Schlagwörter
Doha, Friedensgespräche, Gefangenenaustausch, Kabul, Kriegsverbrechen, Straflosigkeit, Taleban, Truppenabzug
Das folgende ist eine stark erweiterte Fassung eines Artikels von mir, der am 17.8.2020 im Neuen Deutschland erschien – damals noch in der Annahme, dass der Beginn sogenannter innerafghanischer Verhandlungen zwischen Regierung und Taleban über eine Beendigung des Krieges unmittelbar bevorstehe. Tatsächlich waren sie zunächst für den 10., dann den 16. August terminiert.

Tee trinken und miteinander reden. (Das Menü in Qatar war sicher reichhaltiger.) Foto: Thomas Ruttig.
Dann gab es – wie schon Anfang August – Probleme mit dem Gefangenenaustausch. Zwar hatte sich Präsident Aschraf Ghani dafür politische Rückendeckung durch eine Loja Dschirga geholt und per Dekret die Freilassung einer letzten Tranche von 400 gefangenen Taleban angeordnet. Aber dann (warum so spät?) fiel der Regierung auf, dass die Taleban noch 22 Kommandosoldaten und Piloten der Regierung festhielten. Ghani stoppte die Freilassung der letzten 400 – nachdem aber 80 von ihnen schon entlassen worden waren.
Die Regierung in Kabul hatte mit diesem Gefangenenaustausch von Anfang an Probleme. Er war Ende Februar 2020 ohne ihre Beteiligung zwischen den USA und den Taleban im Abkommen von Doha vereinbart worden; Kabul sei – wie jedenfalls die US-Regierung behauptet – dazu „konsultiert“ worden. Ghani wollte die 5000 Taleban-Gefangenen als Faustfand für die Verhandlungen behalten, aber Druck der USA brachte ihn dann zunächst zum Einlenken.
Zudem hieß es in dem Abkommen, dass die Regierung „bis zu 5000“ Gefangenen freilassen sollte. Daraus machten die Taleban, ohne Widerspruch der Amerikaner zu ernten, „5000 und keiner weniger“ machten. Was wiederum Kabul erzürnte – und wieder auf die Bremse treten ließ.
Wann sie nun beginnen können, ist nach wie vor offen, obwohl es weiterhin Druck der USA gibt, dass das noch vor Ende August geschehen soll. Die US-Regierung benötigt Fortschritte im afghanischen Friedensprozess, um ihre Truppen aus dem Land abziehen zu können, ohne einen Zusammenbruch zu provozieren. Genau damit wurde offenbar vor der Loja Dschirga gedroht, wie ein hoher Regierungsbeamter in Kabul sagte. Afghanistan ist ohne auswärtige Finanzhilfe nicht überlebensfähig, und das meiste davon kommt bisher aus Washington. Präsident Ghani erinnert sich genau daran, wie der Stopp der russischen Finanz- und Wirtschaftshilfe unter Boris Jelzin 1992 zum Fall und Tod seines Vorgängers Nadschibullah führte.
Aber ein Gesprächsbeginn noch in diesem Monat ist wohl eher unwahrscheinlich. Denn es gibt weitere Gründe für Ghani, den Beginn der Friedensgespräche weiter zu verzögern: In Kabul hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Taleban bei den in Katar geplanten Gesprächen die Einsetzung einer Interimsregierung fordern werden und Ghanis Koalitionspartner Dr. Abdullah (zu den Querelen um die immer noch ausstehende Kabinettsbildung siehe hier) sowie der umtriebige Expräsident Hamed Karzai dies unterstützen. Dann wäre Ghani weg vom Fenster.
Der lange Weg zu Verhandlungen
Anfang Dezember 2001, weniger als zwei Monate nach Beginn der von den 9/11-Anschlägen ausgelösten US-geführten Intervention in Afghanistan, bot fast die gesamte Taleban-Führung – ohne den untergetauchten Mullah Omar – dem gerade auf der Bonner Afghanistan-Konferenz zum Interimsstaatschef bestimmten Hamed Karzai die Kapitulation an und erklärten die Taleban-Bewegung für aufgelöst. Im Gegenzug verlangten sie eine Amnestie und Sicherheitsgarantien für Omar.
Das Triumvirat Rumsfeld-Cheney-Bush lehnte ab. Mit Terroristen werde nicht verhandelt. Nach den Anschlägen des 11. September, verübt von einer Gruppe, die im Afghanistan der Taleban Asyl genossen hatte (die aber auch brüderlich gebeten worden waren, von politischer Aktivität Abstand zu nehmen), war das zwar verständlich. Aber es war politisch überaus kurzsichtig. Die Chance, die geschwächten Taleban in ein künftiges Afghanistan einzubinden, blieb ungenutzt. Die fortgesetzte Gleichsetzung der Taleban – die an den Anschlägen nicht beteiligt waren – mit al-Qaeda und die massive Verfolgung beider, vor allem mit Luftschlägen, die oft Zivilisten trafen und ganze Dorfgemeinschaften wieder den Taleban in die Arme trieben, war der Beginn deren Wiederaufstiegs.
Als es Washington unter Obama langsam dämmerte, dass es diesen Krieg nicht gewinnen kann, wurden Fühler ausgestreckt. Die Bundesregierung spielte dabei die Rolle des Anbahners. 2010 flog ein Jet des Bundesnachrichtendienstes Tajeb Agha, einen engen Mullah-Omar-Vertrauten, nach Pullach bei München und übergaben den Kontakt später an die USA. Das brachte sie, zum Zorn Kabuls, als gleichberechtigten Verhandlungspartner an einen Tisch mit Washington und nun nach Doha.
Diese ersten Kontakte führten 2013 zur Eröffnung eines Taleban-Verbindungsbüros in Doha und 2014 zu einem ersten Gefangenenaustausch. Die Taleban gaben einen US-Soldaten frei, der sich zu weit weg von seiner Einheit gewagt hatte und ihnen in die Hände gefallen war, ein bis heute einmaliger Fall. Dafür entließen die USA fünf zum Teil höchstrangige Taleban aus Guantanamo in den Hausarrest nach Katar.
Zwischenzeitlich schoss die damalige Karzai-Regierung (bis 2014) noch einmal quer. Die Taleban hatten staatliche Insignien an ihr Doha-Büro angebracht, firmierten dort unter dem Namen „Islamisches Emirat Afghanistan“. Karzai argwöhnte, die USA hätten dem zugestimmt und damit die Taleban indirekt als konkurrierende Regierung anerkannt. Das Büro musste nach einer Demarche Kabuls schnell wieder schließen, arbeitete aber trotzdem weiter. Ab Oktober 2018 diente es US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad, selbst afghanischer Herkunft (später bei der Rand-Stiftung und Teil der Neoliberalen, die zeitweilig die US-Afghanistanpolitik kontrollierten) als Anlaufpunkt für die Wiederaufnahme von Direktgesprächen ohne Beteiligung der Kabuler Regierung. Ziel war es, den Krieg durch Verhandlungen zu lösen und die US-Truppen aus dem Land abzuziehen. Das hatte bereits Obama versprochen; Trump will es nun einlösen.
Diesen Februar unterzeichneten Khalilzad und Baradar in Doha ein Abkommen, in dem sie USA den Abzug ihrer Truppen binnen 14 Monaten zusagten, also bis Ende Juni 2021, unter der Bedingung, dass die Taleban ihre Zusagen aus dem Doha-Abkommen erfüllen: sich von al-Qaeda distanzieren, Direktgespräche mit Kabul aufnehmen und es dabei zu „deutlichen Fortschritten“ kommt.
Das Doha-Format
Von einer offiziellen Agenda für die Doha-Gespräche ist bisher nichts bekannt. Mitglieder der 21-köpfigen Verhandlungsdelegation Kabuls unterstrichen aber in der vorletzten Woche, dass „eine Waffenruhe und ein Ende des Krieges“ zu ihren „ersten Forderungen“ gehören werden. Das könnte schon zu weiterem Zwist führen, denn die Taleban sehen zumindest einen dauerhaften Waffenstillstand erst als Ergebnis des Verhandlungsprozesses.
Leiter der Kabuler Delegation ist der 62-jährige Ex-Geheimdienstchef Massum Stanakzai, der seit einem Attentat der Taleban am Stock geht. (Die weiteren Mitglieder finden sich in diesem AAN-Text.) Was die Taleban-Seite angeht, kursieren mehrere Listen, aber keine davon ist offiziell bestätigt (siehe z.B. hier). Darauf finden sich die Namen ihres Ex-Informationsministers Amir Khan Mutaqi (der bereits 2000/01 Ansprechpartner bei einem UN-Vermittlungsversuch war) sowie Abdul Latif Mansur, früherer Chef ihrer Politischen Kommission, die als Quasi-Außenministerium fungiert. Auch Familienmitglied des verstorbenen Talebangründers Mulla Omar und des Haqqani-Netzwerks stehe auf der Liste, dazu die fünf aus Guantanamo und nach Katar überstellten Talebanführer, die heute zur Kerngruppe der Politischen Kommission der Taleban gehören.
Dass Mullah Baradar, der eigentlich Mullah Abdul Ghani heißt und der für politische Fragen zuständige Taleban-Vizechef ist, dabei fehlt, zeigt, dass die Taleban-Verhandlungsgruppe, wie die der Kabuler Regierung, über keine umfassende Vollmacht verfügen werden. Das heißt, bei Kernentscheidungen müssen sich beide Delegationen grünes Licht von ihren jeweiligen Vorgesetzten holen. Das wird die Verhandlungen ebenfalls nicht gerade beschleunigen. Baradar war es auch, der diesen Februar nach 16-monatigen Verhandlungen mit US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad, selbst afghanischer Herkunft, das Doha-Abkommen unterzeichnete. An den Verhandlungen teilgenommen hatte er erst in der entscheidenden Schlussphase. Das könnte sich mit Kabul vielleicht wiederholen.
Für ihre Verhandlungen, die ebenfalls zunächst in Doha stattfinden sollen, bestanden beide Parteien darauf, dass nur Afghanen im Raum sitzen – im Gegensatz zu Vorgesprächen, dem sogenannten innerafghanischen Dialog, der von Katar und der deutschen Bundesregierung organisiert worden war. Man kann allerdings annehmen, dass die USA, die in Katar eine große Militärbasis unterhalten, dank ihrer elektronischen Fähigkeiten kein Detail der Diskussion verpassen werden.
Kabul und die Taleban wünschten auch weder eine Vermittlung noch Faszilitierung (eine weichere Variante) durch eine dritte Partei. Dafür wäre die UNO in Frage gekommen, die das auch angeboten hatte. Aber es ist bekannt, dass Ghani ein harter Kritiker der UN-Arbeit in seinem Land ist und ihr Mandat am liebsten stark beschneiden möchte (obwohl seine eigene Regierung von endemischer Korruption geplagt ist). Ähnliches gilt für die Taleban, die der UNO vorwerfen, in ihren Zivilopferberichten parteiisch zu ihren Ungunsten zu berichten.
Aussichten
Dass die Taleban sich nun zu Direktgesprächen bereitgefunden haben, ist ein Durchbruch. Ein anderer realistischer Ansatz, wie der seit 40 Jahren währende Krieg beendet werden kann, ist nicht in Sicht. Aber der Gesprächsansatz ist durchaus problematisch. Schon der Ausschluss der afghanischen Regierung von den US-Taleban-Verhandlungen war problematisch. Den USA ist es dabei nicht gelungen, die Blockadehaltung der Taleban zu überwinden, und haben sogar immer wieder Zugeständnisse gemacht, über den Kopf Ghanis hinweg, wie beim Gefangenenaustausch. (Viele Afghaninnen und Afghanen denken sogar, sie hätten es nie wirklich versucht, um schneller zu einem Ergebnis zu kommen.)
Afghaninnen und Afghanen sehen die Gespräche aber noch aus weiteren Gründen mit gemischten Gefühlen. Orzala Nemat, eine führende politische Analystin, kritisiert, dass die Entlassung der Gefangenen und ein Abkommen mit den Taleban die „Straflosigkeit“ für Kriegsverbrechen untermauere, die schon das Bonner Afghanistan-Abkommen von 2001 verankert habe. (Das afghanische Parlament beschloss 2008 ein „Amnestiegesetz“, AAN-Analyse hier.) Ein Friedensschluss ohne Gerechtigkeit reiche nicht hin.
Niemand kann voraussagen, ob die Verhandlungen in Doha überhaupt zu einem Abkommen führen werden. Klar ist, dass komplizierte Fragen zu klären sind und die Gespräche deshalb wohl dauern werden. Beide Seiten müssen etwa Afghanistans künftige Staatsordnung aushandeln. Dafür müssen politische Ideen zusammengeführt werden, die sich diametral gegenüber zu stehen scheinen: die derzeitige republikanische Staatsform und das rein scharia-orientierte Emirat der Taleban.
Aber es gibt durchaus Gemeinsamkeiten, und daraus könnten Gefahren erwachsen. Die bestehende Republik ist eine Islamische und verbindet das verfassungsmäßige Bekenntnis zu universellen Werten mit einem Scharia-Vorbehalt. Kein Gesetz darf den »islamischen Werten« widersprechen, ein Gummiparagraf, dessen Anwendung oder Nichtanwendung vom jeweiligen politischen Kräfteverhältnis abhängt. Ein Islamisches Emirat, dessen Wiederherstellung die Taleban anstreben, beruht vollständig auf der Scharia. Als Kompromiss in der Diskussion ist etwa eine „iranische Variante“, mit einem religiösen Rat, der den gewählten Institutionen wie dem Parlament übergeordnet wäre. Der könnte von den Taleban und ihren Ideen dominiert werden.
Einen Vorgeschmack darauf gab schon die Loja Dschirga (meine ausführliche Analyse bei AAN hier). Dort forderten die 3400 Delegierten, davon 700 Frauen (schon das ein Missverhältnis), die Rolle der islamischen Geistlichen zu stärken. Währenddessen versprachen sie den Frauen nur einen völlig undefinierten „politischen und sozialen Status“. Von der derzeitigen verfassungsmäßig verbrieften Gleichheit war keine Rede mehr. Bisher gab es keine öffentliche Reaktion afghanischer Frauen darauf. Sie betrachten offenbar die Talieban als die eigentliche Gefahr.
Der Krieg wird während der Gespräche wohl anhalten. Vielleicht können sich beide Seiten aber wenigstens schnell auf ein gegenseitiges Nichtangriffsversprechen einigen. Nemat sagte allerdings, sie befürchte, dass „selbst im besten Fall die Gewalt nicht enden werde.“
Wie weit ein Friedensabkommen Rechte und Freiheiten zurückdrängt, wird davon abhängen, wie stark die internationale Gemeinschaft sich für die demokratisch gesonnenen Afghanen und Afghaninnen und ihre derzeit noch verfassungsmäßig verbrieften Rechte einsetzt. Doch in Politik und Medien ist Afghanistan längst nur noch ein Randthema – trotz des seit 19 Jahren andauernden Krieges. „Wenn es zu einem Abkommen kommt, in dem Errungenschaften aufgegeben werden, wäre es nicht selbstverständlich, dass es einen internationalen Aufschrei gibt“, sagte Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour dem Autor. Er rechne eher mit einem „verschämten Wegschauen“.
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