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Am 11. April jährt sich zum fünfzigsten Mal das Attentat auf Rudi Dutschke. „1968 – für Menschen in Ostdeutschland ist das vor allem die Erinnerung an den Prager Frühling und seine Zerschlagung, für Menschen in Westdeutschland das Stichwort für gesellschaftliche Veränderungen mit Langzeitwirkung“ schrieb ich 1998 in einem Editorial für eine Ost-West-Sonderausgabe der entwicklungspolitischen Zeitschrift Inkota-Brief, gemeinsam herausgegeben mit den Organisationen Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt und Weltfriedensdienst. Als entwicklungspolitischen Organisationen war er uns wichtig darzustellen, dass die damaligen Proteste der „Studentenbewegung“ nicht nur in Paris und Prag, (West-)Berlin und Belgrad stattfanden. Oder wie die taz am Wochenende in ihrem Dossier zum Thema schrieb: „Flower-Power, Dutschke, Joints? 1968 war viel mehr als das: nämlich weltumspannend.“

Damals demonstrierten in Kabul schon die Studenten: Bundespräsident Heinrich Lübke und Gattin treffen König Muhammad Saher und Gattin Soraja beim Staatsbesuch in Kabul 1967.

 

Denn Bewegung gab es auch in Indien, Mexiko und – sogar in Afghanistan, und dort sogar früher als in Europa.

In Afghanistan hatte das zunächst mit innenpolitischen Entwicklungen zu tun. 1964 hatte der afghanische König Muhammad Saher Schah – wohl um seine Macht gegen ambitionierte, ältere Familienmitglieder wie seinen Cousin Sardar Muhammad Daud (1963 als Premierminister abgesetzt) abzusichern – eine neue Verfassung erlassen, die parlamentarische und pluralistische Elemente enthielt. Auch wenn das eine Reform „von oben“ war, sie verwirklichte, wofür die afghanischen maschruta-chwahan (Konstitutionalisten) seit Generationen gekämpft hatten: eine Umwandlung der absoluten in eine konstitutionelle Monarchie. Das brachte Afghanistan erste Erfahrungen mit parlamentarischer Demokratie; die gebildeten Mittelschichten, die durch die Reformen König Amanullahs (reg. 1919-29) entstanden waren, erlangten nun politische Mitsprache – auch wenn der König schließlich das in der Verfassung vorgesehene und schon vom Parlament verabschiedete Parteiengesetz nicht unterschrieb und den neu gebildeten, schon aktiven politischen Parteien schließlich doch die Legalisierung versagte. (Mehr dazu im Kapitel „Half-hearted political opening“ meines AAN-Papiers “How It All Began: Pre-1979 Origins of Afghanistan’s Conflict“, hier.)

Das allerdings hatte fatale Folgen. Die Gemäßigten gingen königstreu nach Hause, die islamisischen und linken Radikalen in den Untergrund und bereiteteten den Putsch vor. Die Linken „siegten“ 1973, noch im Bündnis mit Sardar Daud, und dann 1978 gegen ihn – der Rest ist bekannte Weltgeschichte.

Für die 1998er INKOTA/ASW/WFD-Gemeinschaftsausgabe zum globalen Jahr 1968 schrieb Andreas Kramer, der 1969-71 ded-Entwicklungshelfer in Afghanistan war und dort die Studenten- und Schülerstreiks des Jahres 1969 miterlebte, einen Beitrag unter dem Titel „Kabuler Frühling: Der Aufbruch der afghanischen Studenten- und Schülerbewegung ab 1965“ – thematisch wohl ein Unikat.

Hier Auszüge daraus:

Es war im Sommer jenes Jahres. (…) Kaum hatte ich den [Unterrichts]Raum betreten, stand der Klassensprecher auf. Er nahm seine verschlissene Karakulmütze ab und teilte mir mit, dass der Unterricht nicht stattfinden könne. Dann richtete er eine kurze Aufforderung an seine Mitschüler. Sie standen ohne Ausnahme auf und verließen das Klassenzimmer in Richtung Schulhof. Dort stießen andere Schüler zu ihnen. Innerhalb kürzester Zeit versammelten sich 100 Schüler.

Der Klassensprecher der 9. Klasse wurden von seinen Mitschülern auf die Schultern gehoben. Er hielt eine kurze Ansprache. Danach setzte sich die Masse der Schüler geordnet (…) in Bewegung, bog auf die Straße ein und stieß 100 Meter weiter auf eine lange Marschkolonne von scätzungsweise mehreren Tausend Studenten. Sie trugen große Transparente und kamen von der Universität (…). Von der anderen Straßenseite stießen Schülerinnen einer Mädchenschule auf die Demonstranten. Die Marschkolonne bewegte sich in die Richtung der Innenstadt. Die Studenten und Schüler waren in den Streik getreten. (…)

An den wichtigsten Kreuzungen waren Polizeikräfte zusammengezogen, de von deutschen Beratern ausgebildet wurden und in der deutschen Körperschutzeinrichtung martialisch aussahen. Sie sollten die Innenstadt absperren. (…)

Es war ein Parkgelände im Zentrum Kabuls, ganz in der Nähe des Königspalastes und mehrere Ministerien. (…) Jetzt war er übersät mit Tausenden von Menschen. Von einem kleinen Hügel in der Mitte des Parks aus sprachen die Redner mit lauter Stimme zu den Zuhörern. Es waren Männer und Frauen. Am Ende jedes Rede skandierten die Studenten und Schüler ihre Forderungen: die Verbesserung der Lage der Studenten, der Ausbildung und die Fortführung des 1965 vom König eingeleiteten Demokratisierungsprozesses. Es ging um die Anerkennung einer gewählten Studentenvertretung, die Verbesserung der Lehrinhalte, den Abbau der Barrieren für die Zugang zum Universitätsstudium (Ahndung von Korruption bei der Aufnahmeprüfung und Erhöhung der Zulassungsquote), die Abschaffung der Regelung, daß nach mehrmaligem Scheitern im Examen Studenten relegiert wurden, und die Rücknahme einer Regelung, die [eine] Anwesenheitsquote von 75 Prozent in Vorlesungen verlangte, um nicht relegiert zu werden (beides benachteiligte arme, mittellose Studenten). Weiter forderten die Studenten die Freilassung von Vertretern zweier Internatsschulen, in denen Studenten aus den Provinzen untergebracht waren. Man hatte ihnen Essensrationen vorenthalten, woraifhin sie in den Streik getreten waren und ihre Internate besetzt hatten. Die Besetzung wurde von Spezialeinheiten der Polizei, die von deutschen Experten ausgebildet wurden, blutig gesprengt. Nach Schätzung der Studenten gab es dabei 17 Tote; die Regierung dementierte das das. (…)

[Bereits am 25. Oktober 1965 – oder dem 3. Aqrab, nach afghanischem Kalender – waren bei einem Polizeieinsatz gegen demonstrierende Studenten in Kabul drei von ihnen getötet worden. Die unter der DVPA-Regierung angebrachte Gedenktafel für sie in Deh Mazang habe ich noch nach 2001 gesehen, sie ist aber bei Neubauten dort wohl entfernt worden und verloren gegangen. – Th.Ru.] 

Die Forderungen gingen aber über studentische Interessen hinaus. Parteien sollten zugelassen und korrupte Personen im Regierungsapparat entlassen werden. Im Jahr 1969 streikten die Studenten 48 Tage lang. Ihr Protest zog eine Spur durch die 60er und 70er Jahre, bis er in der Demokratiebewegung mündete (…).

Zur Zielscheibe studentischer Kritik wurden auch jene Fakultäten, in denen die afghanisch-deutsche Universitätspartnerschaft realisiert wurde. Kritisiert wurde, dass Lehre und Forschung nicht den Entwicklungsbedürfnissen des Landes angepaßt wurden. (…)  

Begonnen hatte der Studenten- und Schülerprotest 1965, als die Studenten friedlich das Parlament besetzten (…). 1968 waren in allen Teilen des Landes Arbeiter in den Fabriken für ihre gewerkschaftlichen Rechte in den Ausstand getreten. Im April/Mai 1968 legten Bauarbeiter, die Arbeiter der Staatsdruckerei und die Busfahrer in Kabul ihre Arbeit nieder. Die Textilarbeiter in Pul-e Khomri und die Raffineriearbeiter in Nordafghanistan organisierten einen über fast hundert Kilometer führenden Protestmarsch, um gegen ihre schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen zu protestieren, der von der Regierung gewaltsam aufgelöst wurde.

 

Hier den ganzen Artikel im PDF-Format lesen:

199809-INKOTA Brief 105-Kabuler Frühling

 

Ein weiterer, linker Autor, Jonathan Neale, berichtet von Schülerprotesten in Laschkargah und Schewa in Kunar in den frühen 1970er Jahren; er war 1971-73 im Land:

Zum Beispiel in Laschkargah in der Nähe von Kandahar streikten im Jahre 1971 die Schüler und gingen auf die Straße. edner standen auf Kisten in den Straßen und forderten öffentlich den Tod des Khans. Das war keine unbestimmte Parole, meinte sie doch ganz bestimmte Männer in dieser Gegend, die alle politische Macht in den Händen hielten. Die Bauern hörten den Schülern zu, fühlten sich zu ihnen gezogen, hatten aber Angst sich ihnen öffentlich anzuschließen. (…)

Im Schewa-Tal im Osten des Landes gab es zum Beispiel zwei höhere Schulen mit über 1000 Schülern. Innerhalb zweier Jahre in den früheren 70er Jahren demonstrierten sie gegen die Unfähigkeit der Regierung, sie mit Lehrbüchern zu versorgen, gegen einen unfähigen Lehrer, gegen den Direktor, gegen eine Korruptionsaffäre innerhalb der Regierung, bei der Gelder verschwanden, die für Lebensmittel eines Arbeitsprogrammes in der Region bestimmt waren. 200 Schüler taten sich auch schon mal zusammen, um dem Arzt der Gegend Bescheid zu stoßen, der Geld für Medikamente verlangte, die die Regierung umsonst geliefert hatte. Ihre Väter verboten ihnen zwar zu demonstrieren, da sie Angst vor dem Zorn der Regierung hatten, aber die Schüler meinten, sie seien im Recht und müßten kämpfen. Und sie hatten oft Erfolg. Der Direktor wie der unfähige Lehrer wurden versetzt, doch die Lieferung von mehr Lehrbüchern konnten sie nicht durchsetzen.

 

Im übrigen beschrieb der 2015 verstorbene linke deutsche Soziologe und Ethnologe Christian Sigrist, der 1966/67 im Rahmen des deutschen Paktia-Projekts Feldforschung in Afghanistan betrieb – leider sehr kurz – einen weiteren Aspekt der deutschen Rolle sogar als Auslöser der afghanischen Studentenproteste 1965 (Quelle hier):

[Die deutsche Firma] Hochtief führte den von den USA finanzierten Neubau der Kabuler Universität aus, ebenso wie das von der Sowjetunion finanzierte Polytechnikum.

Dieser Konzern trug zum Scheitern der afghanischen Verfassungsreform bei. Angeblich hatte sie das gesamte Kabinett des neuen nicht paschtunischen Ministerpräsidenten Dr. Yusuf durch Übereignung von Neubauvillen bestochen.

[In einem weiteren Artikel fügt Sigrist hinzu:

Lassen wir offen, wie groß der Wahrheitsgehalt dieser auf dem Uni-Campus grassierenden Gerüchte war. Offen bleibt auch, wieweit es v.a. Kommunisten waren oder im Gegenteil reaktionäre Hofkreise, welche die Gerüchteküche anheizten. Tatsache ist aber, daß Dr. Yussuf nicht den Schießbefehl gab, als sich ein Demonstrationszug auf seine Villa hin bewegte. Es war wohl General Shah Wali, ein Onkel des Königs, der ohnehin gegen das Demokratisierungsprojekt arbeitete. Für ihn war es eine Provokation, daß bei den Wahlen auch VertreterInnen der linken Demokratischen Volkspartei gewählt worden waren, unter ihnen Babrak Karmal und eine Ärztin, Dr. Anahita Ra[te]bzadeh.]

Die dagegen protestierenden Studenten erzwangen eine Unterbrechung der Beratungen des Unterhauses über die Bestätigung des Kabinetts nach Überprüfung der Vermögensverhältnisse seiner Mitglieder. Am 25.10.1965 kam es zu Demonstrationen von Studenten, deren militärische Niederschlagung ein Dutzend Opfer forderte.

Hochtief betrieb neben einer Holz und Metallverarbeitungsfabrik mehrere Baumaterialienbetriebe. 1968 kam es dort zu mehrwöchigen Streiks, weil Hochtief sich nicht an die arbeitsrechtlichen Normen Afghanistans hielt. Von deutschen Beamten ausgebildete Polizeispitzel ermittelten Rädelsführer. Die Polizeiausbildung erfolgte unter formal-paritätischer Leitung, von deutscher Seite war der jeweils letzte pensionierte Direktor des BGS zuständig. Es gab in Kabul ein „Landeskriminalamt“.

Wichtige afghanische Beamte wurden in westdeutschen Landeskriminalämtern und im Bundesnachrichtendienst (BND) weiter qualifiziert und z. T. mehrjährig in Deutschland und Österreich eingesetzt. Das waren also die guten Jahre der Zusammenarbeit, die nun Illusion über die erneute deutsche Ausbildung afghanischer Polizeibeamter nähren sollen.

In einem weiteren Beitrag wies Sigrist auch darauf hin, dass die bundesdeutsche Polizeihilfe für Afghanistan an ähnliche Projekte in der Zeit des „Dritte[n] Reich[s] anknüpf[t]en“:

De[ss]en Polizeibeamte unterstützten den Aufbau der allgemeinen und der geheimen Staatspolizei. Afghanistan zeigte sich dabei nach Kriegsende [Himmler gegenüber] dadurch erkenntlich, dass sein Bruder Gebhard Himmler jahrelanger Geschäftsführer des Europäisch-Afghanischen Kulturinstituts in München wurde.

Das es offizielle afghanische Sympathien und Verstrickungen mit dem Nazi-Regime gegeben hat, habe ich ja schon dargestellt (hier und hier). Auch der Spiegel-Journalist Walter W. Krause schrieb in seinem Buch Wenn es zwölf schlägt in Kabul (Kindler 1957, S. 25), dass die Kabuler Polizei bei seinem Besuch im gleichen Jahr „von dem ehemaligen SS-Major Ata Ullah … kommandiert“ worden sei.

Weitere Erfahrungsberichte über deutsche Polizeiarbeit in Afghanistan  – allerdings ohne jeglichen Hinweis auf Studentenproteste – finden sich vom bayerischen Kriminalrat Paul Günther aus den Jahren 1968 bis 1972 im Spiegel vom 4.2.2009 unter dem Titel „Afghanistan 1968: Als in Kabul Hippies tanzten“ (hier) sowie vom späteren Bremer Polizeipräsidenten Ernst Diekmann in der Bremen-taz vom 26.9.2005 (hier).