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Während der Anschlagsserie in Afghanistan war wieder mal Hochbetrieb am Telefon. Hier, was von meinen Interviews online gelandet ist. Die Auswahl ist den Sendern geschuldet, nicht mir.

Als erstes mein Gastkommentar für den Tagesspiegel zu den jüngsten Entwicklungen in der Sicherheitssituation in Afghanistan, am 29.1.18 schon online (hier) und gestern in der Druckausgabe.

Hubschrauber über dem Kabuler Militärkrankenhaus, das am 8.3.17 von einem Kommando des Islamischen Staates angegriffen wurde. Foto: Tolo.

 

Vom nahezu wahllosen Morden in Afghanistan

Die gewaltsamen Auseinandersetzungen in Afghanistan haben ein Rekordniveau erreicht – zum Leid der Zivilbevölkerung. Ein Gastbeitrag.

THOMAS RUTTIG

Drei große Anschläge in Afghanistan binnen einer Woche, zwei davon in der Hauptstadt Kabul. Acht mit insgesamt mindestens 219 Toten landesweit seit dem 28. Dezember. Die Taliban und örtliche Ableger des Islamischen Staates (IS) teilen sich in die Verantwortung.

Und doch sind diese Anschläge nur die Spitze des Eisberges. Ausschnitte der Gewalt, die sich im Afghanistan-Krieg beinahe täglich abspielt. Am Tage des jüngsten Taliban-Anschlags vor dem Kabuler Jumhuriat-Krankenhaus, wo Personal und Patienten unter den Opfern sind, wurde in mindestens sieben weiteren Provinzen gekämpft. Außerdem kam es in Kandahar zu einem weiteren Anschlag mit vier Toten und zwölf Verletzten. Eine Woche zuvor, während Talibankämpfer in einem Kabuler Hotel IT-Spezialisten der Regierung massakrierten und Jagd auf Ausländer machten, wurde ebenfalls in sieben Provinzen gekämpft. Darunter war Kundus, der ehemalige Hauptstandort der Bundeswehr, wo wieder Häuser von Zivilisten zerstört und Familien in die Flucht getrieben wurden. Nichts davon schaffte es in europäische Medien.

Zahl der Zivilopfer durch Luftangriffe steigt

Beide Seiten eskalieren ihr Vorgehen. Die Taliban verwendeten bei ihrem jüngsten Anschlag einen Krankenwagen als Autobombe, ein klares Kriegsverbrechen. Die Taliban versuchen nach wie vor, sogenannte hochwertige Ziele – Regierungsstellen und ausländische Einrichtungen – anzugreifen, nehmen aber keine Rücksicht auf Menschen, die sich in der Nähe aufhalten. Dadurch sind die übergroße Mehrzahl der Opfer solcher Anschläge afghanische Zivilisten. Die IS-Gruppen morden fast unterschiedslos: Zwar sind Schiiten und Ausländer bevorzugte Ziele, aber jeder Afghane, der irgendwie mit der Regierung zu tun hat oder und sich ihnen nicht unterordnen will, ist ein potenzielles Ziel. Zudem kämpfen Taliban und IS gegeneinander, wobei die Taliban fast überall die Oberhand behalten haben.

Auch das afghanische und das US-Militär haben, wie es dort gern formuliert wird, die Glacéhandschuhe abgestreift. Schon in den letzten Obama-Monaten, aber noch mehr unter Trump stieg die Zahl der Luftangriffe und der dadurch verursachten Zivilopfer steil an. Zudem wird das in konkreten Fällen wieder öfter abgestritten. In den Augen vieler Afghanen wird dadurch unglaubwürdig, wenn westliche Regierungen Terroranschläge verurteilen. In sozialen Medien ist der Hashtag #AfghanLivesMatter aufgetaucht.

Taliban kontrollieren mehr Territorien als je zuvor seit 2001

Auch wenn diese Taliban-Anschlagswelle ein neues Hoch darstellt, präzedenzlos ist sie nicht. Präzedenzlos ist aber das Niveau der landesweiten Gewalt. Die fünf wichtigsten Indikatoren dafür standen 2017 auf Rekordniveau: die Zahlen der sicherheitsrelevanten Vorfälle – von Entführungen bis zu Gefechten –, der Zivilopfer und der Verluste bei den afghanischen Streitkräften. Die Taliban kontrollieren mehr Territorium als je zuvor nach dem Sturz ihres Regimes in 2001. Die Zahl der vom Krieg neu Vertriebenen lag im Vorjahr zwar unter dem Rekord von 2016, aber da immer mehr Menschen nicht mehr an ihre Wohnorte zurückkehren können, steigt auch die Gesamtzahl der Binnenflüchtlinge weiter an. Schließlich stufte die UN voriges Jahr Afghanistan von einem Post-Konflikt- in ein „Land im Konflikt“ hoch – zu spät, aber immerhin.

Da der Afghanistan-Krieg überwiegend Guerilla-Charakters trägt, lässt sich auch nicht voraussagen, wann und wo Kämpfe ausbrechen oder sich Anschläge ereignen könnten. Das gibt eigentlich auch die Bundesregierung zu, wenn sie in ihren Lageeinschätzungen das schöne aber schreckliche Fremdwort „volatil“ (explosiv) anwendet. Aber sie weigert sich, daraus die richtige Konsequenz zu ziehen, nämlich dass ihre Behauptung, in Afghanistan gebe es hinreichend sichere Gebiete, nicht der Realität entspricht. Das aber würde ihre rein innenpolitisch begründete Entscheidung konterkarieren, dass abgelehnte afghanische Asylbewerber nach Afghanistan abgeschoben werden können, koste es diese, was es wolle. 174 waren es seit Dezember 2016. Weiteres Schicksal? Der Bundesregierung unbekannt. Nur ein paar Aktivisten, Anwälte und frühere Gastfamilien halten Kontakt zu einigen von ihnen.

Der Autor ist Mitbegründer und Ko-Direktor des unabhängigen Think Tanks Afghanistan Analysts Network mit Sitz in Kabul
und Berlin.

Hier meine deutlich detailliertere Einschätzung, die jüngst bei AAN veröffentlicht wurde.

 

Bei AP findet sich ein längeres Zitat:

„The Taliban and IS are clearly competitors in the Afghan arena,“ said Thomas Ruttig, whose Afghan[istan] Analysts [N]etwork has deep knowledge of the country and has conducted nationwide studies into a myriad of issues confounding the country, including the IS and Taliban.

„The Taliban I see as ’national Islamists‘ while the IS is ‚Internationalist,'“ he said, dismissing reports of collaboration between the two insurgent groups, attributing them to rumors and bickering in northern Afghanistan within the Taliban.

Ruttig said Taliban fighters in northern Afghanistan recently flew the IS flag after the Taliban leadership ordered them to hand over their tax collection revenue to the governing Taliban shura or council. A major source of revenue for the Taliban is the tax or tolls they charge local residents for safe passage or to move legal as well as illegal commodities to market.

„The groups in the north are a separate phenomenon. There, Taliban commanders have switched to use IS insignia, but the trigger was conflict over transferring taxes to the central leadership,“ said Ruttig.

Und auch in der Los Angeles Times und San Diego Union-Tribune (beide in Personalunion):

Since the end of 2014, when the U.S.-led coalition shifted to more of an advisory role and gave Afghan forces responsibility for security, the annual number of “security incidents” recorded by the United Nations Mission in Afghanistan has risen by more than 10%, according to an analysis published Monday by Thomas Ruttig, co-director of the Kabul-based Afghanistan Analysts Network.

“All parties to the conflict — the Taliban, the Afghan and the U.S. government — are almost entirely focused on the war … and achieving military advantage,” Ruttig wrote.

Under Obama’s surge, the number of U.S. troops rose from fewer than 40,000 to nearly 100,000, and the pace of fighting rose at the same time.

“What happened during Obama’s surge of 2010 to 2012 could be repeated, that we see a mutually reinforcing spiral of escalation of the conflict,” Ruttig wrote.

The recent attacks also point to a bloody tussle between the Taliban — Afghanistan’s largest insurgent group — and supporters of Islamic State, who U.S. officials say number less than 1,000 in pockets of eastern and northern Afghanistan. The tit-for-tat bombings by members of the rival militant groups, Ruttig said in an interview, reflects “something of a competition over who, on the insurgents’ side, dominates the war theater.”

 

Weiter gehts mit Euronews (29.1.18) auf deutsch:

Experte: Taliban operieren von pakistanischem Gebiet aus

Wir haben mit Thomas Ruttig, dem stellvertretenden [eigentlich Ko-] Direktor des Afghanistan Analysts Network, über die Lage in Afghanistan und die Rolle Pakistans gesprochen.

Tesa Arcilla, euronews

Wir haben gesehen, was in Afghanistans Hauptstadt Kabul passiert ist, Hunderte wurden getötet, es gab Anschläge in einer bevölkerten Straße, einem Hotel, einer Militärakademie. Greifen die Kämpfer jetzt die Städte an, gibt es eine Änderung der Taktik?

Thomas Ruttig

Nein, das ist keine Veränderung der Taktik. In der Vergangenheit gab es bereits eine ganze Reihe ähnlicher Angriffe in Kabul und anderen großen Städten.

Recht neu ist, dass Gruppen mit Verbindungen zum sogenannten Islamischen Staat an dieser Anschlagswelle teilnehmen. Hier kommen also Taliban und IS zusammen [aber nicht organisatorisch natürlich].

euronews

Versuchen sie, sich gegenseitig zu übertrumpfen mit immer mehr Attacken? Ist das das Ziel?

Thomas Ruttig

Das mag ein Teil der ganzen Gleichung sein. Im Moment brauchen beide Seiten ganz offensichtlich Geld und Hilfe von ihren Unterstützern, sie müssen also zeigen, dass sie aktiv sind. Dies könnte also tatsächlich eine Art Wettbewerb sein, auf Kosten der afghanischen Zivilbevölkerung.

euronews

Wie ist das in Bezug auf Pakistan zu bewerten? Der Chef des afghanischen Geheimdienstes erklärte, die Zunahme an Anschlägen sei eine Reaktion darauf, dass die USA mehr Druck auf Pakistan ausüben. Das heißt, sowohl die USA als auch Afghanistan beschuldigen Pakistan, den Dschihadisten Unterschlupf zu gewähen. Die USA haben Sicherheitshilfen für Pakistan ausgesetzt. Spielt das eine Rolle bei dem, was in Kabul passiert?

Thomas Ruttig

Das spielt sicher eine Rolle in Pakistan. Seit vielen Jahren zeigt sich, dass sie [das pakistanische Militär-Estabishment] oft über die Taliban reagieren, wenn sie unter Druck geraten oder kritisiert werden. Pakistan muss wirklich in den Spiegel schauen und anerkennen, dass es eine Schlüsselrolle in Afghanistan spielt, indem es die Taliban unterstützt. Jeder weiß, dass sie von pakistanischem Gebiet aus operieren und ebenfalls von Gebieten aus, die vom Militär und dem Militärgeheimdienst kontrolliert werden. Die öffentlichen Dementis sind nicht überzeugend.

 

Auf der englischen Webseite von Euronews findet sich etwas mehr. Dort kann man auch das Video des Beitrags sehen:

Why has Afghanistan seen so many attacks in the last week?

By Emma Beswick

last updated: 29/01/2018

At least four large-scale attacks rocked Afghanistan in January, leaving scores injured, with two in the last week. Experts told Euronews what could have caused this hike in violence.

Afghanistan saw a spate of attacks in the last week that caused hundreds of casualties.

Civilians bore the brunt of an increased offensive in Kabul, which in one case saw Taliban militants drive an ambulance packed with explosives through a security checkpoint and detonate it in the heart of the city, killing 100 people and wounded at least 235.

In the eastern Afghan city of Jalalabad, militants from the so-called Islamic State (ISIL) stormed the office of international aid agency Save the Children, killing two and wounding at least 12 others.

What has led to this surge in activity by militant groups? Euronews asked two experts from the Afghanistan Analysts Network: Co-director and co-founder Thomas Ruttig and analyst Claudio Franco [who is not working for AAN; he has been a guest author a few imes].

ISIL’s increased activity

Ruttig told Euronews that new groups linked to ISIL are participating in this wave of attacks.

[the following is not from me; it is also not correct – there are some former Pakistani Taleban who have joined the IS, but not the Pakistani Taleban. The quotation marks are also strange…] The Taliban is also divided into four factions, with the „Pakistani“ Taliban declaring their allegiance to ISIL, who are „fighting to get into the Afghan arena, and another faction fighting to keep their new competitors out.

Competition between ISIL and the Taliban

ISIL and the Taliban are both carrying out attacks in Kabul and could be trying to outdo each other, according to Ruttig.

„Competition might be part of what’s happening,“ he said, at the cost of the Afghan civil population.

Both groups have to justify backing from their donors so must show that they are active.

Franco added that „there is a rivalry“ between the two groups, which started with a battle for territory and has now moved on to a fight for resources and men, with the ISIL buying the Taliban’s men, as they can pay double their salaries.

Pakistani government’s involvement

„Everyone knows that the Taliban are operating from Pakistani territory,“ said Ruttig, „so the public denials are not really convincing“.

He says that Pakistan has shown previously that when they are criticised internationally it has reacted by means of the Taliban.

„Pakistan really needs to look in the mirror and acknowledge it has a key role in Afghanistan, also in supporting the Taliban,“ he said.

US withdraws aid to Pakistan

Franco sees the hike in attacks as a direct result of the reduction of US aid to Pakistan, the moment at which he says „all hell broke loose“.

„It’s clear this is a direct message which is a result of the reduction if not cut in US military aid to Pakistan.“

He sees an attack on December 27, 2017, as a „last message,“ followed by a series of „atypical“ attacks in areas where the number of victims could be maximised—previously the Taliban did not always appear to use techniques that maximised civilian or Afghan military casualties.

The four previous attacks, according to Franco, including the ambulance attack, were all aimed at striking those who deal with the international community.

He believes the Haqqani network, an Afghan guerilla insurgent group, is being used as a proxy by Afghanistan and they are able to get into Kabul.

The de-facto autonomous network is based in both Pakistan and Afghanistan and is and is formally part of the Taliban and still ideologically aligned with them in wanting to eradicate Western influence and transform Afghanistan into a strictly Sharia-following state.

How could the conflict in Afghanistan be resolved?

Many outside the country think that the only way for peace to be restored would be for the government in Kabul to negotiate with the Taliban.

Ruttig is of this belief and sees the situation becoming more stable through „political regulation in Afghanistan“ between the government and Taliban.

He saw 2017 as a „lost year“ because the government refused to speak to the Taliban.

Both sides have, however, declared they are interested in negotiations, so they need to „step forward, find common ground and start talking to each other because meanwhile people are being killed,“ according to Ruttig.

Franco said external factors, like Iran and Pakistan and their relations, must be addressed to achieve peace.

The problem of insurgency in Afghanistan would be impossible to address if you don’t seal the borders, with militant groups „melting“ across the country’s borders where they have „everything they need to fight another day,“ as soon as the tactical situation is not ideal, according to Franco.

„If you don’t remove these foreign factors we will never have what we want for the country: Economic development, good education etcetera.“

Das gibt’s auch auf Spanisch, Türkisch, Portugiesisch und Italienisch…

 

Außerdem tauche ich auch im Neuen Deutschland mal wieder auf, kurz zitiert, wohl über dpa:

Afghanistan-Experte Thomas Ruttig vermutet, dass die Terroristen damit zugleich das aktuelle politische Chaos vor den geplanten Wahlen sowie die Unzufriedenheit der Bevölkerung zuspitzen und so einen Kollaps der Regierung erreichen wollten. 

Meine Interviews mit der BBC (Live in Fernsehen und Radio), dem Schweizer Radio und WDR Cosmo finden sich leider nicht online.

Aber wer katalanisch versteht, kann hier ein Interview mit mir lesen, geführt von meiner guten Bekannten aus afghanischen Tagen, Mònica Bernabé, jetzt bei der Tageszeitung ara.cat. Titel: „Thomas Ruttig: ‚L’única solució per posar fi a la guerra és parlar amb els talibans‘ –Entrevista al codirector del centre d’estudis d’Afghanistan Analysts Network“.