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Einen Tag, nachdem die neue GroKo (Merkel-Kabinett IV) ihre Arbeit aufgenommen hat, debattierte der Bundestag auch gleich eines der wichtigsten außenpolitischen Themen der letzten zwei Jahrzehnte: Afghanistan. Die Frankfurter Rundschau, die die Debatte  zusammenfasste, machte dabei auf einen wichtigen innenpolitischen Aspekt aufmerksam:

Mit Blick auf weitere Abschiebungen von afghanischen Flüchtlingen hielt sich der neue [Außenminister Heiko Maas] ebenfalls zurück. Eine abschließende Sicherheitsbewertung sei derzeit nicht möglich, erklärte er.

In der Tat: Es gibt immer noch keinen Bericht „über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan“, wie es bisher hieß (hier meine Bewertung des nach Ansicht der bisherigen Bundesregierung immer noch aktuellen Berichts von 2016). Stattdessen gab es Anfang März einen neuen „Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven des deutschen Afghanistan-Engagements“ (eine erste Bewertung hier). Mass nannte den Bericht „mehr als kritisch“ und sogar „selbstkritisch“, er zeichne ein „ungeschöntes Bild von Afghanistan“ – dass das nicht ganz so ist, werden wir unten sehen.

Vielleicht erklärt das Fehlen des spezifischen Berichts auch die Tatsache, dass bisher noch kein Termin für einen Abschiebeflug nach Afghanistan im März bekannt geworden ist. Bisher fanden diese beinahe allmonatlichen Flüge jeweils um den 20. des Monats herum statt, und das Datum wurde noch früher bekannt. Entweder hat die neue Bundesregierung noch einmal eine Auszeit genommen (es war ja bekannt, dass es gewisse Unterschiede bei der Einschätzung zwischen SPD-geführtem Auswärtigen Amt und dem unionsgeführten Bundesinnenministerium gab), oder sie hat die Geheimhaltung erhöht.

Es ist auch nicht bekannt, dass die neue Bundesregierung seit dem bisher letzten Flug (mehr hier) von ihrer Linie abgewichen wäre, derzufolge weiterhin Straftäter, Gefährder und Identitätstäuscher nach Afghanistan abgeschoben werden können. Laut Koalitionsvertrag (Volltext hier) sind „effizientere Verfahren“ für „freiwillige Rückkehr 
und konsequente Abschiebung 
… vollziehbar Ausreisepflichtige[r]“ vorgesehen.

Apropos Koalitionsvertrag: Das ist, was darin zu Afghanistan steht – und was sich auch in den Ausführungen der Regierungsvertreter in der ersten Bundestagsdebatte unter Merkel IV wiederfand:

Wir sind überzeugt, dass Afghanistan weiter unterstützt werden muss, damit es zukünftig mit funktionierenden Sicherheitsstrukturen selbst für Sicherheit im eigenen Land sorgen kann. Unser Ziel ist ein afghanisch geführter Friedens- und Versöhnungsprozess und eine konstruktive Einbindung der regionalen Akteure, insbesondere Pakistans. Wir sind bereit, gemeinsam und in Abstimmung mit unseren Verbündeten unser ziviles und auch unser militärisches Engagement insbesondere im Norden des Landes fortsetzen. 
(…)

Unsere Beteiligung am RSM-Mandat (Resolute Support Mission) in Afghanistan wollen wir bei unverändertem Auftrag fortsetzen. Im Rahmen des multilateral vereinbarten Schutzkonzepts für Nordafghanistan werden wir die Zahl der eingesetzten Soldatinnen und Soldaten zum Schutz der Ausbilder erhöhen.

Letzteres ist vom Kabinett schon beschlossen worden (siehe hier).

 

Wie die Frankfurter Rundschau war der Duktus zwischen SPD- und CDU-Ministern auch beim Thema Situation in Afghanistan durchaus unterschiedlich. Außenminister Heiko Maas (SPD) habe für die Fortsetzung des Einsatzes geworben –

… dies aber mit eher defensiven Argumenten. An der Lage im Land werden sich „nichts verbessern, wenn wir uns jetzt zurückziehen“, sagte der Außenminister. Es gelte, die nahenden Wahlen eines neuen Parlaments und eines neuen Präsidenten abzusichern. (…)

Die alte und neue Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) zeigte sich laut FR „offensiver“ und positiver. Sie begründete den Antrag auf Fortführung des Bundeswehrmandats mit Fortschritten in Afghanistan, wobei sie aber Zahlen verwendete, die fragwürdig sind:

Die Lebenserwartung in Afghanistan sei seit dem Beginn des Einsatzes von 45 auf 60 Jahre gestiegen, sagte sie, und die Kindersterblichkeit habe sich halbiert. Das Bruttoinlandsprodukt wiederum sei – wenn auch auf niedrigem Niveau – um das Achtfache gestiegen. Und immerhin 60 Prozent des afghanischen Territoriums befänden sich unter Kontrolle der Regierung. Ziel, so von der Leyen, müsse bleiben, dass Afghanistan seine Sicherheit in die eigenen Hände nehmen könne.

(Das Video ihrer Rede findet sich hier; die Maas-Rede hier.)

Außerdem, so berichtete der sicherheitspolitische Blog Augen Geradeaus! vor einigen Tagen, habe die Bundeswehr eine Woche vorher mitgeteilt, dass

deutsche Soldaten unter anderem in der nordafghanischen Provinz Farjab unterwegs sind – sie leisteten keine Beratung, sondern untersuchten, ob die Unterstützung der afghanischen Armee-Führung im Norden durch die Nato-Truppen Erfolg habe, war eine der offiziellen Aussagen dazu.

Farjab gehört zu den seit mehreren Jahren besonders umkämpften Provinzen Afghanistans und liegt im Verantwortungsbereich des von der Bundeswehr geleiteten Kommandos Nord der NATO-Militärmission Resolute Support. AAN hatte vor einigen Tagen über die Lage dort berichtet. Die Taleban kontrollieren dort die Mehrheit der Distrike, wenn auch kein Distriktzentrum und haben sich dicht bei der Provinzhauptstadt Maimana festgesetzt (siehe hier). Sie dürften dann berichten, dass die Situation sich dort – wie im ganzen Land – über die vergangenen Jahre verschlechtert hat. Im Gegensatz zu den von der Ministerin erwähnten 60 Prozent Regierungskontrolle über das Territorium waren es ja 2001, nach dem Zusammenbruch des Taleban-Regimes, fast 100 Prozent.

(Ministerin von der Leyen irrt sich auch, wenn sie sagt, die afghanischen Regierungstruppen hätten acht Provinzzentren von den Taleban zurückerobert; es handelt sich um Distriktzentren. Afghanistan hat 34 Provinzen mit etwa 400 Distrikten.)

Interessant auch Linken-Außenpolitiker Stefan Liebich, der betont habe, dass die Bundeswehr Afghanistan nicht von heute auf morgen verlassen könne. Bisher hatte die Linke eher einen sofortigen Abzug unterstützt. Liebich wandte sich auch klar gegen Abschiebungen dorthin.

Statistiken…

Was Zahlen wie die von der Leyens betrifft, hatte ich bereits im Oktober 2017 geschrieben (hier):

Die Erfolge im Wiederaufbau werden meist nur quantitativ beschrieben und bleiben oberflächlich. Angaben über die Steigerung der Lebenserwartung oder eine Verringerung der Mütter- und Kindersterblichkeit beruhen auf alles andere als verlässlichen afghanischen Regierungsquellen.

Wenn von sieben bis acht Millionen Kindern die Rede ist, die heute zur Schule gehen (davon ein Drittel Mädchen), bleibt oft unerwähnt, dass 68 Prozent davon (und 82 Prozent der Schülerinnen) – die Schule vor Beendigung der sechsten Klasse verlassen. 2010 hatte Afghanistan laut Unesco-Angaben den weltweit niedrigsten Wert in der Geschlechtergleichheit; in den Berichten für die nachfolgenden Jahre gibt es keine Angaben mehr dazu.

Zwar verwendet auch die afghanische Regierung derzeit wieder die Zahl von acht Millionen, allerdings nachdem sie sich Ende 2016 auf sechs Millionen herunter korrigieren musste. AAN hat festgestellt, auch nach umfangreichen Recherchen im afghanischen Bildungsministerium, dass dort niemand wirklich sagen kann, wie viele Schüler (und Lehrer und Schulen) es wirklich gibt und dass das Bildungssystem in Afghanistan „endemisch“ korrupt ist. Letzteres hat u.a. damit zu tun, dass es „Geisterschulen und –lehrer“ gibt, die entweder nicht existieren oder nicht arbeiten, aber trotzdem ein Budget bzw Gehälter beziehen. Gehälter nur auf dem Papier existierender Lehrer stecken sich dann örtliche Regierungsbeamte in die eigene Tasche; oft teilen sie es sich mit Beamten in Kabul. Der Bericht eines afghanisch-internationalen Anti-Korruptions-Gremium sprich von „36 verschiedenen Typen von Korruption im [afghanischen] Bildungssektor (mehr Details hier und hier bei AAN).

Was die Senkung der Kindersterblichkeit betrifft, stimmen von der Leyens Zahlen (die auf dem o.g. neuen Bericht der Bundesregierung beruhen – siehe Bild) nicht mir den letzten öffentlich vorliegenden Berichten überein. Der Afghanistan Demografic and Health Survey von 2015 spricht von einem Sinken von 87 (Jahr nicht gegeben) auf 55 (2015) pro 1000 Lebendgeburten. Aber der Bericht der afghanischen Gesundheitsministeriums in Zusammenarbeit mit einem US-amerikanischen Institution sagt auch, dass „diese Mortalitätsschätzungen mit Vorsicht verwendet“ (meine Hervorhebung) werden sollen, da sie „niedriger als erwartet ausfallen“ und „andere Datenquellen aus Afghanistan“ auf „Unterberichterstattung“ hindeuteten. (Die Zahlen ergeben sich auch Befragungen der Mütter, die oft Totgeburten oder neonatale Sterbefälle (d.h. im ersten Monat nach der Geburt) verschwiegen.

Bildschirmfoto eines Auszugs aus dem Perspektivbericht der Bundesregierung

 

Auch die Müttersterblichkeit wurde lange übertrieben positiv dargestellt. Angeblich sei sie von 1600 pro 100.000 Lebendgeburten auf 327 gefallen, über nur acht Jahre. Der renommierte Zusammenschluss britischer und irischer Hilfsorganisationen in Afghanistan (BAAG; hier) fand , dass sie kursierenden Zahlen auf „fragwürdigen Praktiken in der Untersuchungsmethodologie“ einer US-finanzierten Studie beruhen und die Studie „keine abschließenden Belege für solch eine drastische Reduktion“ enthalte. Die Studie sei deshalb „sehr wahrscheinlich (…) irreführend“, was die „Realität in Afghanistan Müttergesundheit betreffe“. Die Zahlen seien „zu schön um wahr zu sein“.

Von der Verfünffachung des Bruttosozialprodukts [es gibt unterschiedliche Angaben dazu – von der Leyen verwendet „Verachtfachung“] pro Kopf der Bevölkerung profitiert nur eine mit der Regierung verbundene Oberschicht. Die Normalbevölkerung kämpft mit steigenden Preisen, einem Verfall der ohnehin überbewerteten Währung sowie zunehmender Arbeitslosigkeit. Laut Weltbank erreichten nur 14 bis 25 Prozent der enormen Summen an Entwicklungshilfe – laut International Crisis Group bis 2011 zirka 57 Mrd. US-Dollar – die einheimische Wirtschaft.

Die staatliche schwedische Entwicklungsagentur SIDA schrieb Anfang 2016 zu diesem Thema:

Afghanistan wird weiterhin von chronischer Unterentwicklung geplagt und ist eines der ärmsten Länder der Welt. (…) Der jüngste Bericht der Weltbank und des [afghanischen] Wirtschaftsministerium „Afghanistan Poverty Status report“ sagt aus, dass einer von drei Afghanen es sich nicht leisten kann, sich [ausreichend] Nahrungsmittel zu kaufen oder die Grundbedürfnisses abzudecken. Der Bericht stellt ferner eine sich ausweitende Lücke zwischen den Reichen und den Armen fest.

Erstens: Das klingt grundsätzlich anders als von der Leyens Optimismus-Statistik aus dem Perspektivbericht. ((Im übrigen wird auch die positive Tendenz bei der sozialen Entwicklung, die in dem Bildausschnitt oben gezeigt wird, anderswo in dem Bericht nicht korrigiert. Dort ist – wie oben auch sichtbar – lediglich von einer Verlangsamung der Wirtschaftsentwicklung die Rede; dass dies – zusammen mit der Sicherheitslage, auch Auswirkungen auf die soziale Situation haben muss, fehlt.) Und zweitens: Es gibt keine Anzeichen, dass sich die Lage seither verbessert hat.