Schlagwörter
AAN, Afghanistan, AIHRC, Covid19, Haftminen, Herat, Jahresbericht, Kandahar, Masar-e Scharif, Menschenrechtskommission, Mordanschläge, Nangrahar, Sammelabschiebung, Zivilopfer
Eine Woche vor der nächsten geplanten Sammelabschiebung nach Afghanistan und kurz nach der Einstufung des Landes als Covid19-Hochrisikogebiet geht in Kabul die Serie von Mordanschlägen weiter. Am heutigen Dienstag (2.2.2021) wurden bei mindestens vier Anschlägen drei Menschen getötet und sechs verletzt:
- Dr Muhammad Atef, der Chef einer islamistischen Gruppe getötet, die sowohl die Taleban als auch die alten Mudschahedin kritisierte und als „neo-ikhwani“ bezeichnet wurde (Ikhwan ul-Muslimin=Moslembruderschaft); ein begleiter soll ebenfalls getötet worden, sein, zwei weitere verletzt
- ein schiitischer Sammeltaxifahrer getötet, dem man einen Sprengsatz unter den Sitz gelegt hatte
- Harun Mangal, juristischer Berater des Unterhauses (Wolesi Dschirga) des Parlaments durch eine Haftmine verletzt, genauso wie zwei ihn begleitende Zivilpersonen, darunter ein Kind
- Zwei Polizisten der Drogenbekämpfungseinheit wurden ebenfalls durch eine Haftmine verletzt
(afghanische Medienbericht hier und hier).

Nach Zählung meiner AAN-Kollegen in Kabul gab es in der vergangenen Woche 9 gezielte Anschläge mit Haft-/Magnetminen (MIED) oder anderen Sprengkörpern. Dabei vier Polizisten und Soldaten sowie ein Zivilist getötet sowie 10 Zivilisten und 6 Polizisten und Soldaten verletzt. In der Woche davor gab es sieben solcher Anschläge, mit insgesamt 3 Toten und 5 Verletzten, darunter Zivilisten und Angehörige der bewaffneten Kräfte der Regierung.
Laut der Zahlen einer in Kabul ansässigen internationalen Sicherheitsorganisation explodierten 2020 in Kabul-Stadt 138 MIED oder andere Sprengkörper, die den Aufständischen (Taleban oder IS) angerechnet werden. Das ist eine Zunahme von 72% gegenüber 2019. Außerdem gab es drei solcher Anschläge, die kriminellen Banden angerechnet wurden. 74 solche Sprengkörper wurden entschärft. Damit beträgt die Summe solcher ausgeführten und versuchten Anschläge 215, also fast 20 pro Monat. Über das Jahr gab es eine fast kontinuierliche Steigerung von unter 5 solcher Anschläge im Januar bis über 35 im Dezember.
2021 gab es bis zum 25.1. bereits 17 weitere solcher Anschläge; 10 weitere wurden verhindert. Dazu kommen die neun, von meinen Kollegen gezählten Anschläge in der Woche danach – Summe: 36, also wieder etwa so viele wie im Dezember 2021.
Die zitierte Sicherheitsorganisation machte keine Angaben zu Opferzahlen, teilte aber mit, dass sich 77% der Anschläge gegen Sicherheitskräfte bzw zivile Regierungsangestellte richteten (2019: 67%). Das schließt aber nicht aus, dass auch bei den Anschläge gegen Sicherheitskräfte Zivilisten mit zu Schaden kamen.
Die Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHCR) teilte in ihrem Zivilopfer-Jahresbericht für 2020 mit, dass es im Vorjahr bei gezielten Mordanschlägen (es ist nicht klar, ob MIEDs hierbei mitgezählt werden) 1078 tote und 1172 verletzte Zivilisten gab, ein Anstiege um 169%. Das waren 26% aller Zivilopfer. Die Organisation gab keine Gesamtzahl der Vorfälle an.
Insgesamt zählte die AIHRC im Jahr 2020 2958 zivile Tote und 5542 zivile Verletzte. Das sind insgesamt 21% weniger als im Vorjahr, die Zahl der Toten aber stieg gleichzeitig um 5%. Am meisten betroffen waren die Zentralregion mit Kabul (18%).
53% aller Zivilopfer schrieb die AIHRC den Taleban zu, 40% weniger als im Vorjahr, v.a. weil keine größeren Anschläge mehr gab. Der IS verursachte 5% aller Zivilopfer (-21%); die afghanischen und internationalen Truppen 15% (-16%); 2% der Zivilopfer gingen auf grenzüberschreitenden pakistanischen Raketenbeschuss zurück. Bei 25% der Opfer waren die Verursacher unbekannt, doppelt so viele wie 2019.
Zudem muss betont werden, dass sich die Anschläge und Kämpfe nicht auf Kabul beschränken. Gezielte Mordanschläge wurden jüngst auch aus Herat und Ghasni gemeldet. In Paktia und Kabul wurden bereits in diesem Jahr drei ehemalige Dolmetscher des britischen Militärs von Taleban umgebracht, berichtete die Daily Mail. Ein weiterer überlebte einen Anschlag in Kabul und ein weiterer fand einen Sprengsatz vor seiner Haustür.
Am 11.1. wurden in Masar-e Scharif zwei Soldatinnen auf offener Straße erschossen. Am 13.1. traf es Abdul Kajum, Gerichtsangestellter in Dschalalabad, ein Begleiter wurde verletzt. Am 17.1. wurden in Kabul zwei am Obersten Gericht angestellte Richterinnen auf dem Weg zur Arbeit in ihrem Auto erschossen; ihr Fahrer und eine weitere Begleiterin wurden verletzt. Am 19.1. wurde der Verwaltungschef der Distrikts Wascher (Helmand) Muhammad Zaher Haqjar bei einem Angriff auf sein Fahrzeug getötet, zwei begleitende Polizisten wurden verletzt. Am gleichen Tag wurden im Basar von Tirinkot (Urusgan) sieben Umstehende beim Anschlag auf ein Polizeifahrzeug verletzt. Am 26.1. erlag der Vizechef des Provinzrats von Kundus, Safiullah Amiri, den Verletzungen eines Anschlags weniger Tage zuvor. Am 27.1. überlebte ein Autobahnpolizeikommandeur Muhammad Akbar Sajedcheli aus der Provinz Parwan einen Landminenanschlag.
Am 30.1. wurden 15 Soldaten durch einen Autobombenanschlag auf ihren Stützpunkt in Gandamak (Nangrahar) getötet.
Im Distrikt Behsud kam es am 31.1. zu Schießereien zwischen Polizei und Demonstranten, unter denen sich wohl auch Bewaffnete befanden – Anhänger eines örtlichen Milizenchefs, der von der Regierung als illegal, von vielen lokalen Menschen aber als Schutz vor den Taleban betrachtet wird. Mindestens neun Menschen wurden getötet, wohl ausschließlich Demonstranten. Zwei Untersuchungskommission sind vor Ort.
Dpa berichtete unter Bezugnahme auf einen am Montag veröffentlichten Bericht des US-Generalinspekteurs für den Wiederaufbau in Afghanistan (SIGAR), dass die afghanischen Armee im Dezember 2020 in der Provinz Kandahar sind rund 200 Kontrollposten an die Taliban verloren habe, einschließlich von Waffen und Munition.
Abschließend soll darauf hingewiesen werden, dass sich hinter dieser Statistik Menschen verbergen. Der Hinweis in der deutschen Reisewarnung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, dass „öffentliche Krankenhäuser in Afghanistan größtenteils nicht internationalen medizinischen Standards“ entsprechen, muss v.a. auch mit Blick auf die Verletzten dieser Anschläge zu denken geben.

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