Schlagwörter
Afghanistan, Asylanträge, BAMF, Flüchtlinge, IOM, minderjährige Unbegleitete, Pro Asyl, Schutzquote, Verfahrensdauer
Afghanische Asylbewerber in Deutschland sind „besonders krass“ von Veränderungen bei der Bearbeitung ihrer Anträge betroffen, teilte der Flüchtlingsrat Niedersachsen am 9.8.16 mit. Nach seinen Berechnungen sank für sie die bereinigte Schutzquote (d.h. ohne Einbeziehung der nach der Dublin-Regelung in EU-Erstankunftländer zurückgewiesenen Antragsteller) von 77,6 % im Jahr 2015 auf 52,9 % im 1. Halbjahr 2016.
„Wir müssen davon ausgehen, dass Hintergrund der deutlich verringerten Schutzquote bei Personen aus Afghanistan auch politische Vorgaben aus Berlin sind“, so Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats. „Bundesinnenminister de Maizière versucht schon seit längerem, den Druck zu erhöhen. Die Sicherheitslage in Afghanistan und die Lebensrealität der Menschen von dort geben eine veränderte Bewertung der Verfolgungsgefahr jedenfalls nicht her.“ (…)
„Wir sorgen uns, dass die von BAMF-Leiter Weise forcierte beschleunigte Bearbeitung der Asylverfahren keine fairen Verfahren mehr für alle ermöglicht“, so Weber. „48-Stunden-Bearbeitungskonzepte passen nicht in die Realität von schutzbedürftigen Menschen aus Krisen- und Kriegsgebieten“.
Insgesamt verweigere das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) „trotz fortbestehender Verfolgung (…) einem zunehmenden Anteil der Asylsuchenden den Flüchtlingsstatus und gewährt in etlichen Fällen nicht einmal mehr subsidiären Schutz“. Bei fünf der Hauptherkunftsländer von Schutzsuchenden in Deutschland ist die Anzahl der positiven BAMF-Entscheidungen zuletzt deutlich gesunken. Neben Afghanistan gehören dazu Irak, Iran und Pakistan.
Auch Pro Asyl bestätigte diesen Trend.
![Afghanische Flüchtlinge unter einer Pariser Kanalbrücke (Sept. 2015) . Foto: Evan Bench [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons.](https://thruttig.files.wordpress.com/2016/08/afghan_refugees-under-bridge-fra-sep-2015-cc.jpg?w=300&h=225)
Afghanische Flüchtlinge unter einer Pariser Kanalbrücke (Sept. 2015). Foto: Evan Bench [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)%5D, via Wikimedia Commons.
Gleichzeitig meldete die ARD-Tagesschau, dass immer mehr Flüchtlinge an deutschen Grenzen abgewiesen werden:
Demnach wurde in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 13.324 Menschen die Einreise in die Bundesrepublik verweigert. Dies geschah entweder an der Grenze oder an Flughäfen. Damit gab es im ersten Halbjahr 2016 bereits 50 Prozent mehr Zurückweisungen als im Gesamtjahr 2015, in dem insgesamt 8913 Menschen die Einreise verweigert wurde. (…) Bei etwa jedem vierten Abgelehnten handelt es sich um einen afghanischen Staatsbürger. (…)
Zudem verweigerten die deutschen Behörden insgesamt 5984 Personen die Einreise, die bei der Kontrolle weder ein gültiges Visum noch einen gültigen Aufenthaltstitel vorweisen konnten. Auch hier stellten die Afghanen die größte Gruppe (…).
Unter den abgewiesenen Flüchtlingen waren laut Tagesspiegel auch 458 Minderjährige – auch hier stammten die meisten aus Afghanistan.
Zudem berichtete die FAZ unter Berufung aus die Internationale Organisation für Migration (IOM), dass im zweiten Quartal dieses Jahres 1358 Afghanen aus der Bundesrepublik in ihr Land zurückkehrten, nach 764 im ersten Quartal und lediglich 30 im Vergleichsquartal 2015. Weiter heißt es:
Noch deutlichere Zuwächse wurden aus Griechenland (von 30 auf 678) und der Türkei (von 26 auf 258) verzeichnet. IOM betreibt ein Aufnahmezentrum am Kabuler Flughafen, wo Rückkehrer aus Europa registriert werden. Auffällig sei zudem eine Verdreifachung der Zahl zurückkehrender Familien, heißt es im jüngsten Quartalsbericht der IOM. (…)
Als Gründe für die wachsende Zahl freiwilliger afghanischer Rückkehrer sieht Pro Asyl neben der langen Verfahrensdauer auch „behördliche Übertölpelung und Falschberatung“. Häufig werde Asylbewerbern auch von „ahnungslosen Ehrenamtlichen“ der Eindruck vermittelt, sie hätten keine Chance auf ein Bleiberecht.
Nach der Anfang Juli erschienenen BAMF-Asylgeschäftsstatistik stellten im ersten Halbjahr 2016 insgesamt 60.611 Afghanen einen Asylantrag in Deutschland (60.398 davon waren Erstanträge = 15,6% aller Erstanträge). Im gleichen Zeitraum wurde nur über 7.588 Anträge von Afghanen entschieden. Ganze 38 Afghanen wurden als vollständig asylberechtigt anerkannt, 1876 als Flüchtlinge. 725 weitere erhielten sogenannten subsidiären Schutz und 734 weitere Abschiebeschutz. Die Gesamtschutzquote wird vom BAMF mit 44,5 Prozent angegeben (Dublin-unbereinigt). Es gab 3004 Ablehnungen und 1211 „sonstige Verfahrenserledigungen“ (Dublin etc.). Ende Juni 2016 lag die Zahl der anhängigen Asylverfahren bei insgesamt 495.792 (30.6.15: 237.877), hat sich mehr als verdoppelt. Darunter sind 94.979 von Afghanen.
Die Zahl afghanischer Asylanträge stieg laut BAMF im Juni 2016 (15.055 Erstanträge) gegenüber dem Vormonat (9.091) um 65,6%. Im April waren es 8.458, im März 7.567, im Februar 7.268 und im Januar 4.917. Afghanistan lag damit immer unter den drei Herkunftsländern mit den meisten Anträgen.
Laut Regierungsangaben lag die Zahl von Asylanträgen unbegleiteter, minderjähriger Afghanen 2015 bei 4744, und stieg im ersten Halbjahr 2016 auf 7509 – jeweils die höchste Zahl aller Herkunftsländer. Insgesamt waren aber 12.718 Verfahren unbegleiteter, minderjähriger Afghanen noch anhängig, was auf Überhänge aus vorangegangenen Jahren spricht und damit auf eine sehr lange Bearbeitungsdauer solcher Anträge hinweist. Dafür spricht auch, dass im ersten Halbjahr 2016 nur 331 solcher Anträge bearbeitet wurden. Davon endeten 98 mit Zuerkennung des Flüchtlingsstatus’, 25 von subsidiärem Schutz und 112 von Abschiebeverbot (zusammen 71%). 38 Anträge wurden abgelehnt, 58 anderweitig abgeschlossen (Dublin etc.). Mit durchschnittlich 10,6 Monaten dauern diese Verfahren deutlich länger als die aller Staaten (7,4%).
Für alle Flüchtlinge beträgt die durchschnittliche Verfahrensdauer 5,2 Monate, bei Flüchtlingen aus Afghanistan jedoch 15 Monate (Zahl von März 2016). Dagegen gibt es inzwischen eine wachsende Zahl sogenannter Untätigkeitsklagen.
Was das in der Praxis bedeutet, geht aus einer Schweizer Studie hervor (zitiert hier):
Wissenschaftler konnten nun anhand von Zahlen aus der Schweiz von 1994 bis 2004 angeblich [das „angeblich“ scheint sich auf erstmals zu beziehen] erstmals quantitativ zeigen, dass die Länge der Wartezeit auf eine Entscheidung tatsächlich nach der Bewilligung die Wahrscheinlichkeit deutlich reduziert, einen Job zu finden.
PS/
Am vergangenen Sonntag ist nach Polizeiangaben ein afghanischer Flüchtling beim Baden im Rhein bei Mannheim ertrunken. Identität und Wohnort des Vermissten seien noch nicht bekannt.
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