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In den letzten Tagen erhielt ich zwei Anfragen von deutschen Medien (Süddeutsche Zeitung und dpa), warum es im afghanischen Friedensprozess so langsam voran geht und wie die jüngste Erklärung von Taleban-Chef Hebatullah Achunsada aus Anlass des islamischen Opferfestes Id al-Azha (Beginn am Freitag) einzuschätzen sei. Da jeweils nur Teile meiner Antworten verwendet wurden, hier meine vollständigen Antworten.

Zunächst die beiden Email-Kurzinterviews in einem Stück:

Von der Regierung freigelassene Taleban. Foto: Tolonews.

 

Warum ist seit Ende Februar kein erkennbarer Fortschritt im Friedensprozess erkennbar? 

Es gibt zwei Hauptgründe: erstens haben unklare Formulierungen im US-Taleban-Abkommen von Ende Februar 2020 (ausführlicher bei AAN) über den als vertrauensbildende Maßnahme gedachten Gefangenenaustausch zwischen Regierung und Taleban für Verzögerungen gesorgt. Es war festgelegt worden, dass die afghanische Regierung „bis zu 5000“ gefangene Taleban freilassen muss, was die Taleban maximalistisch interpretierten – nämlich als genau 5000. Die USA erhoben keinen Einspruch. Zumal fehlt generell Vertrauen, da Kabul nicht Teil der US-Taleban-Abmachungen war. Zweitens verzögert die Regierung in Kabul den Gesprächsbeginn, wohl in der Hoffnung, ein Wahlsieg Joe Bidens in den USA könnte die Gefahr eines drohenden US-Totalabzugs abwenden und neuen Verhandlungsspielraum bringen.

Wer sind die Akteure, die den Prozess sabotieren, und wer unter den Taleban ist aus Ihrer Sicht bereit für Gespräche mit der Regierung Ghani? 

Was Kabul betrifft, habe ich schon geantwortet. Dazu kommt, dass auch Zweifel bestehen müssen, ob die verschiedenen politischen Lager in Kabul in der Lage und überhaupt Willens sind, die Macht zu teilen. Sie streiten ja bereits wieder seit über zwei Monaten um die Verteilung der Kabinettssitze und anderer Einflussposten wie der Provinzgouverneure, nachdem solch ein Streit zwischen 2014 und 2019 schon die aus den gleichen Kräften (Ghani- und Abdullah-Lager) bestehende Vorgängerregierung weitgehend paralysierte.

Zu den Taleban: Ich sehe dort keine „Fraktionen“, also militärische Hardliner und moderate Verhandler, sondern nur Interessenpolitik: den Taleban wäre es wohl lieber, die Regierung in Kabul desintegriere im Falle eines US-Abzugs vor einer Verhandlungslösung, so dass ihnen die Macht in die Hände fiele. Verhandlungen sind ein – aus ihrer Sicht auch realistischer – Plan B.

Welche zentralen Hindernisse sehen sie für die Gespräche?

Wie das Gezerre um den Gefangenenaustausch bereits zeigt, liegt der Teufel jeweils im Detail. Und bei – noch nicht begonnenen – Verhandlungen zwischen Regierung und Taleban müssen sehr viele Details ausgearbeitet und vereinbart werden, etwa zum künftigen politischen System des Landes. Verhandlungen können also sehr langwierig werden, immer wieder stocken – und wenn Trump im Amt bleibt, seine Geduld mit dem Verhandlungsprozess schnell enden und zu einem zu schnellen  Abzug führen.

Aus meiner Sicht wird viel Energie darauf verwendet, die Gespräche überhaupt in Gang zu bringen, aber gibt es auch inhaltliche Vorbereitungen? Konkreter: Wie könnte Afghanistan mit einer Taleban-Machtbeteiligung aussehen – z.B. ein iranisches Modell, mit den Taleban als oberste Hüter des Islam? Taleban-Minister im Kabinett Ghani?

Beide Seiten haben sich bisher nur sehr generell dazu geäußert. Die Regierung beharrt auf dem gegenwärtigen „republikanischen System“ – die Republik ist nominell eine islamische, und kein Gesetz darf islamischen Prinzipien widersprechen. Die Taleban sprechen von einer „rein islamischen“ Regierung, die formal ja schon besteht. Der Punkt ist aber: die Taleban betrachten die Kabuler Regierung als US-Marionette [was sie, trotz der erheblichen ökonomischen und militärischen Abhängigkeit, politisch nicht ist; sie nutzt immer wieder Spielräume, US-Interessen nicht zu folgen, wenn es ihren eigenen nicht entspricht – zum Beispiel bei der Durchsetzung der Präsidentenwahl 2019, die die USA verhindern wollten, um den Weg für eine Interimsregierung mit den Taleban zu öffnen] und damit als illegitim. Es geht also gar nicht um Religion, sondern um die politische Dominanz, darum, wer definiert, was islamisch ist.

Die Gewalt in Afghanistan und die diplomatischen Worte der Taleban-Führung klaffen ja weit auseinander. Wie ist in diesem Zusammenhang Taleban-Chef Achunsadas jüngste Erklärung zu erklären?

Die Taleban befinden sich vor allem wegen der Ungeduld Trumps, die US-Truppen abzuziehen, eventuell auch bevor es eine politische Lösung gibt, in einer komfortablen Situation. Der Zeitfaktor wirkt zu ihren Gunsten. Formal verletzen sie mit ihren Operationen und Anschlägen das Abkommen mit den USA nicht, denn sie haben sich nur verpflichtet, die ausländischen Truppen nicht anzugreifen und keine Anschläge in urbanen Zentren (auch eine unklare Definition) durchzuführen. Ein Abkommen mit der Kabuler Regierung gibt es ja noch nicht.

Beide afghanische Kriegsparteien – Taleban und Regierung – beanspruchen , die afghanische Bevölkerung zu vertreten. Die UNO hat deshalb in ihrem neuesten Zivilopferbericht beide nicht ohne Grund aufgefordert, Zivilisten zu schonen. Auch auf Regierungsseite hat sich eine Einstellung breit gemacht, dass man in Taleban-kontrollierten Gebieten lebende Menschen nicht schonen muss. Das schlägt ihrem Anspruch ins Gesicht, demokratisch legitimiert zu sein.

Die jeweiligen veröffentlichten Artikel finden sich hier und hier.

alle Grafiken: UNAMA.

 

Möglicherweise gibt es jetzt aber doch wieder Bewegung. In Kabul erklärte Präsident Aschraf Ghani am 28.7., dass seine Regierung jetzt doch die restlichen gefangenen Taleban freilassen will, um die 5000 Freilassungen abzuschließen. Die Taleban hatten eine Namensliste übergeben.

Dann kündigten Regierung wie Taleban zum bevorstehenden Id al-Azha, den islamischen Opferfest, jeweils dreitägige Waffenruhen an. Das wird als Zeichen gewertet, dass die ursprünglich schon für Anfang März geplanten Friedensgespräche zwischen Regierung und Taleban, für die der Gefangenenaustausch eine Voraussetzung bilden sollte, doch bald beginnen könnten. Präsident Aschraf Ghani sagte, das könne bereits in den nächsten Woche der Fall sein.

Mitte Juli hatte die US-Regierung bekannt gegeben, dass sie ihre Verpflichtung aus dem Doha-Abkommen im Februar des Jahres erfüllt habe, nämlich ihre Truppen in Afghanistan auf 8600 zu reduzieren. In den letzten Tagen befand sich der US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad wieder auf Reisen in der Region und darüber hinaus.

Besonders der Gefangenenaustausch hatte sich als schwierig erwiesen, wie gesagt ein Vorbote, wie schwierig sich die künftigen Verhandlungen gestalten könnten. Unter den 5000 von den Taleban per Liste übergebenen Namen waren 597 Personen, die entweder wegen Verbrechen wie Mord oder Anschlägen auf ausländische Soldaten und Einrichtungen (darunter auch auf die deutsche Botschaft in Kabul im Mai 2017) verurteilt worden waren. Dazu gehören einige sehr hochrangige Taleban, etwa Anas Haqqani, Bruder des Chefs des Haqqani-Netzwerkes Seradschuddin Haqqani, der als Finanzier des Netzwerks wegen Terrorismus-Unterstützung in Kabul zum Tode verurteil worden war. Deren mögliche Freilassung war in Teilen der afghanischen Öffentlichkeit auf starke Ablehnung gestoßen. Kabul war in seiner bis zuletzt ablehnenden Haltung auch von mehreren europäischen Regierungen unterstützt worden, darunter wohl auch der deutschen.

Im Falle des Botschaftsanschlages hatte zuvor der Generalbundesanwalt die Ermittlungen eingestellt, nachdem offenbar die afghanischen Behörden nicht kooperierten. Dies könnte daran gelegen haben, dass der angeblich in Haft befindliche Organisator des Anschlags auf der Freilassungsliste der Taleban stand.

Weiteren Streit hatte es auch um die bereits freigelassenen Taleban gegeben. Die Kabuler Regierung hatte verlangt (und es sich offenbar auch von den Freigelassenen schriftlich zusichern lassen), dass diese sich nicht wieder in den Kampf zurückkehrten. Sie sagte, dies sei in mehreren Fällen aber so gewesen, was die Taleban dementierten. Zuletzt hatte es eine heftige Debatte um einen (oder sogar zwei) Luftangriff der Regierungskräfte in den Provinz Herat gegeben, bei denen nach Angaben aus der örtlichen Bevölkerung mehrere Zivilisten ums Leben gekommen waren. Die Regierung behauptete, es habe sich um ein Treffen von Taleban-Kommandeuren gehandelt, die neue Angriffe planten; die Taleban sagten, die Kommandeure hätten die Begrüßungszeremonie für einen der von Kabul Freigelassenen besucht (ein Medienbericht hier).

Auch in Kabul selbst gibt weiterhin Hindernisse für die Gespräche. Noch immer ist die Zusammensetzung des Verhandlungsteams – selbst Anlass für Verhandlungen zwischen den innenpolitischen Rivalen und Partners Ghani und Abdullah – nicht offiziell bekannt. Zudem sichert ihre Koalitionsvereinbarung vom Mai diesen Jahres Abdullah die Oberaufsicht über alle mit dem Friedensprozess verbundenen Angelegenheiten zu. Nur gibt es Streit über die Besetzung des Ministeriums für Friedensangelegenheiten; Ghani hat den Kandidaten Abdullahs dafür (dessen Schwiegersohn Mustafa Mastur) abgelehnt, während das Ministerium unter dem Ghani-Mann Abdul Salam Rahimi weiter agiert, offenbar ohne immer Abdullah auf dem laufenden zu halten. Zum zweiten dürfte Abdullah nach einer de-facto-Spaltung seiner Partei Dschamiat-e Islami Schwierigkeiten haben, bei seinem Anteil an den Ernennungen für die Delegation, das Ministerium und den geplanten neuen Obersten Rat für Nationale Versöhnung das innerparteiliche Fraktionsgleichgewicht zu beachten. Innenpolitische Machtambitionen und –kämpfe stehen also nach wie vor Friedensgesprächen entgegen.

Wo die Gespräch Kabul-Taleban stattfinden werden, wurde bisher noch nicht offiziell bekannt. Eine erste Runde (oder erste Runden) könnten in Katar stattfinden (das schien eine Forderung Kabuls zu sein), und danach in Norwegen fortgesetzt werden. Dafür sprechen jüngste Kontakte Khalilzads mit der norwegischen Außenministerin Ine Marie Eriksen Søreide sowie sein Besuch in Katar.