfung von Armut. (Demnächst dazu noch einmal mehr.)

Pro Asyl hatte mitgeteilt, dass „rund 7000 geduldete Afghanistan-Flüchtlinge“ von diesen geplanten Abschiebungen betroffen sein könnten. „Das Schicksal der oft bereits seit Jahren in Deutschland lebenden Flüchtlinge soll nun offenbar zur Abschreckung jener missbraucht werden, die sich aktuell in Afghanistan zur Flucht entschließen.“ Nach bisheriger Rechtslage, einem Beschluss der Innenministerkonferenz von 2006 konnten Afghanen nur nach einer “umfassenden Einzelfallprüfung” abgeschoben warden. Das sei seit 2012 nie in mehr als zehn Fällen geschehen und v.a. in Fällen von Straftätern.

Der oben zitierten AP-Meldung zufolge teilte Alemi Balkhis Büro am Montag ferner mit, seit
Jahresanfang hätten 120 000 Afghanen das Land verlassen. Auch das widerspricht deutschen Zahlen, die von 100,000 Ausreisenden pro Monat sprechen (siehe mein früherer Bericht hier). Die International Organization of Migration (IOM), die zum UN-System gehört, sagt, dass über 76000 Afghanen in diesem Jahr Europe erreicht hätten und dass sie nicht sagen könne, wie viele Afghanen das Land verlassen hätten.

Die Anerkennungsquote für die 15999 Afghanen, die von Januar bis September 2015 in Deutschland laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (siehe Bericht, S. 7) erstmals Asyl beantragt haben (dazu kamen 361 Folgeanträge), sieht wie folgt aus (ebenfalls nach BAMF, hier): entschieden wurden 4411 Anträge; davon nur 36 Anerkennungen als Asylberechtigte (also politisch verfolgt), 1169 als “Flüchtlinge” (entspr. Genfer Flüchtlingskonvention); 221 mit “subsidiärem Schutz” (gemäß § 4 Abs. 1 AsylVfG) und 527 mit Abschiebeverbot (gemäß § 60 Abs. 5 o. 7 AufenthG) [die Unterschiede werden hier erklärt] – das ist eine Anerkennungsquote von 44,3%. Man fragt sich allerdings, warum nicht alle afghanischen Flüchtlinge als Bürgerkriegsflüchtlinge anerkannt werden – aber das hängt natürlich mit der Behauptung der Bundesregierung zusammen (siehe de Maizière oben), dass es dort friedliche „Gegenden“ gebe.

Das hat neulich Florian Weigand von der Deutschen Welle kommentiert:

Doch wo sind diese [sichere Herkunftsregionen]? Die Taliban-Hochburgen im Süden und Osten des Landes fallen bereits weg, und auch im Rest des Landes bleiben nur einige mehr oder wenig große Enklaven übrig. Die Hauptstadt Kabul wird oft genannt, aber wir erinnern uns: Auch hier gelang es den Radikalislamisten, sogar das Parlament zu attackieren sowie mehrmals das hochgesicherte Nobelhotel „Serena“ – und das nur neben der Vielzahl anderer Anschläge. Welcher unserer Entscheidungsträger würde Berlin als sicher definieren, wenn der Reichstag und das Hotel „Adlon“ von Terroristen angegriffen würden?

Auch Kundus-Stadt galt lange Zeit als relativ sicher, vor Kurzem belehrten uns die Taliban mit ihrer Blitz-Einnahme des ehemaligen Bundeswehrstandorts eines Besseren. Bleibt Masar-i Scharif im Norden, wo noch ein Kontingent mit deutschen Soldaten stationiert ist. Aber auch vor den Toren dieser Stadt bewegen sich die Taliban bereits ungehindert. Kürzlich nahm eine Afghanin mit ihrem Handy heimlich ein Video auf, das einen Talib beim Untersuchen des Busses zeigt, in dem die junge Frau von Kabul nach – eben – Masar-i Scharif reist.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erklärte, Abschiebungen seien „nicht die Antwort“ auf Afghanistans Migrationssituation. „Menschen zur Rückkehr zu zwingen, die legitime Schutzbedürfnisse haben, während viele Gebiete der Landes zurück in eine Konfliktsituation rutschen und die Regierung noch nicht in der Lage ist, die Bedürfnisse der Rückkehrer aus Pakistan und Iran adäquat zu erfüllen, ist nicht die Antwort.“