Schlagwörter

, , , , , , , , , ,

Sorry, die Überschrift ist ein Selbstzitat. Sie stellt das Fazit meiner Präsentation an einem Runden Tisch mit Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen und dem derzeitigen Vorsitzenden der Innenministerkonferenz der deutschen Bundesländer, Hans-Joachim Grote (CDU) aus Schleswig-Holstein (wo es eine schwarz-grüne Koalition gibt), dar, der am 11.6.19 in Kiel stattfand. Dort konnte ich kurz – fünf Minuten lang – eine Zusammenfassung zur Sicherheits- und sozial-politischen Situation in Afghanistan geben.

Junge Frauen tragen als öffentlichen Protest den Sarg eines der Opfer des Anschlags auf ein Bildungszentrum in Kabul Mitte August 2018 durch die Straßen. Foto: Khalil Noori auf Twitter.

 

Ich verwies dort darauf, dass führende Friedensforschungsinstitute Afghanistan 2018 als schlimmsten Krieg weltweit bewertet haben, dass die UNO das Land bereits vorher wieder vom „post conflict“- zum „in conflict country“ (Kriegsland) hochgestuft hatten und dass am Tage vor dem Runden Tisch der UNHCR-Vertreter in Deutschland erklärt hat (hier zitiert):

„Die Sicherheitslage in dem Land lässt Rückführungen nur im Ausnahmefall zu. Und die Situation hat sich in den letzten Monaten weiter verschlechtert“, sagte der UNHCR-Vertreter in Deutschland, Dominik Bartsch.

Das UNHCR lehne Abschiebungen nach Afghanistan nicht grundsätzlich ab. Entscheidungsträger müssten sich jedoch im Klaren darüber sein, „in was für ein Land diese Menschen gebracht werden“, erklärte Bartsch mit Verweis auf häufige Terroranschläge und ständige Menschenrechtsverletzungen. (…)

„Die Taliban haben dramatisch wieder an Boden gewonnen“, sagte Bartsch dem UNHCR zufolge. Der Staat sei nicht in der Lage, vor „marodierenden Banden“ zu schützen. Auch die früher als Zufluchtsort angesehene Hauptstadt Kabul sei inzwischen hochgefährlich. „Die Stadt ist völlig überlastet und deutlich gefährlicher als früher. Eine Fluchtalternative ist sie nicht mehr“, sagte Bartsch.

Das UNHCR rät deswegen, jedes Asylgesuch genau zu prüfen, „weil nicht nur jede Region in Afghanistan anders ist, sondern sich auch Gefahren für jeden Menschen anders darstellen, je nach Alter, Geschlecht und Herkunft“. Manche Asylentscheidungen seien schon Jahre alt, und die Lage habe sich inzwischen geändert.

Inzwischen wurde auch bekannt, dass der jährlich erscheinende Global Peace Index des Institute for Economics and Peace Afghanistan für dieses Jahr als „am wenigsten friedliches Land der Welt“ eingestuft hat.

Abweichend von meinem unten stehenden Text leitete ich mit einem Hinweis auf die Erklärung des niedersächsischen Innenministers Pistorius (SPD) ein, der in Namen der SPD-regierten Bundesländer kurz vor der IMK erklärt hatte, dass diese Länder einen Vorstoß zur Ausweitung der Abschiebungen nicht mittragen würden (mehr dazu hier). Ich fügte hinzu, dass aber die bereits bestehende Abschiebepraxis, die es den Bundesländern von seiten der Großen Koalition freistellt, ob sie sie auf die drei Gruppen der Straftäter, sogenannten Gefährder und Mitwirkungsverweigerer bei der Identitätsfeststellung (mehr dazu hier) beschränken oder auch darüber hinaus abschieben (wie v.a. Bayern und Sachsen) nicht der Sicherheitslage im weltweiten Kriegsland Nummer Eins entspricht und dass die Beibehaltung der derzeitigen Beschlusslage ein „politisches Damokles-Schwert über den Köpfen einer der größten schutzsuchenden Gruppen in Deutschland“ darstellt.

Zerstörung in Kabuls Neustadt nach dem Taleban-Terroranschlag am 27.1.18 – bei weitem keines der schllmmsten Bilder. Foto: Abdullah Yadgare/Twitter.

 

In meinen Beitrag flossen auch Informationen von Friederike Stahlmann von der Uni Halle, regelmäßig Sachverständige in deutschen Asylverfahren zur Situation der aus Deutschland abgeschobenen Afghanen sowie allgemein zur medizinischen Versorgung in Afghanistan (die für Abgeschobene gewährleistet sein muss) ein.

Zur Klarstellung: Ich habe an dem Runden Tisch in meinem eigenen Namen teilgenommen und gesprochen, nicht „für“ AAN – habe aber natürlich meine Tätigkeit bei AAN sozusagen als Selbstidentifikation angegeben.

Mein Beitrag in voller Länge findet sich mit zahlreichen anderen Beiträgen zu asylpolitischen Themen in einem Reader, den der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein zusammengestellt hat und der hier im PDF-Format zu finden ist. Er findet sich auch im Ganzen unter dem folgenden Pressetext des Flüchtlingsrats Niedersachsen, der Hauptaussagen am Runden Tisch zusammenfasst.

ie bei dem Anschlag zerstörte Haltestelle in Kabul. Foto: Twitter (Quelle unbekannt)

Bei einem Anschlag in Kabul im April 2016 zerstörte Bus-Haltestelle, wo viele Zivilisten umkamen. Foto: Twitter (Quelle unbekannt)

 

Runder Tisch am Rande der Innenministerkonferenz (IMK) in Kiel:

Nichtregierungsorganisationen treffen sich mit IMK-Vertretern, appellieren an den Widerstand der Bundesländer gegen das vom Bundestag verabschiedete Migrationspaket und fordern Abschiebungsstopps, u. a. für Afghanistan.

Bei einem Runden Tisch anlässlich der Innenministerkonferenz (IMK) in Kiel haben Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, Selbstorganisationen sowie Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen ihre Forderungen an die tagenden Innenminister aus Bund und Ländern gerichtet. Im Fokus stand der Appell an die Bundesländer, der Politik des Bundes gegen Schutzsuchende ihren Widerstand entgegenzustellen.

„Die vom Bund mit dem aktuellen Migrationspaket betriebene Verschärfung aller möglichen flüchtlingsspezifischen Rechtslagen geht vor allem zu Lasten der Länder, die langfristig mit den Folgen von Ausgrenzung und Desintegration konfrontiert sein werden“, mahnte Günter Burkhardt, Geschäftsführer bei PRO ASYL e.V. Er forderte die Bundesländer zum Widerstand auf gegen das vom Bund euphemistisch „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ bezeichnete Gesetz und erinnerte an die Zustimmungsbedürftigkeit durch den Bundesrat zu den vorgenommenen weitgehenden Gesetzesänderungen. „Die mit diesem Gesetz einhergehende Ausweitung von Gründen, Geflüchtete in Haft zu nehmen, ist rechtswidrig und stößt daher auch beim Antifolterkomitee des Europarats auf erhebliche Kritik“, so Burkhardt weiter.

Auch die Vollzugspraxis bei Abschiebungen stand in der Kritik. „In der Praxis beobachten wir, dass ärztliche Atteste von den für Aufenthaltsbeendigungen zuständigen Behörden ignoriert werden“, beklagte Heiko Habbe, Jurist bei der Kirchlichen Hilfsstelle Fluchtpunkt in Hamburg. „Ohne erkennbare medizinische Expertise wischen Behördenmitarbeiter regelmäßig Diagnosen und Therapiebedarfe vom Tisch. In anderen Fällen werden die Betroffenen durch Ärzte und Ärztinnen im Behördenauftrag reisetauglich geschrieben. Eine zunehmend kritische Rechtsprechung hat kaum Einfluss auf das restriktive Verwaltungshandeln“, sagte Habbe und forderte generell eine höhere Sensibilität bei der Entscheidung über die Abschiebung kranker Menschen.

Die Strategie des Bundesinnenministeriums, Geflüchtete künftig langfristig und bei einigen Gruppen während des gesamten Aufenthalts in Deutschland in Lagern zu isolieren, stößt auf entschiedene Kritik. Mit Blick auf die Erfahrungen mit der in Bayern schon lange angewandten Praxis erklärte Katharina Grote vom Bayerischen Flüchtlingsrat: „Die Asylsuchenden werden uninformiert und unvorbereitet in die komplexen und für sie kaum durchschaubaren Asylverfahren getrieben.“ Folge seien Fehlentscheidungen durch das BAMF, die zahlreiche aufwändige Klageverfahren nach sich zögen. „Durch die Isolation der Menschen in verkehrsungünstig gelegenen, für Unterstützer*innen in der Regel nicht zugänglichen Lagern werden zudem rassistische Vorurteile in der Gesellschaft befördert“, ergänzte Grote.

„Ein besonderes Problem sind noch immer fehlende Partizipation und Gewaltschutz für Frauen und Minderjährige in Gemeinschaftsunterkünften“, konstatierte Katharina Wulf vom Landesverband Frauenberatung Schleswig-Holstein. „Wenn wir weiterhin auf Fremdbestimmung setzen, anstatt Machtverhältnisse abzubauen, produzieren wir Konfliktlagen, die Frauen und Kinder am härtesten treffen.“

Durch das am 7. Juni im Bundestag beschlossene Gesetzespaket werden auch die Chancen auf eine nachhaltige Integration für Geflüchtete weitgehend konterkariert. „Im sogenannten ,Geordnete-Rückkehr-Gesetz‘ werden die Arbeitsverbote insbesondere für Asylsuchende durch eine längere Wohnpflicht in Erstaufnahmeeinrichtungen erheblich ausgeweitet“, kritisierte Barbara Weiser, Juristin beim Caritasverband für die Diözese Osnabrück. Weiser forderte die Länder auf, u. a. bestehende Spielräume bei der Verteilung zu nutzen und bei der Passbeschaffung die Möglichkeit und Zumutbarkeit von Mitwirkungshandlungen adäquat zu prüfen. Mit Blick auf das neue Beschäftigungsduldungsgesetz kritisierte Weiser: „Hiermit wurde keine Aufenthaltserlaubnis bei Ausbildungsaufnahme geschaffen – was systemkonform gewesen wäre, sondern die Hürden für den Erhalt einer Ausbildungsduldung wurden deutlich erhöht.“

Ihren größeren Ermessensspielraum sollten die Länder auch bei der Umsetzung einer vom Bund geforderten restriktiven Abschiebungspolitik nutzen. Die Bundesländer sind aufgefordert, sich der vom Bund geforderten Ausweitung von Abschiebungen nach Afghanistan zu widersetzen. „Sichere Gebiete in Afghanistan gibt es nicht“, erklärte Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network. Nirgends gibt es mehr Kriegstote, mehr Hungernde gibt es nur in Jemen und von den wenigen Abgeschobenen, die für eine Erhebung erreicht werden konnten, waren die meisten besonderer Verfolgung ausgesetzt. Anstatt geflüchtete Afghanen abzuschieben ist es „angesichts der Situation gerechtfertigt, afghanischen Asylbewerbern generell zumindest subsidiären Schutz zu gewähren“, erklärte Ruttig.

Auch für die Staaten Syrien, Sudan und Gambia forderten die Vertreter_innen der Nichtregierungsorganisationen beim heutigen Runden Tisch, auf Abschiebungen zu verzichten. „Auch Rücküberstellungen von sogenannten Dublin-Fällen nach Italien sind nicht weiter zumutbar“, erklärte Stefan Schmidt, Vorstandsmitglied bei Borderline Europe e.V. und Landesflüchtlingsbeauftragter in Schleswig-Holstein: „In Italien erhalten Geflüchtete weder eine Arbeitserlaubnis noch soziale oder medizinische Versorgung. Sie sind entweder in großen Lagern interniert oder der Obdachlosigkeit anheimgestellt. Dort werden sie zum lukrativen Spielball von organisierter Kriminalität.“ Weiterwanderung in andere EU-Mitgliedsstaaten gerate so zu einer alternativlosen Überlebensstrategie der Betroffenen.

Hinsichtlich der Kriminalisierung zivilgesellschaftlicher Organisationen der Flüchtlingshilfe wurde beim Runden Tisch festgestellt: Die Stimmungsmache korrespondiert mit zunehmenden Ermittlungsverfahren gegen Kirchenasyl gebende Gemeinden, mit einer Kriminalisierung von Landesflüchtlingsräten und einem Bundesfinanzgerichtshofsurteil, das die politische Tätigkeit von gemeinnützigen Vereinen in Frage stellt. „Es belegt eine tiefgreifende Krise des demokratischen Systems, wenn die politische Klasse konzertiert Front macht gegen zivile und bürgerschaftliche, in der Flüchtlingshilfe engagierte Initiativen und Organisationen“, mahnte Kai Weber, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Niedersachsen.

Kontakt:

Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.
Kai Weber, Tel. 0178 17 32 56 9, E-Mail: kw@nds-fluerat.org,
nds@nds-fluerat.org,

Hintergrund:

Am Runden Tisch haben am 11. Juni im Gästehaus der Landesregierung Schleswig-Holstein auf Seiten der Innenministerien teilgenommen der Vorsitzende der IMK und Minister für Inneres, ländliche Räume und Integration (MILISH), Hans-Joachim Grote, Staatssekretär Torsten Geerdts und Abteilungsleiter Norbert Scharbach, beide MILISH, und der Abteilungsleiter und stellvertretende Staatssekretär im Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport Friedhelm Meier. Auf Seiten der zivilgesellschaftlichen Organisationen nahmen teil Martin Link und Simone Ludewig, Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e. V., Kiel, Bischof Gothart Magaard, Evgl.-Luth. Bischof für Schleswig und Holstein, Schleswig, Günter Burkhardt, PRO ASYL e. V., Frankfurt/a. M., Sebastian Ludwig, Diakonie Deutschland, Berlin, Thomas Ruttig, Co-Vorsitzender des Afghanistan Analysts Network, Kabul/Berlin, Stefan Schmidt, Vorsitzender von Borderline Europe e. V., Lübeck, Julian Staiger, Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, Stuttgart, Daniel Steinmaier, adopt a revolution, Leipzig, Tobias Klaus, Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Berlin, Susanne Uhl, Regionsgeschäftsführerin des DGB Schleswig-Holstein Nordwest, Flensburg, Katharina Vogt, AWO Bundesverband, Berlin, Kai Weber, Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V., Hannover, Barbara Weiser, Caritasverband für die Diözese Osnabrück, Katharina Wulf, Landesverband Frauenberatung Schleswig-Holstein, Kiel, Katharina Grote, Bayerischer Flüchtlingsrat e.V., München, Heiko Habbe, Kirchliche Hilfsstelle fluchtpunkt, Hamburg, Beate Bäumer, Katholisches Büro Schleswig-Holstein, Erzbistum Hamburg, Dietlind Jochims, BAG Asyl in der Kirche, Berlin, Harald Löhlein, Paritätischer Wohlfahrtsverband Gesamtverband, Berlin.

Heute morgen protestierten mehrere hundert Kabulis im Schahr-e Nau-Park gegen die Anschlagsserie. Foto: Pajhwok.

Protest gegen Anschlagsserie im Kabuler Schahr-e Nau-Park im August 2015. Foto: Pajhwok.

 

Hier mein Reader-Beitrag in voller Länge (die Seitenumbrüche sind hier mit angegeben, zum evtl. Zitieren):

Lageentwicklung Afghanistan (1)

Thomas Ruttig, Ko-Direktor Afghanistan Analysts Network e.V.

„No one denies that security is getting worse. (…) Every Afghan I met told me that security is

declining.“

Ronald E. Neumann, US-Botschafter in Kabul (2005-07), 5.12.2018

 

a) politische und Sicherheitslage

Afghanistan ist seit 2018 mit über 41.000 Kriegsopfern – 30 Prozent aller Kriegsopfer – welt- weit wieder der intensivste Krieg. Er hält in unterschiedlichen Konstellationen seit 1979 an. Neben afghanischen Akteuren sind z. Zt. Truppen aus 39 Ländern dort stationiert; der für Ende 2014 geplante Abzug konnte nicht umgesetzt werden.

Der Afghanistan-Einsatz ist zudem das kostenintensivste Engagement der Weltgemeinschaft seit dem 2. Weltkrieg – mit Gesamtkosten von etwa 1000 Mrd. US-Dollar seit 2001. Doch damit wurde keine Stabilisierung erreicht, nur die Kabuler Zentralregierung mühsam vor dem Sturz bewahrt.

[Abweichend vom gedruckten Text fügte ich auch folgenden Absatz in meine Präsentation ein:

Der Wiederaufbau in Afghanistan war nur insulär erfolgreich und laut Bundesregierung oft nicht nachhaltig. 54% der Bevölkerung (so viele wie kurz nach dem Sturz der Taleban) leben wieder unter der Armutsgrenze. Afghanistan kann also auch seine Rückkehrer nicht versorgen, und hat vor allem mit jährlich sechs- manchmal siebenstelligen Rückkehrerzahlen (z.T. zwangsweise, z.T. „freiwillig“) aus Iran und Pakistan zu kämpfen.]

Die Intensität des Konflikts – gemessen an fünf Faktoren (Zahlen sicherheitsrelevanter Vor- fälle, Zivilopfer, Verluste der Regierungstruppen, Binnenvertriebene, Taleban-Gebietskon- trolle) – hat sich seit 2001 und noch einmal seit dem Ende der ISAF-Mission 2014 bei nur leichten Schwankungen stetig gesteigert. Seit 2014 wurde bei vielen Werten ein Plateau (Re- kordwerte ohne weitere Steigerung) erreicht. Ausnahme ist die Zahl der Neuvertriebenen, die 2016 am höchsten war – allerdings steigt die Zahl der dauerhaft Vertriebenen. 2018 gab es über 1 Mio. neue registrierte kriegsbedingt Binnenvertriebene. Laut US-Militär verlor die Re- gierung von Januar 2016 bis Januar 2018 etwa 15% ihres Territoriums; seither ist dies statis- tisch gleichgeblieben, fluktuiert aber in bestimmten Gebieten.

Die UN spricht insgesamt von einem „erodierenden militärischen Patt“.

Speziell: Zivile und andere Kriegsopfer

Die Zahl ziviler Opfer erreichte 2018 – nach einem Sinken 2017 – einen neuen Höchststand seit Beginn der systematischen UN-Zählung. Im Durchschnitt werden täglich landesweit mehr als zehn Zivilisten getötet und fast 20 verletzt. Fast ein Viertel der getöteten Zivilisten waren Kinder. Die Zahl der Zivilopfer durch Luftschläge stieg um 61%, die durch Anschläge auf zivile Ziele um 48%.

Die Zahl der getöteten Angehörigen von Armee und Polizei lag nach letzten öffentlichen Zah- len 2016 etwa doppelt so hoch wie die der Zivilisten und hat seither Medien zufolge weiter deutlich zugenommen. (Verlustraten werden nicht mehr veröffentlich.) Präsident Ghani sagte beim Weltwirtschaftsforum Davos Anfang 2019, seit seiner Amtsübernahme im September 2014 seien 45.000 Soldaten und Polizisten getötet worden.

Eine verlässliche Zahl der getöteten Taleban liegt nicht vor. Die letzten afghanischen Regie- rungsangaben von 2017 sprechen von 13.600 getöteten Aufständischen; dies ist aber nicht überprüfbar und mit hoher Wahrscheinlichkeit sind viele dieser Personen keine Kämpfer oder hors de combat. (Gleichzeitig stieg auch offiziell der Anteil der Regierungs- und US-Truppen an den verursachten Zivilopfern stark an.)

Letzte Zahlen deuten an, dass die Taleban durch Taktikänderungen die Zahl der von ihnen verursachten Zivilopfer verringert haben (bei gleichzeitig weiterer Zunahme der Zahl an Kampfhandlungen/Sicherheitsvorfällen). Aber sie verursachen immer noch (1. Quartal 2019)

(1) Auf genaue Quellenangaben wird hier verzichtet. Sie können auf Wunsch aber nachgeliefert werden. Reader Runder Tisch zwischen IMK und Zivilgesellschaft Juni 2019

44

den höchsten Anteil der Zivilopfer (39%; IS: 15%; Regierungskräfte und US-Militär: 34%), neh- men also weiter zivile Opfer in Kauf. Der Islamische Staat verursacht, gemessen an seiner Stärke, eine überproportionale Zahl an Zivilopfern, v.a. in den Städten Kabul, Herat und Jala- labad. In den letzten Wochen nimmt die Zahl politischer Morde v.a. an Regierungsbeamten wieder zu: vom 21.3. (afghanisches Neujahr) bis 18.5.19 wurden 14 Fälle mit insgesamt 19 Toten gemeldet.

UNAMA bemängelt anhaltend, dass keine Kriegspartei angemessene Rücksicht auf Zivilisten nimmt. Im Januar warf die UNO der Regierung erneut weitverbreitete Folter an Gefangenen aus dem Konfliktkontext vor.

Politisch sieht sich Afghanistan aufgrund verspäteter, unvollständiger, schlecht vorbereiteter und deshalb umstrittener Wahlen von einer zunehmenden Aushöhlung der demokratischen Institutionen und der Gewaltenteilung sowie einer Legitimitätskrise der Regierung gegenüber, die sich unter Präsident Ghani nochmals verschärft hat. Die verfassungsmäßige Amtszeit sei- ner Regierung lief am 22.5.19 ab und wurde durch einen ebenfalls umstrittenen Spruch des Obersten Gerichts bis zur Präsidentenwahl im September 2019 verlängert. Die Wahlen wer- den aufgrund der Sicherheitslage in weiten Teilen des Landes nicht stattfinden können und deshalb weder allgemein noch repräsentativ sein und die Legitimität des Präsidenten weiter untergraben. Da der Präsident nach Verschiebung der Provinz- und Distriktratsratswahlen und mit einem unvollständigen Parlament die einzige gewählte Entität bleiben wird, erhöht sich das Risiko autoritärer Machtausübung.

Gleichzeitig existieren aufgrund der Gespräche USA-Taleban Aussichten auf eine Beendigung des Krieges, jedenfalls seiner internationalisierten Komponente. Allerdings kann nicht erwartet werden, dass ein unterschriftsreifes Abkommen innerhalb von Monaten erreicht werden kann.

b) AA-Lagebericht

Der Asyllagebericht der Bundesregierung (bisher letzte Fassung 31.5.2018) zeichnet ein ge- schöntes Teilbild der Sicherheitslage in Afghanistan. Insbesondere nimmt er meist nur „stati- sche“ Einschätzungen vor, zeigt aber nicht die o. g. Trends auf. Im Vorgängerbericht 2016 wurde sogar noch eine „Verbesserung“ der Sicherheitslage konstatiert. Insgesamt werden re- gelmäßig von der Einschätzung der Bundesregierung abweichende Einschätzungen, etwa der UNO, ignoriert, d. h. wichtige Quellen nur selektiv wahrgenommen.

Die Behauptung, bestimmte Provinzen seien „vergleichsweise stabil“, wird weder durch Bei- spiele belegt noch wird klar, auf welchen Kriterien diese Einschätzung beruht. Nicht berück- sichtigt wird, dass Provinzen mit geringer Zahl an Sicherheitsvorfällen so isoliert und bevölke- rungsarm sind, dass sie Inseln in Feindesland darstellen und deshalb ebenfalls volatil sind. Zudem gibt es selbst dort Distrikte mit relativ hoher Kampfintensität und sogar Taleban-Kon- trolle. Ein Beispiel ist die Zunahme von Sicherheitsvorfällen in Daikundi.

Der Bericht weist zurecht auf den „beschränkten Einfluss“ der Zentralregierung auf örtliche Machthaber hin und dass deshalb die „Lebensbedingungen des Einzelnen“ von seiner „Stel- lung im örtlichen Machtgefüge“ abhängen, folgert aber nicht, dass das in quasi-staatliche Ver- folgung entlang lokaler ethno-politischer Konfliktlinien ausarten kann. Ähnliches gilt für im Staatsapparat wie in der breiteren Gesellschaft weit verbreitete strukturelle Vorurteile (gender- basiert gegen Frauen, LGBT* etc; ethnische Minderheiten; tendenziell gegen säkulare politi- sche Kräfte). Auch die Feststellung, dass „die afghanischen Gerichte … weitgehend unabhän- gig von offizieller staatlicher Einflussnahme“ seien, trifft die Realität nicht.

Schlussfolgerung

Aufgrund des Charakters des Afghanistan-Krieges (UN: „asymmmetrische und urbane Krieg- führung“, Guerillakampf meist ohne feste Fronten, Terroranschläge) ergibt sich eine Volatilität des Konflikts, durch die eine Bestimmung „sicherer Gebiete“ unmöglich ist. Es gibt nur mehr

Reader Runder Tisch zwischen IMK und Zivilgesellschaft Juni 2019 45

oder weniger unsichere Gebiete. Selbst die vergleichsweise „sichersten“ Provinzen – mit Aus- nahme der Miniprovinz Panjshir – verzeichnen sicherheitsrelevante Vorfälle im dreistelligen Bereich (letzte verfügbare EASO-Zahlen).

Selbst in relativ statischen Provinzen (oder Teilen davon) können Kämpfe bei geringen Ver- schiebungen immer wieder ausbrechen. Auch die Reichweite der Taleban-Schattenregierung macht den Begriff „sicherer Gebiete“ obsolet, da sie über Bedrohungen und Besteuerung auch in formal regierungskontrollierte Gebiete eingreift. Die UNHCR-Richtlinien bezeichnen deshalb z.B. Kabul ausdrücklich nicht als „inländische Fluchtalternative“.

Gewalt, die sich gesteigert oder spezifisch gegen Rückkehrer und ihre Unterstützer und Fami- lien richtet, droht nicht nur von Seiten der Taleban und durch Kriminalität, sondern auch aus dem sozialen Umfeld.

Opfer von Verelendung, Verhaftungen, tödlichen Übergriffen, und auch Suizid können in der Regel unter Abgeschobenen nicht dokumentiert werden, da in diesen Fällen der Kontakt ab- bricht. Ein aktuelles Monitoring zu den Erfahrungen aus Deutschland Abgeschobener belegt dennoch deren großes Risiko, Opfer von Gewalt zu werden: Die 25 Abgeschobenen, die be- kanntermaßen länger als 2 Monate im Land waren und zu denen Informationen vorliegen, haben von 37 Vorfällen direkter Gewalt gegen sie oder aufgrund ihrer Rückkehr gegen ihre Familien berichtet.

22 dieser 25 Abgeschobenen sind überwiegend in privat aus Deutschland bezahlten Verste- cken untergekommen. Für Betroffene ohne diesen Schutz durch private Unterstützung ist das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, signifikant erhöht.

Als Resultat der verschlechterten Sicherheitslage leben wieder 54 Prozent der Afghanen unter der Armutsgrenze (selber Stand wie 2003, zweites Jahr nach dem Sturz der Taleban). Die humanitäre Arbeit ist in vielen Landesteilen paralysiert. 16% der Familien verzichten aus Si- cherheitsgründen auf den Besuch medizinischer Einrichtungen.

Angesichts dieser Situation ist es gerechtfertigt, afghanischen Asylbewerbern generell zumin- dest subsidiären Schutz zu gewähren.

Untersuchungen belegen zudem, dass AfghanInnen in der Regel besonders integrationswil- lig sind und überdurchschnittlich in Beschäftigung kommen – weitere innenpolitische Argu- mente für solch eine Regelung.

Afghanische Rückkehrer an der Grenze zu Iran. Foto: ToloNews

Afghanische Rückkehrer aus Pakistan. Foto: Pajhwok.

"Freiwillige" afghanische Rückkehrer bei der Ankunft auf dem Flughafen Kabul. Quelle: @GermanyInAFG.

„Freiwillige“ afghanische Rückkehrer aus Deutschland bei der Ankunft auf dem Flughafen Kabul in Februar 2016 – wohl ein Testflug für die im Dezember 2016 wieder aufgenommenen Sanmmelabschiebeflüge per Charter. Quelle: @GermanyInAFG.