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Begegnungen am Hindukush, Islamabad, Kabul, Nimruz, Puzak Hamun, Taleban, Tethys, Tschachansur
Als ich im Frühjahr 1958 meinen Dienst an der Deutschen Botschaft in Kabul antrat, wohnte ich zunächst im Hotel, dem einzigen, das für Ausländer in Frage kam. Wenn ich morgens ins Büro fuhr, stieg ich in eine der offenen Droschken, die vor dem Hotel warteten. Der Kutscher schwang die Peitsche, und das magere Pferdchen trabte durch die vor kurzem asphaltierten Alleen in die Neustadt, in der die Oberschicht wohnte.
Dort bezogen wir eines der wenigen Häuser mit Blechdach. (…) Aus den abgelegenen Tälern des Nordens wurde Kohlestaub angeliefert. Dann saßen Tagelöhner im Hof und formten daraus mit Lehm und Wasser Briketts für den Winter.
Das schrieb Reinhard Schlagintweit, von dem der am weitesten zurückliegende Artikel in dem Band „Begegnungen am Hindukush“ (Edition Tethys) stammt, den ich bereits einmal kurz auf meiner Webseite annotiert hatte (dort findet sich auch das vollständige Inhaltsverzeichnis). Der Band versammelt Reisereportage aus verschiedenen Zeiten – über fast 60 Jahre – und Gegenden Afghanistan. Herausgegeben wurde er von den Zentralasienwissenschaftlern Thomas Loy und Dr Olaf Günther.
Als Autor von zwei Beiträgen zu dem Band rezensiere ich ihn nicht, sondern lasse (mit Genehmigung der Herausgeber) ein paar Textauszüge für sich sprechen. Ich will nur hinzufügen, dass es sehr hilfreich ist, dass allen Beiträgen Tipps zum thematischen Weiterlesen folgen.
Einen meiner beiden Beiträge in dem Band kann man hier lesen.
In keinem muslimischen Land wurden die Vorschriften der Religion so streng beachtet wie in Afghanistan. Selbst die Frauen des Königs und des Ministerpräsidenten, seines Vetters, trugen die Burka, den Ganzkörperschleier, wenn sie in ihrem Bentley den Palast verließen[,]
schreibt Schlagintweit weiter – so viel zu der weit verbreiteten, aber irrigen Annahme, die strenge Verschleierung sei eine Erfindung der Taleban. Und dann reist er in den äußersten Südwesten des Landes:
Zu meinen ungewöhnlichsten Unternehmungen gehört eine Reise in die Provinz Tschachansur, die im afghanischen Teil der Region Sistan in der äußersten Südwestecke des Landes liegt, dort, wo seine Grenzen die der Nachbarn Iran und Pakistan berühren. Politisch bildete Tschachansur damals eine Provinz mit Farah; heute heißt die Provinz Nimroz. (…) Heute lassen ausgedehnte Ruinenfelder ahnen, wie dicht besiedelt und wohlhabend Sistan früher war. Der Anblick bizarrer Mauerreste auf riesigen Flächen harten flachen Wüstenbodens, auf denen kein Baum, kein Strauch gedeiht, hat etwas Magisches. (…)
Wir verlassen in Farah die Hauptstraße und fahren nach Süden. Zuerst geht es entlang einem trockenen Flussbett. Gelegentlich überqueren wir einen Kanal und sehen Dörfer mit runden Dächern, auf deren Spitze ein kleiner Kamin aufragt. Dann sind wir auf ebener Wüste. Plötzlich senkt sich die Piste auf ein tieferes Niveau, das ebenfalls tellerflach ist, abgesehen von ein paar Kanyons und Salzpfannen. (…)
… eine Stunde weiter erreicht die Piste die Steilküste über einem großen See, dem Puzak Hamun. (…)
Vor Sonnenaufgang gehe ich zu Fuß an den Rand des Hochufers, das steil zum See abfällt, und lasse das Bild des riesigen, anfangs noch dunklen Wasserspiegels auf mich wirken. In den fernen Schilffeldern wachen die Vögel und Enten auf. Unter mir liegt ein Dorf aus Schilfhütten. Ich traue mich nicht, allein in diese fremde Welt hinunterzugehen, sondern schaue von der Kante der Steilküste aus zu, wie die Frauen Kühe aus dem Dorf treiben und Männer zu den Booten am Ufer gehen. Es weht ein kühler Wind. Am Horizont sieht man, weit entfernt, die andere Küste, weiß über lichtblauem Wasser, unter einem sich rosa färbenden Himmel.
Sehen sie demnächst einen Blog mit Fotos aus der gleichen Gegend, die ich Anfang 2006 bereiste.
Hier und hier geht es zu zwei Fotoblogs von mir, die ich kürzlich zusammengestellt hatte.
Der nächste Autor in dem Band ist mein Lehrer Manfred Lorenz, von der Berliner Humboldt-Universität, der 1976, zu DDR-Zeiten, aber noch vor der Machtübernahme der linken DVPA durch einen Militärputsch im April 1978 und dem sowjetischen Einmarsch zu Weihnachten 1979, dort war. Damals herrschte noch Präsident Muhammad Daud, der 1978 gestürzt und fast mit seinem ganzen Familie ermordet wurde.
Lorenz schreibt in seinem Beitrag „Der Sprachen wegen nach Kabul“:
Ich hatte in Berlin ganz gut Persisch gelernt. Vielleicht war das der Anlass, warum ich zur Jahreswende 1963/64 zum Internationalen Orientalistenkongress nach New Delhi fahren durfte. Aus unerfindlichen Gründen wurden dort die Wissenschaftler aus Afghanistan auf mich aufmerksam. (…) Das alles bewirkte, dass ich als Mitarbeiter des Vorderasiatischen Instituts der Humboldt-Universität beschloss, mich ausführlicher mit Paschto zu beschäftigen und für diese Sprache ein Lehrbuch zu schreiben. (…)
Zwar hatte die DDR, deren Bürger ich war, im Januar 1973 diplomatische Beziehungen zu Afghanistan aufgenommen, aber von wissenschaftlichen Kontakten war noch nicht die Rede. Ich stellte wiederholt Anträge an unser Hochschulministerium auf Reisen nach Kabul, 1973, 1974, 1975 – immer abgelehnt. Doch dann, im Frühjahr 1976, wurde mir doch eine Dienstreise zum Zwecke der Bearbeitung meines Lehrbuchmanuskripts genehmigt. Darin enthalten war ein Flugticket Berlin – Moskau – Kabul und zurück sowie 500 US-Dollar mit der Maßgabe: Aufenthalt, solange die Finanzen reichen.
Also reiste ich im Oktober 1976 zum ersten Male in Kabul ein und bezog ein Zimmer im Hotel „Kabul”.
Sein Hotel war wohl dasselbe, das Schlagintweit 18 Jahre vorher zunächst bezogen hatte.
Die Straße nach vorn hinaus hieß, wenn ich mich recht erinnere, Ibn Sina Wat, rechts auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag die Nationalbank, im Hintergrund waren Teile des Präsidentenpalasts zu sehen, wo seit der Absetzung Zahir-Schahs im Juli 1973 Präsident Mohammad Daud Khan, ein Cousin des von ihm entmachteten Königs, regierte. Nach links erstreckte sich der Zarnegar-Park, dahinter war die Kuppel des Grabmals von Emir Abdurrahman zu sehen. Wenn man zur anderen Seite hinausblickte, fiel einem hinter einem belebten Basar das hohe Minarett der Pul-i Cheschti-Moschee ins Auge. (…)
Im Studienjahr 1980 begann ich mit der Ausbildung einer Gruppe von sieben Afghanisten, die 1983/84 ein halbes Jahr in Kabul studierten.
Dazu gehörte auch ich.
Im übrigen: 1985 gab Lorenz ein Bändchen mit Märchen und Geschichten aus Afghanistan herausgab: Manfred Lorenz (Hg): Der Zauberbrunnen. Märchen und Geschichten aus Afghanistan. Kiepenheuer, Weimar/Leipzig 1985. Das dürfte sich antiquarisch noch finden lassen.
Kurz vorher, 1975, war Kurt Wutt nach Kabul gekommen, der die Paschai, eine ethnische Minderheit im Osten Afghanistan, erforschte. In Kabul durchstöberte er die Antiquitätenläden an der Chicken Street:
In den Serais moderte auch Strandgut aus Paschai-Dörfern, darunter Kapitelle, Widderköpfe, die sich paarweise mit merkwürdigen Händchen die Schnauze hielten und nichts über diejenigen preisgaben, die sie einmal besessen hatten. (…) Die Welt dieser Symbole war noch erlebbar, und die Symbole mussten Bedeutungen jenseits des Blüten- und Rankenwerks besitzen, das sie irgendwie bloß überzog. (…) Wohin die Reise gehen müsste, hatten mir die Händler nach einigem Hin und Her verraten: in einige Seitentäler des Kunar-Flusses, für deren Besuch ich als Ausländer jedoch eine Sondergenehmigung der Regierung benötigte.
2006 kehrt Wutt in dieselbe Region zurück – und bemerkt, wie sehr sie sich verändert hat:
Sie richten mir ein Bettgestell auf einem Dach voller Maiskolben her. Da sitze ich nun, schaue zur Hochzeit hinüber und merke, dass sich der Habitus der Leute verändert hat. Die Frauen tragen nicht mehr die alte Tracht: Leggins, darüber ein hemdartiges Kleid. Sie sind aber unverschleiert und haben ihre Frisuren, Blüten und Blätter im Haar, behalten. Die Burka war in Afghanistan mehr eine städtische Angelegenheit. (…) Jetzt sind die Frauen vorwiegend in ein tiefes geblümtes Rot gekleidet. Sie dürfen nicht tanzen und singen, stehen auf ihrem Dach und sehen den Männern beim Tanzen und Singen zu (…) Die Männer sind vor lauter Bärten nicht wiederzuerkennen.
Andreas Dürr, der in Tübingen Ethnologie, Islamkunde und Politik studierte, u.a. in Pakistan, Tadschikistan und Afghanistan forschte und seit 2013 an der HUB promoviert, beschreibt sein Zusammentreffen mit einer Gruppe Taleban – in diesem Fall sind mit diesem Begriff Scharia-Studenten gemeint, nicht Mitglieder oder Kämpfer der Bewegung – und wie er mit ihnen den Alltag teilte, zunächst in Islamabad und dann in Afghanistan.
Den Zugang zu diesem Feld habe ich letztlich dem Zufall zu verdanken; im Herbst 2012 lernte ich in Islamabad, Pakistan, spontan eine Gruppe afghanischer Studenten kennen, die „Scharia und Recht“ an der International Islamic University studierten. Bis heute ziehen sie mich damit auf, wie angespannt ich bei jener ersten Begegnung auf sie gewirkt habe. (…)
Akbar ließ sich neben mir auf der Matratze nieder und hieß mich willkommen. Den Kleinen stellte er als qari Abdullah vor. Qari ist der Ehrentitel für jemanden, der den Koran in angemessener Form und Melodie (tajwid) rezitieren kann. Ein Dritter mit Schnauzbart kam hinzu und brachte den obligatorischen grünen Tee und ghur, einen harten Brocken aus Zuckerrohrextrakt. In brüchigem Englisch stellte Akbar einige Fragen über mich und meine Familie, während sich die anderen aus Mangel an Sprachfertigkeit zurückhielten. (…)
Die Atmosphäre entspannte sich. Schon beim Essen wurden die ersten Witze gerissen. Immer wieder scherzten die vier darüber, wie gefährlich sie doch seien. Akbar deutete auf Abdullah: „Der hier ist nur ein kleiner Terrorist. Der ist schwul.“ Alle fingen an, schallend zu lachen; Akbar klatsche Jalaluddin mit Wucht in die Hand. Das waren also Islamisten.(…) Als ich meinen neuen Freunden einmal davon erzählte, bei einem anstehenden Heimaturlaub meinen neugeborenen Neffen zu besuchen, gaben sie mir für ihn afghanische Kleidung und einen Plüschhasen mit auf den Weg. (…)
Abdullah achtete in dieser Zeit auch pedantisch darauf, dass ich präsentabel wirkte. Immer wieder war ich erstaunt darüber, wie man sich in einem so staubigen Land so sauber halten kann. Meine Begleiter legten großen Wert auf saubere und gebügelte Kleidung, was angesichts unseres vagabundierenden Lebensstils nicht gerade leicht fiel. Abdullah sorgte auch dafür, dass ich schnell den paschtunischen Knigge beherrschte. Zunächst empfand ich dies als unnötige Schikane; im Nachhinein bin ich ihm für diesen Drill jedoch dankbar: Anders als in Deutschland begegnen sich selbst Freunde mit viel Etikette. Das feste Protokoll ermöglicht es einem jedoch, sich in ungewohnter Umgebung zurechtzufinden, indem man die Rolle des Gastes korrekt ausfüllt.
Man begrüßt sich herzlich mit einer Umarmung und erkundigt sich kurz nach dem Wohlbefinden, nimmt Platz auf einer Matratze in der hujra und begrüßt sich erneut. Kommt man von der Toilette oder hat den Raum kurz verlassen, spricht man erneut ein salam alaikum in den Raum. Man sollte keinesfalls darauf verzichten, bequem zu sitzen, denn den Gastgeber scheint es mit Schmerz zu erfüllen, wenn der Gast nicht seiner Auffassung von Gemütlichkeit entsprechend sitzt. Durch eine mit einem Vorhang verhängte Tür, hinter der sich vermutlich die Frauen des Hauses befinden, tragen die Jüngsten im Haus Speisen auf und verteilen sie auf dem Speisetuch (dastarkhan). Man entschuldigt sich für die Mühe (taklifuna wubakhey). Nach dem Essen entschuldigt sich der Gastgeber dafür, dass er nur gekocht hatte, was im Haus war, worauf man beteuert, man sei um der Freundschaft, nicht des Essens willen gekommen. Danach serviert man den obligatorischen grünen Tee und wundert sich, dass auch Deutsche Tee trinken.
Solche Zusammenkünfte zwischen Afghanen und ausländischen Besuchern mögen einigen Lesern, die Afghanistan bereist haben, normal, wenn nicht banal vorkommen, und sie waren das auch über einige Jahrzehnte. Aber die Zeiten haben sich inzwischen geändert. Man wird in Afghanistan nicht mehr so häufig eingeladen; viele Leute haben die Nase voll von den Ausländern – und wenn nicht, ist es für sie gefährlich, sich mit solchen sehen zu lassen. Wahrscheinlich wird es einige Jahrzehnte dauern, bis die Erfahrungen der letzten 15 Jahre sacken und man sich wieder mit mehr Unbefangenheit einander nähern kann.
Fortsetzung folgt.
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