Schlagwörter
Abschiebung, afghanische Flüchtlinge, Belgrad, Dublin-Fälle, Griechenland, Serbien, Ungarn
Es ist wieder einmal an der Zeit, auf die Situation der Flüchtlinge hinzuweisen, die nach der Schließung der Balkanroute (also der EU-Außengrenzen), des EU-Türkei-Deals sowie der Schließung vieler EU-Binnengrenzen zwischen all den Barrieren gestrandet sind. Dazu gehören jene in Griechenland sowie im Nicht-EU-Mitgliedsland Serbien – ob in Belgrad oder im „Niemandsland“ vor dem ungarischen Grenzzaun –, wo sie im Moment wegen des harten Winters mit noch härteren Bedingungen als ohnehin schon zu kämpfen haben. Unter ihnen sind viele afghanische Flüchtlinge, und unter diesen wiederum viele Minderjährige und sogar Kinder.
Nun plant die Bundesregierung, ab März auch wieder sogenannte „Dublin-Fälle“ nach Griechenland abzuschieben, wie die FAZ berichtete – also jene, die dort bei der Einreise schon registriert wurden, die aber trtzdem nach Deutschland weitergereist waren. Schon vor dem Winter waren die griechischen Einrichtungen überlastet und es kam zu Aufständen in einigen der gefängnisartigen Lager (siehe z.B. hier, hier (von einem griechischen Reporter), hier und hier).
[Update 20.1.117, 14:23 Uhr] Allerdings hat Deutschland bei den Dublin-Fällen – wie Spiegel online am 19.1.17 berichtete – auch ein Positivsaldo:
12.000 Flüchtlinge sind so aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland zurückgekehrt, deren Asylverfahren hierzulande entschieden werden muss, meldet das Innenministerium. Die Bundesrepublik schickte ihrerseits 4000 Asylsuchende wieder in andere Länder zurück.
Für die taz berichtete vor ein paar Tagen Ivan Ivanji aus Belgrad. Er fand dort eine Gruppe von drei afghanischen Kindern, einem neun-, einem zehn- und einem elfjährigen, die – nachdem sie auf dem Weg ihren auch nur sechszehnjährigen Onkel verloren hatten – sich nun allein durchschlagen.
Die Überschrift von Ivanjis Artikel („Nicht vor und nicht zurück„), die ich auch als meine heutige Schlagzeile gewählt habe, trifft den Nagel auf den Kopf, was die Situation dieser Flüchtlinge betrifft. Es wäre Zeit zumindest für eine neue humanitäre Geste, wie sie z.B. die britische Regierung nach der gewaltsamen Räumung des Dschungel“-Lagers in Calais unternahm, als sie immerhin 750 Flüchtlinge von dort aufnahm. (Die anderen wurden über ganz Frankreich verteilt.)
AAN hatte schon früher im Jahr mehrmals über die afghanischen Flüchtlinge in Belgrad berichtet – die Links finden sich unter dem taz-Artikel.

In einem ‚wilden‘ Lager vorwiegend afghanischer Flüchtlinge in einem stillgelegten Lagerhaus in Belgrad (November 2016). Foto: Martine van Bijlert/AAN.
Nicht vor und nicht zurück
Mitten in Belgrad leben über 1.500 Flüchtlinge in einem illegalen Lager. Sie frieren, hungern. Von den Behörden werden sie hilflos geduldet statt betreut.
Von Ivan Ivanji
BELGRAD taz | Es ist ein grauer eiskalter Wintermorgen in der serbischen Hauptstadt. In den Nächten zuvor ist die Temperatur auf minus zehn Grad gefallen. Das Gelände hinter dem Hauptbahnhof ist von Unrat bedeckt. Die einzige Mülltonne quillt seit Monaten über. Aus den leer stehenden Lagerhallen und Baracken, in denen früher der Zoll untergebracht war, kommen allmählich in graue Decken gehüllte Gestalten hervor.
Einige machen Feuer oder waschen sich an dem einzigen Wasserhahn, andere vertreten sich die Füße oder hocken einfach da und schauen auf den ersten Schnee des Jahres. Über 1.500 Flüchtlinge leben in dem illegalen Lager im Zentrum Belgrads, keine zehn Minuten Fußweg von der Haupteinkaufsstraße entfernt. Keine Heizung, kein Strom, keine Toiletten.
Drinnen schlafen die Flüchtlinge auf Decken, die direkt auf dem Betonboden liegen. Mit ein paar Fundstücken haben sie provisorische Schlafkammern abgeteilt, in denen sie zu mehreren dicht aneinandergepresst schlafen. Manche stehen den ganzen Tag nicht auf, schlummern vor sich hin – hungrig, erschöpft, resigniert.
Auch in den Hallen brennen mehrere Feuer, der Rauch sticht und beißt, sodass man kaum sehen und atmen kann. Die hier Kampierenden verfeuern alles, was sie in die Hände bekommen: Autoreifen, Bahnschwellen, gefärbtes oder lackiertes Holz von ehemaligen Büromöbeln. Husten ist zu hören. Hier und da sieht man Kinder, Jungen, die nicht älter als zehn oder elf Jahre alt sein können. Viele haben Läuse, sind krank oder haben Frostbeulen, eine ärztliche Betreuung gibt es nicht.
Es ist eine reine Männerwelt hier gleich hinter dem Bahnhof. Und das zurzeit größte illegale Flüchtlingslager in Europa. Über neunzig Prozent der Anwesenden sind Afghanen, die anderen Pakistaner. Sie haben keine Chance, legal in die Europäische Union zu kommen.
Hier findet man die AAN-Berichte aus Belgrad:
Afghan Exodus: Notes from a Belgrade squat (30. November 2016)
Afghan Exodus: The re-emergence of smugglers along the Balkan route (10. August 2016)
Afghan Exodus: In transit through Serbia (8. August 2016)
Afghan Exodus: The opening and closing of the Balkan corridor (5. August 2016)
Zudem veröffentlichte ebenfalls vor wenigen Tagen der Sender al-Jazeera auf seiner Webseite eine Reportage aus Athen, wo ebenfalls viele minderjährige Afghanen festsitzen. Einige von ihnen, wie in dem (englisch-sprachigen) Artikel geschildert, verkaufen sich dort im Sexgewerbe. Was außerdem sehr erschütternd ist – obwohl man solche Berichte öfter hört: Die afghanischen Flüchtlinge erzählen ihrer zurückgebliebenen Familien oft, dass es ihnen gut geht – aus Scham, auch es nicht – wie Mahmood in dem al-Jazeera-Bericht – es nicht in ihr eigentliches Ziel, hier Deutschland, geschafft zu haben. In der Reportage schildert er auch ausführlich seine Erlebnisse auf dem langen Weg nach Europa.
Vergleiche auch in unserer Untersuchung in Zusammenarbeit mit der FES über Fluchtmotive in Afghanistan (»Wir wussten, dass sie in Kabul keine Zukunft hatten«, hier).
Afghan asylum seekers resort to sex work in Athens
In the rundown Pedion Areos Park, older men walk slowly by young asylum seekers before agreeing on a price for sex.
By Will Horner
Al Jazeera News, 17 Jan 2017
Athens, Greece – Mahmoud looks out over the chaotic mess of rooftops and aerials and towards the neglected park he now calls home. He’s wearing a red hoodie, blue jeans and a black cap. Everything suggests he is a typical 20-year-old, apart perhaps from the jagged scar on his brow.
„I am ashamed about what I do for money, but I will tell you,“ he says.
The Afghan asylum seeker clasps his hands tightly in front of him as he speaks. „I didn’t know anyone when I arrived in Athens,“ he begins. „Life was very difficult and it still is. I don’t have a home so I sleep every night in a park nearby.
„I had only two options when I arrived – one was to become a thief or a drug dealer,“ Mahmoud explains. „But I am not that kind of person. “The other option was to stay in the park and have sex with older men, or anyone … that asked for it for five or 10 euros [around $5 and $10] ….“
His only shelter is a cheap tent that he shares with an Iranian asylum seeker. Perched on the concrete roof of a small maintenance building hidden among the trees of Pedion Areos Park, it offers little protection from the cold. A bag of oranges provides breakfast, lunch and dinner.
Mahmoud says the money he makes selling sex only covers the cost of his daily food. He cannot afford to save anything. (…)
„I’ve tried to claim asylum but I can’t. It’s very hard. Many times I’ve been to [the asylum office] but I never get a meeting. They always say I have to wait.“
Using a mobile phone borrowed from a friend, Mahmoud speaks to his family in Iran at least twice a week. He gives them updates on his journey but never tells them the truth about his life in Athens.
„I tell them Athens is a good city, with nice people, but really, it’s like someone has injected this city with filth,“ he says.
* The names of sex workers and clients have been changed to protect their identity
Hier bei al-Jazeera weiterlesen.
Die folgende Geschichte von der serbisch-ungarischen Grenze erschien schon Anfang 2016 in der Schweizer WoZ.
Kauf dir ein Zelt und geh in den Wald!»
Ausschaffungen nach Ungarn sind seit Jahren umstritten. Die Schweiz reisst dabei auch Familien auseinander, wie das Beispiel von Mohammad K. zeigt. Bei seiner Ausschaffung sah er, wie Flüchtlinge ruhiggespritzt wurden. Dann kam er in ein hoffnungslos überfülltes Lager, das von der Schweiz mitfinanziert wird.
Von Noëmi Landolt, Bicske
Nr. 25/2016 vom 23.06.2016
Da ist er wieder, der Satz, der Mohammad K. still werden lässt. «You are lucky.» Du hast Glück. Das hört Mohammad K. immer wieder in diesen Tagen. Doch das Glück ist eine relative Sache. Er selbst sieht sich nicht als glücklichen Menschen. Und wer seine Geschichte kennt, wird ihm recht geben. Mohammads Geschichte ist eine Liebesgeschichte, die zur Fluchtgeschichte wurde. Sie ist aber auch eine Geschichte darüber, wie in Europa Menschen und Geld hin und her geschoben werden.
«Svájci hozzájárulás» steht auf dem Schild vor dem Flüchtlingslager in Bicske. «Schweizer Beitrag». Darunter weitere Ausführungen auf Ungarisch. Oben links das Logo der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Und weiter unten die Zahl 6 787 799 CHF. Worum es genau geht, können wir nicht übersetzen. «Ungarisch ist unglaublich schwierig», sagt Mohammad K., der kopf schüttelnd neben mir steht. «Im Ungarischen gibt es 44 Buchstaben und 27 Fälle. Unmöglich, das zu lernen.» Und er will es auch nicht lernen. Denn der 21-Jährige will nicht in Ungarn bleiben. Er möchte zurück zu seiner Familie. Zurück in die Schweiz. Doch die hat ihn ausgeschafft. Und nun ist er hier im ungarischen Bicske, in einem Lager, das die Schweiz anscheinend mitfinanziert.
Über den Zaun ins Lager klettern
Bicske ist ein verschlafener Ort 37 Kilometer ausserhalb von Budapest. Jede halbe Stunde fährt die S10, gebaut von der Thurgauer Firma Stadler Rail, vom Bahnhof Budapest-Deli nach Bicske. Von der Haltestelle Bicske-Also muss man eine gute Dreiviertelstunde zu Fuss gehen, um zum Flüchtlingslager zu kommen. Es liegt leicht ausserhalb des Orts in unmittelbarer Nachbarschaft eines Tesco-Supermarkts. Viel Geld zum Einkaufen hat hier niemand. Erst recht nicht die BewohnerInnen des Flüchtlingscamps.
Mohammad K. führt mich um den Zaun des Bicske Reception Center. Es ist ein offenes Camp – die BewohnerInnen können kommen und gehen, wann sie wollen. Besuch dürfen sie jedoch keinen empfangen, JournalistInnen und der breiteren Öffentlichkeit ist der Zutritt verboten. Am Eingang stehen drei ältere Polizisten und kontrollieren, wer das Lager betritt und verlässt. Die BewohnerInnen haben einen Ausweis mit Strichcode, der am Tor gescannt wird. Das Lager ist mit Maschen- und Stacheldraht umzäunt. Doch wer reinwill, kann im hinteren Teil auch einfach über den Zaun klettern. Das niedergetrampelte Gras und der zur Seite gebogene Stacheldraht lassen darauf schliessen, dass wir nicht die Ersten sind, die diesen Weg wählen. So machten es auch die SchleuserInnen, erzählt Mohammad K. Sie bieten im Camp Drogen und Reisen ins übrige Europa zum Verkauf an. Denn hier bleiben will niemand.
Im hinteren Teil des Lagers sitzen zwei Männer auf einer Wiese und kiffen. Alkohol und Drogen sind im Lager eigentlich verboten. Doch niemand schert sich darum.
Bicske gilt als das Vorzeigelager Ungarns. Es wurde in den neunziger Jahren für Flüchtlinge aus dem Jugoslawienkrieg eröffnet. Heute leben hier Flüchtlinge aus der ganzen Welt, aus Afghanistan, dem Irak, Syrien, Kuba, dem Sudan, Somalia, Eritrea, der Mongolei. (…)
Verhängnisvolle Liebe
Dass er einmal hier landen würde, hätte Mohammad K. noch vor etwas mehr als zwei Jahren nie gedacht. «Wir hatten ein gutes Leben in Afghanistan», sagt er. Aufgewachsen in Herat, einer Stadt nahe der Grenze zum Iran, hatte Mohammad K. mit zwölf Jahren angefangen zu arbeiten. Als Näher, als Maurer, als Gärtner. Abends besuchte er Informatik- und Englischkurse. Als er etwa achtzehn Jahre alt war, erfuhr er, dass die Menschen, die ihn aufgezogen haben, die er Mutter und Vater nennt, nicht seine leiblichen Eltern, sondern sein Onkel und seine Tante sind. Seine leiblichen Eltern waren im afghanischen Bürgerkrieg Mitte der neunziger Jahre verschollen respektive umgekommen.
Etwa zur gleichen Zeit verliebte sich Mohammad, Angehöriger der ethnischen Minderheit der Hasara, in ein paschtunisches Mädchen. Deren einflussreiche Familie goutierte die junge Liebe nicht und bedrohte Mohammad und seine Familie mit dem Tod. Der Einfluss der paschtunischen Familie reichte bis in die Hauptstadt Kabul; Familie K. sah keine andere Möglichkeit, als das Land zu verlassen, und floh über den Iran in die Türkei. Mohammad K. musste seine Liebe zurücklassen. Ein Jahr lang lebte die Familie als Sans-Papiers in Istanbul.
Als Mohammad K. im Sommer 2015 hörte, dass die sogenannte Balkanroute offen sei, schloss sich seine Familie mit drei anderen afghanischen Familien zusammen. Sie kauften Handys mit GPS, Schwimmwesten, ein Boot. «Wir sind losgegangen, weil wir hörten, dass die Grenzen offen seien. Wir hätten es uns nie leisten können, einen Schleuser zu bezahlen, der uns alle illegal nach Europa schmuggeln würde.» (…)
Hier in Bicske arbeitet Mohammad morgens in der Wäscherei, unentgeltlich, doch er ist froh, etwas zu tun zu haben. In seinen vielen freien Stunden schaut er «24», seine Lieblings-TV-Serie – auf dem Handy, da sein Laptop bei seiner Familie im Berner Durchgangszentrum geblieben ist. Jeden Samstag fährt er an die Central European University in Budapest, die ein Studienprogramm für Flüchtlinge aufbaut. Dort besucht er Video- und Theaterkurse sowie einen Englischkurs für Fortgeschrittene. Mohammad möchte gerne Programmierer werden. Aber die Uni bietet keine solchen Kurse für Flüchtlinge an. Ab und zu trifft er sich mit AktivistInnen der Soligruppe Migszol. Doch allzu oft kann er nicht nach Budapest fahren. Das Ticket kostet gut 1500 Forint, ein Viertel seines wöchentlichen Budgets. (…)
Anfang Juni erhält Mohammad K. von den ungarischen Behörden seinen Flüchtlingsausweis. Und den Bescheid, er habe das Camp unverzüglich zu verlassen. Während einiger Tage versteckt er sich im Camp, kommt im Zimmer von Freunden unter, klettert jeweils hinten über den Zaun. Doch dann erwischen sie ihn und stellen ihn endgültig auf die Strasse.
Mohammad K. hat mittlerweile bei vier Obdachlosenunterkünften in Budapest vorgesprochen. Drei davon sind für ungarische StaatsbürgerInnen reserviert. Die vierte, die auch Flüchtlingen offensteht, ist heillos überfüllt. «Komm in zwei Monaten wieder», sagte man ihm dort. «Kauf dir ein Zelt und geh in den Wald», sagten im die SozialarbeiterInnen im Camp. Doch wer in Ungarn auf der Strasse schläft, landet früher oder später im Gefängnis. Es ist in Ungarn illegal, keine Meldeadresse zu haben.
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