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Spät nachts am 29. Juni verließen die letzten Bundeswehrangehörigen nach 20jährigem Einsatz Afghanistan. Zurück blieben ein paar Tausend frühere und noch arbeitende afghanische Ortskräfte sowie deren Familienangehörige, denen zu ihrem Schutz eine Ausreise in Aussicht gestellt worden war, weil sie seit Jahren von den Taleban bedroht werden. Eine ganze Reihe von ihnen wurden angegriffen, einige getötet.

Um wie viel Menschen es überhaupt geht, darüber gibt es keine Zahlen, denn die Bundesregierung mauert: „Datenschutz“. Laut FAZ erklärte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums, seit 2012 hätten insgesamt rund 1300 Ortskräfte für die deutschen Einsatzkontingente der von der NATO geführten Missionen ISAF und „Resolute Support“ gearbeitet. „Für die Jahre davor fehle es an Statistiken.“ Auch für das Entwicklungsministerium haben zuletzt wohl über 1000 Ortskräfte gearbeitet. Weniger waren es für das Bundesinnenministerium (Polizeiprojekt) sowie das Auswärtige Amt (in Botschaft und Konsulaten – mehr dazu hier.)

Das Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtete Mitte Juni, bis dahin habe die Bundesregierung rund 400 Ortskräften und Familienangehörigen (es geht nur um die Kernfamilie Ehegatt:in und Kinder) eine Einreiseerlaubnis erteilt. Das betraf nur Ortskräfte, die in den letzten zwei Jahren für die Deutschen gearbeitet hatten. Die FAZ zitierte einen Bundeswehr-Übersetzer zu der Zwei-Jahres-Frist: „Ich empfinde es als ein Unrecht gegenüber mir und vielen anderen ehemaligen Helfern, die davon betroffen sind. Wenn die Taliban uns in die Hände bekommen, werden sie nicht nachfragen, ob wir letztes Jahr oder vor fünf Jahren für die Deutschen gearbeitet haben.“

Dazu kommen nach der Aufhebung der Zwei-Jahres-Begrenzung nach internen Bundeswehr-Schätzungen etwa 350 weitere Personen, mit Ehefrauen und Kindern, insgesamt rund 1.500 weitere Ausreiseberechtigte. Allerdings ist nach unserer Initiative vorliegenden Informationen bis zum 1.7. kein einziges neues Visum aufgrund dieser Neuregelung erteilt worden.

Die SZ meldete am 4.7.:

Nach Angaben des Verteidigungsministeriums haben 446 Ortskräfte der Bundeswehr und ihre engsten Angehörigen – insgesamt 2250 Personen – ihre Reisedokumente immerhin noch vor dem Abzug direkt von der Bundeswehr erhalten. (…) Im Innenministerium nimmt man an, dass etwa [weitere] 2550 Ortskräfte eine Gefährdungsanzeige stellen können.

Alle müssen eine sogenannte Gefährdungsanzeige stellen, in der sie detailliert nachzuweisen hatten, wie denn ihre Bedrohung konkret aussehe. (Das dürfte eine hohe Hürde gerade für geringer qualifizierte Ortskräfte wie Köche oder Wäscher oder Fahrer sein. Augenzeugen berichteten von Fragebögen, die selbst für Deutsche eine Hürde sein würden. In einigen Fällen habe eine solche Anzeige sogar zu Entlassungen geführt.

Eine weitere ehemalige Ortskraft, der 31-jährige Ahmad Jawid Sultani aus Masar-e Scharif, der von 2009 bis 2018 für die Bundeswehr als Übersetzer gearbeitet hatte und wohl bisher kein Visum für Deutschland erhalten hat, berichtete in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung:

Am Dienstag, um kurz vor Mitternacht, stand ich im Tower des Flughafens von Masar-i-Scharif. Von dort oben beobachtete ich, wie die letzten Bundeswehrsoldaten in Flugzeuge stiegen, um Afghanistan für immer zu verlassen. Ich war in diesem Moment extrem traurig. Mir ging immer wieder ein Gedanke durch den Kopf, als ich die Rücklichter der Bundeswehrmaschine sah: „Hey Freunde, warum lasst ihr mich zurück?“

Schon während ich für die Deutschen gearbeitet habe, gab es Anrufe und auch Briefe, in denen mir mit dem Tod gedroht wurde. Ich habe den Deutschen im Camp Marmal acht solcher Vorfälle gemeldet. Das wurde immer geprüft und nach einigen Tagen hieß es: Antrag abgelehnt, die Gefahrenlage ist nicht eindeutig. Ich frage mich, welche Beweise es braucht, um meine Gefahrenlage deutlich zu machen: Braucht es erst meinen toten Körper, um den Beweis zu haben, dass mein Leben in Gefahr ist? Letztlich habe ich dann sogar meinen Job verloren, weil es hieß, wenn du in Gefahr bist, ist es auch eine Gefahr für unsere Truppe. Wenn du mit den Soldaten unterwegs bist, weil die Aufständischen hinter dir her sind, ist das eine Gefahr. Das habe ich nicht verstanden, das Vorgehen der Deutschen hat mich verwirrt.

Aber nun fühlen wir uns im Stich gelassen. (…) Niemand von der deutschen Seite hat sich an uns gewandt. (…) Heute bedauere ich sehr, dass ich für die Bundeswehr gearbeitet habe.

Zeit für eine Zwischenbilanz.

Ortskräfte-Protest vor dem Bundeswehr-Camp Marmal im Juni. Quelle: Local Employees Union.

Selbst begrenzte Zusagen der Bundesregierung, wie ein schnelles Prüfungsverfahren, Anlaufstellen für die Ortskräfte oder logistische Hilfe blieben unerfüllt. „Gesonderte institutionelle (Rechts-)Beratungsangebote existieren nicht“, teilte die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage des FDP-Bundestagsabgeordneten Wieland Schinnenburg (zitiert im Spiegel) mit. Alles was es gab, waren extrem bürokratisch-langwierige Verfahren und eine Logistik, die eine UN-Organisation übernehmen soll, aber noch gar nicht existiert. Mittlerweile stehen die Taleban vor Masar-e Scharif.

[Korrigiert am 5.7., 10.25 Uhr:] Die Bundesregierung gewährt den Ortskräften lauf Antwort auf die FDP-Anfrage „zunächst eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis“ entsprechend Paragraf 22 (Satz2) Ausländergesetz zur Wahrg politischer Interessen der Bundesrepublik. Damit erhalten sie eine Arbeitserlaubnis und sind über die Jobcenter auch krankenversichert. Dies wird dann verlängert, aber nach einem Erlass des Bundesinnenministeriums immer nur für ein Jahr, was für die Betroffenen wieder eine gewisse Unsicherheit mit sich bringt.]

Die ARD berichtete von Zabihullah Fayaz, der als Elektriker im Bundeswehr-Camp bei Masar-e Scharif beschäftigt war. Nachdem im vorigen Jahr die Taleban seinen Onkel und drei Cousins getötet hatten, stecke er nun in Masar fest. In sein Heimatdorf könne er wegen der Taleban nicht zurück, sich nach Kabul durchzuschlagen, sei auch zu gefährlich. Und in Masar selbst gäbe es für ihn keine Anlaufstelle, bei der er seine Gefährdung anzeigen könnte.

Gleichzeitig hielt die Bundesregierung – laut ARD auf Betreiben des vom menschen- und asylrechtlichen Hardliner Horst Seehofer geführten Bundesinnenministeriums, aber auch mit tätiger Ignoranz des Entwicklungsministeriums (BMZ) und des Auswärtigen Amtes – den Kreis der in ihren Augen zur Einreise nach Deutschland Berechtigten klein. Etwa wurden zunächst nur jene dafür überhaupt in Erwägung gezogen, die noch in den vergangenen zwei Jahren für die Bundesrepublik arbeiteten.

Worum es Seehofer dabei wirklich ging, schilderte die Zeit:

Man könne nicht hinreichend überprüfen, was diese Personen in der Zwischenzeit getan hätten, womöglich seien sie nun ein Sicherheitsrisiko. Es habe gefälschte Drohbriefe gegeben und wortgleiche »Gefährdungsbegründungen«, was den Verdacht begründe, es gebe unter Afghanen ein »Geschäftsmodell Deutschland«. Man wolle mit einer Ausweitung des Personenkreises keinen Brain-Drain, keinen Abzug der Gebildeten und in Afghanistan dringend Benötigten auslösen. Außerdem würde eine solche Aus-weitung unweigerlich die Frage aufwerfen, ob nicht auch jene Afghanen ausreisen dürfen, die für deutsche Stiftungen und Hilfsorganisationen gearbeitet haben. Und noch etwas komme hinzu: Die Taliban hätten großes Interesse daran, dass die internationalen Finanzmittel nicht versiegten, die wirtschaftliche Zusammenarbeit erhalten bleibe. Ein Rach-feldzug gegen »Verräter« sei unwahrscheinlich. Daher hätten sie jüngst Ortskräfte dazu aufgerufen, zu bleiben, ihnen werde nichts geschehen.

Die Zwei-Jahres-Frist wurde dann nach öffentlichem Druck auf Beschluss der Innenministerkonferenz (IMK) , die Mitte Juni im baden-württembergischen Rust tagte, etwas aufgeweicht.

BMZ und AA erklären weiterhin, für sie und ihre afghanischen Angestellten ändere sich überhaupt nichts, denn sie würden ja weiter arbeiten und die Ortskräfte weiter benötigen. Dass die Bundesregierung gerade ihre Entwicklungszusammenarbeit (sowie die einiger von ihr finanziell abhängiger Pseudo-NGOs) unter dem Slogan „vernetzter Ansatz“ (dazu heute auch im ARD-Presseklub, wo das als bespielgebend bezeichnet wurde) als Teil des Einsatzes verkaufte, verwischte die Linie zwischen Militär- und zivilen Akteuren in Afghanistan (von denen einige lange vor der Bundeswehr dort waren und mit ihr aus den eben geschilderten Gründen logistisch und sonstwie auch nichts zu tun haben wollten, was ihnen dann als „bundeswehrfeindlich“ vorgehalten wurde) und gefährdete diese sogar.

Zudem fielen jene völlig durchs Raster, die im Auftrag der Bundeswehr auf den Stützpunkten in Afghanistan für afghanische, deutsche oder weitere Firmen gearbeitet hatten (mehr hier). Auch in Masar mit der Bundeswehr kooperierende Truppen anderer Länder, zum Beispiel Ungarns, haben wohl Ortskräfte angestellt, die aber tatsächlich für die Deutschen gearbeitet hätten.

Im Laufe der vergangenen Wochen stellte sich zudem eraus, dass viele „vollgültige“ Ortskräfte in den letzten Jahren ganz offensichtlich gezielt noch an Firmen outgesourct wurden, offenbar bereits in „weiser Voraussicht“, ihnen eine spätere Einreise nach Deutschland vorzuenthalten (siehe Auszüge aus einem Spiegel-Artikel in diesem Beitrag – der Truppenabzug war ja bereit seit Ende der ISAF-Mission 2014 geplant, wurde aber wiederholt verzögert, bis US-Präsident Trump kurz vor Ende seiner Amtszeit den Schlussstrich zog und sein Nachfolger Biden daran festhielt.) (Zu den Ourgesourcten demnächst noch mehr.)

In anderen Fällen (wie in diesem am 2.6.2021 vom Stern berichteten) machten sich Bundeswehr-Ortskräfte, nachdem ihre Gefährdung als nicht hinreichend beurteilt wurde, per Schlepper selbst auf den Weg. Resultat: Asylantrag abgelehnt; Einspruch dagegen ebenfalls. Wir hörten bei unseren Recherche von einer Ressortbeauftragten in der Bundesregierung, eine Ortskraft, deren Asylantrag hier abgelehnt worden sei, könne ja wieder zurück nach Afghanistan gehen und hätte dann Anspruch, wieder eine Gefährdungsanzeige zu stellen.

Die Bundesregierung ließ sich auch nicht von zahlreichen Initiativen erweichen. Sultani gründete eine Gruppe für Übersetzer und andere Ortskräfte, die German Local Employees Union, die in den vergangenen Jahren regelmäßig vor dem Bundeswehr-Camp Marmal demonstrierte, um „darauf hinzuweisen, dass wir Hilfe von den Deutschen benötigen.“ Bundeswehr-Angehörige gründeten ein Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V., dessen Schirmherr Bundeswehrinspekteur Gen. Eberhard Zorn ist. Die Initiative zur Unterstützung der Aufnahme afghanischer Ortskräfte, die ich mit ins Leben rief und deren Aufruf nicht nur von Afghanistan-und Friedensforschern unterschrieben, sondern auch ehemalige deutsche ISAF-Kommandeure, Generalinspekteure der Bundeswehr und reihenweise weitere Generäle, Ex-Abgeordnete und Botschafter (Aufruf und Liste hier) unterschrieben wurde, verlangt, dass entweder die Flugzeuge auch für die Ortskräfte genutzt werden sollten, die die deutschen Soldaten ausfliegen, oder jene, die nach Indien pendeln. Alles blieb ohne nennenswerte Reaktion.

Die Bundesregierung ging auch nicht auf die „Aufforderung“ der Innenministerkonferenz (IMK) ein, die Mitte Juni im baden-württembergischen Rust getagt hatte, „die Kosten für die Ausreisen in die Bundesrepublik Deutschland aus Fürsorgegründen zu übernehmen“. Auf einer Bundespressekonferenz behauptete eine AA-Sprecherin entgegen der vorliegenden, dies sei nur ein Vorschlag „aus den Reihen der IMK“ gewesen.

Die Ortskräfte, die bereits ein Visum erhalten haben sollen (v.a. der Bundeswehr), das sie berechtigt, in Deutschland einzureisen, warteten sie vergeblich auf direkte Hilfe dabei, etwa dass sie mit den regelmäßig nach Afghanistan und die Region (z.B. nach Indien mit Material zur Corona-Bekämpfung) verkehrenden Bundeswehrtransporten ausgeflogen würden oder dass ihnen geholfen werden würde, auf anderem Weg das Land zu verlassen. Nur Einzelne haben es wohl nach Deutschland geschafft, alles in Eigeninitiative und ohne jegliche logistische Unterstützung durch die Bundesrepublik Deutschland, sondern wohl meist mit Hilfe hier lebender Verwandter. Ein Unterstützer traf gestern zufällig zwei Familien auf dem Bahnhof Frankfurt/Main, die in ein anderes Bundesland weiterfahren mussten, aber keine Ahnung hatten, wie man ein Bahnticket kauft. (In Afghanistan gibt es keine Eisenbahn.) Niemand hatte sie in Empfang genommen oder sich sonstwie um sie gekümmert.

In der Süddeutschen Zeitung vom 4.7. wird dazu die Antwort der Bundesregierung auf die Schinnenburg-Anfrage zitiert, in der sie zwar eine Verantwortung und „Fürsorgepflicht“ gegenüber den Ortskräften nicht bestreitet, sich ihnen gegenüber aber nicht juristisch in der Pflicht sieht: „Eine Nachsorgepflicht gegenüber Ortskräften gibt es weder im Arbeits-, noch im Aufenthalts- noch im Völkerrecht.“ 

Tobias Matern resümiert in der SZ heute (5.7.) in einem Kommentar: „Den Regierenden in Berlin ist das Schicksal der Zurückgebliebenen egal. Zum Ende dieses langen Einsatzes ist das eine moralische Bankrotterklärung [und] einer Regierung unwürdig, die immer wieder behauptet, für Menschenrechte einzutreten. Egal welche Ministerin oder welcher Minister in den vergangenen Jahren über den Einsatz am Hindukusch gesprochen hat, ein Zitat durfte nie fehlen: Wir lassen die Menschen in Afghanistan nicht im Stich. Das ließ sich mit viel gutem Willen als anständig, etwas weniger wohlmeinend als Floskel einstufen. Im bisherigen Umgang mit den afghanischen Ortskräften entpuppt es sich als glatte Lüge.“


Hier zunächst zwei Beiträge von Mitinitiatoren der o.g. Initiativen in den letzten Tagen in der taz, zunächst von Bernd Mesovic, dann von mir. Weitere Berichte zu Einzelaspekten werden folgen.

Feigheit vor den Freunden

Die Ortskräfte mussten zusehen, wie der letzte deutsche Soldat Afghanistan verlässt. Sie selbst bleiben ihrem Schicksal und den Taliban überlassen.

Von Bernd Mesovic

Logistik kann die Bundeswehr. Trotz des hastigen Abzugs nach der überraschenden Ankündigung der US-Regierung zum schnellen Ende der Afghanistan-Mission gelangen Teilerfolge: Neben der Ausrüstung wurde ein 27 Tonnen schwerer Gedenkstein für die 53 getöteten Bundeswehrsoldaten ausgeflogen, mehr als 22.000 Liter alkoholische Getränke dem Zugriff der Taliban entzogen. Deutsche Soldaten hatten so schnell nicht austrinken können, wie man abziehen musste.

Afghanen, die für die Deutschen als sogenannte Ortskräfte gearbeitet haben, hätten gern von der Fürsorge profitiert, die dem deutschem Dosenbier widerfahren ist. Der letzte Flieger hat vor wenigen Tagen abgehoben – ohne afghanischen Ortskräfte an Bord, die die Rache der Taliban fürchten müssen. Um die Fürsorge für die Unterstützer*innen, ohne die der deutsche Einsatz unmöglich gewesen wäre, ist es deutlich weniger gut bestellt als um die Abzugslogistik.

„Mission accomplished“ dröhnte wie einst George Bush Bundeswehrgeneral Ansgar Meyer. Man kann sich den Gemütszustand der Zurückgelassenen vorstellen. Selbst diejenigen, die in den letzten Monaten eine deutsche Aufnahmezusage erhalten haben, sitzen noch in Afghanistan fest. Sie sollen sich ihr Flugticket ab Kabul selbst beschaffen. Wie nur?

Für die Menschen, die im Norden leben, wird der Versuch, Kabul zu erreichen, immer gefährlicher. Ortskräfte berichten, dass sie angesichts des Vordringens der Taliban abtauchen mussten, ihre Häuser nicht mehr verlassen oder sich von Angehörigen trennen, um sie nicht zusätzlich zu gefährden. Erste Gerüchte, wer schon getötet wurde, machen die Runde. Das Phlegma in Sachen zügiger Hilfe hat indes nicht die Bundeswehr zu verantworten. Die Parlamentsarmee ist angewiesen auf Beschlüsse von Regierung und Parlament.

Kabul ist kaum noch zu erreichen

Doch weder die Parlamentsmehrheit noch die zuständigen Ministerien trugen dem Ernst der Lage Rechnung. Stattdessen dröselten die Parlamentarier*innen in den letzten Tagen vor der Sommerpause an Interpretationen des Aufnahmeprogramms herum, und von der SPD kam die Forderung an den Bund, die Kosten für die Flugtickets zu übernehmen, als sei das in der zugespitzten Lage die entscheidende Frage. Und ja: Es muss über den Afghanistaneinsatz und seine Folgen diskutiert werden.

Jetzt aber gilt es, zuallererst die zu retten, die mit dem Schlimmsten zu rechnen haben. Trotz der Eile wäre es möglich gewesen, den größten Teil der Ortskräfte, etwa mit einem Shuttle über Georgien, wie im Falle der abrückenden deutschen Soldaten, außer Landes zu bringen. Während in den USA der Begriff der Evakuierung kein Tabu mehr ist, hat man sich hierzulande für die postheroische Variante des „Germany First!“ entschieden. Noch rechtzeitig vor den Amerikanern draußen sein, hatte höchste Priorität.

Das Gerede des kommandierenden Generals, man könne das Camp und den Flughafen noch bis zum Abzug verteidigen, galt der Beruhigung der Bevölkerung. Tatsächlich ging es nur darum, dass es keine deutschen Opfer mehr geben sollte. Der Rest, so die klare Erkenntnis, ist eine innerafghanische Angelegenheit, für die Ortskräfte im Norden aber eine des Überlebens.

Die Organisation des Abzugs war Feigheit vor Freunden, allerdings nicht als Versagen der Armee, sondern als politisch verordnete Untätigkeit. Ausschlaggebend war die Befürchtung, man müsse für den fehlgeschlagenen Afghanistaneinsatz über die Ortskräfte hinaus einen Preis zahlen, wenn weitere Menschen das Land verlassen und in Deutschland Schutz suchen.

Da tönte der Kampfbegriff der „Sogwirkung“ selbst aus dem Bundesentwicklungsministerium, das sonst meist die fürsorgliche Rolle in Sachen Fluchtursachenbekämpfung übernimmt. „Afghanen im Anmarsch“ – warum, spielt im Wahlkampfsommer keine Rolle. Die in der Sache gutwillige Verteidigungsministerin Annegret Kamp-Karrenbauer hatte sich faulen Kompromissen zu beugen, die der Öffentlichkeit als pure Großzügigkeit verkauft wurden.

Sorge vor „Sogwirkung

Die Zahl derer, die theoretisch in Deutschland aufgenommen werden könnten, ist etwas größer geworden. Das Nähere bestimmt in der Praxis das Bundesinnenministerium. Oder das weitere Vordringen der Taliban. Verbündete, die infolge ihrer Tätigkeit für Deutschland bedroht sind, in Lebensgefahr zurückzulassen, ist eine Schande. Die hastige Verabschiedung von den Ortskräften ist Wasser auf die Mühlen der Taliban, die den Deutschen gegenüber einen gönnerhaften Zynismus an den Tag legen.

„Da ihr sichtbar abzieht, wollen wir euch jetzt nicht länger belästigen“, so der Tenor einer ihrer Verlautbarungen vor dem Abzug. Die Tricksereien der letzten Wochen müssen aufhören. Ortskräfte berichten, wie übel ihnen mitgespielt wurde, indem ihnen etwa dubiose Hinweise zum Aufnahmeprogramm samt nicht funktionierenden E-Mail-Adressen in die Hand gedrückt wurden. Dem zynischen Umgang sind vor allem die Mitarbeiter*innen ziviler Firmen ausgesetzt, die für die Bundeswehr tätig waren.

Entgegen der öffentlich verkündeten Absicht, in Ausnahmefällen zu helfen, ist bislang kein Fall bekannt, in dem Aufnahme gewährt wurde. Auch diejenigen, die militärische und zivile Einrichtungen für das deutsche Kontingent gebaut haben, vom Munitionsdepot bis hin zur Kirche, sind in Gefahr. Der Afghanistaneinsatz war wie kaum ein anderer ein Krieg der Subunternehmer. Die deutschen Endabnehmer müssen für den Schutz ihrer Helfer*innen einstehen.

Die Taliban jedenfalls werden nicht nach dem Arbeitsvertrag fragen, wenn sie die vermeintlichen Verräter*in­nen ins Visier nehmen. Es darf keine Zeit mehr vergeudet werden. Die Ortskräfte müssen jetzt ausgeflogen werden. Noch ist der Flughafen von Masar-i-Scharif offen.


Hier mein taz-Beitrag (nachträgliche Hinzufügungen wir immer [in eckigen Klammern]:

Afghanistan nach dem Bundeswehr-Abzug: Kein Anschluss unter dieser Nummer

Die Bundesregierung hatte angekündigt, sich um ihre Ortskräfte zu kümmern. Zuständige Stellen sind jedoch unerreichbar oder reagieren nicht.

Für Hunderte ehemaliger oder noch aktiver Ortskräfte der Bundeswehr und ziviler deutscher Stellen in Afghanistan, die von den Taliban bedroht werden, gibt es bisher immer noch keinen Weg aus der Gefahr, obwohl die Bundesregierung das bereits vor Monaten angekündigt hatte. Das trifft selbst auf fast alle derjenigen beinahe 2.400 Menschen sowie deren Kernfamilien zu, die bereits ein deutsches Visum erhalten haben sollen.

Am 23. April hatte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer erklärt, sie „empfinde es als eine tiefe Verpflichtung der Bundesrepublik, diese Menschen jetzt, wo wir das Land verlassen, nicht schutzlos zurück zu lassen“. Immerhin hätten sie „zum Teil über Jahre hinweg auch unter Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit an unserer Seite gearbeitet, auch mitgekämpft“. Jetzt gehe es „um die Verfahren“ und das „müssen wir schnell klären“.

Das Verfahren bestand dann darin, dass die Ortskräfte über ihre jeweiligen Vorgesetzten eine sogenannte Gefährdungsanzeige stellen konnten, auf deren Grundlage ein Visum erteilt werden konnte. Die Bundesregierung besteht aber darauf, dass sie ihre Ausreise dann selbst organisieren und vor allem auch die Flugtickets selbst bezahlen. Schon das ist ein Unding, besonders für weniger qualifizierte Angestellte. Selbst ein Dolmetscher der Bundeswehr bekam ein monatliches Anfangsgehalt von nur 450 Euro. Zudem sollen sie ihre Anreise 14 Tage vorher ankündigen und nicht den PCR-Test vergessen.

Am 23. Juni mahnte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Bundestag noch einmal, die „Schutzverpflichtung“ gegenüber den Ortskräften „ernst zu nehmen“. Kramp-Karrenbauer darauf: „Wir werden dafür sorgen, dass wir das logistisch bewerkstelligen können.“ Das hieß aber auch, logistisch war zwei Monate lang überhaupt nichts passiert.

Keine Büros

Dann mussten Ende Juni Hals über Kopf die 264 in Afghanistan verbliebenen deutschen Sol­da­t:in­nen ausgeflogen werden. Offenbar war Berlin klar geworden, dass die Amerikaner bereits zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli abrücken würden und man dann nicht einmal mehr die Logistik für die eigenen Leute haben würde. Nicht umsonst weigerte sich die Sprecherin des Verteidigungsministeriums auf der Bundespressekonferenz am 30. Juni zuzugeben, dass auch US-Flugzeuge an dieser Aktion beteiligt waren.

Zwei „Büros“, die laut früherer Aussagen der Bundesregierung im bisherigen Bundeswehrhauptstandort Masar-e Scharif und in Kabul eingerichtet werden sollten, kamen nie zustande. [Die Bundesregierung ließ sich nie darauf ein, genau mitzuteilen, ob das deutsche oder andere Büros sein sollten. Glichzeitig war zu hören, dass sie versuchte, die zum UN-System gehörigen Internationalen Organisation für Migration (IOM) dafür einzuspannen.]

Die ganze deutsche Logistik für die afghanischen Kol­le­g:in­nen (es gibt einige wenige Frauen) bestand schließlich in der Verteilung von Handzetteln mit E-Mail-Kontaktadressen bei IOM, an die man sich wenden könne. Selbst Beteiligte waren sich nicht sicher, ob [die Herausgabe der Kontaktadressen] überhaupt genehmigt war [und sprachen davon, sie hätten das „halboffiziell“ getan. Das liegt wahrscheinlich daran, dass – sieh unten – IOM noch gar nicht arbeitsfähig ist].

Angehörige von Ortskräften in Deutschland teilten der taz auf Anfrage mit, dass von einer Stelle am Donnerstag die automatische Antwort kam, die Bearbeitung solcher Anfragen werde „sehr bald“ beginnen. Man werde kontaktiert – „wenn nötig“. Von einer zweiten Stelle hieß es, die Bearbeiterin sei allerdings bis November in Elternzeit. Bei IOM war für die taz am Freitag (dem afghanischen Sonntag) niemand zu sprechen. Auch das ist kein Zeichen von Dringlichkeit.

[Die SZ zitierte Samadi, er habe „am Sonntag – in Afghanistan kein Wochenende – habe er mit einem Mitarbeiter der IOM telefoniert, der ihm gesagt habe, dass sie von deutscher Seite noch nicht ausreichend geschult worden seien. Erst in 15 bis 20 Tagen, so gibt Samadi die Worte des IOM-Beamten wieder, sei daran zu denken, sich mit den Papieren zu befassen – wenn die Deutschen ihnen bis dahin das Verfahren erklärt hätten.“ Nach anderen Informationen soll IOM die Gefährdungsanzeigen an die jeweiligen Ressortbeauftragten der deutschen Ministerien weiter. Die Antwort aus den Ressorts gehe dann über IOM an die jeweiligen Antragsteller:innen zurück.]

Landweg versperrt

Nun, da in Masar-e Sharif keine Deutschen mehr sind, könne man sich laut einer Auskunft des Auswärtigen Amtes noch „persönlich“ an die Botschaft in Kabul wenden. Aber durch die bereits in Masars Vororten befindlichen Taliban ist der Landweg dahin versperrt. Zudem war in Kabul zu hören, dass auch IOM seine nicht-afghanischen Mitarbeiter schon vorsichtshalber aus Masar ausgeflogen habe. [Samadi bestätigte das in seinem SZ-Gastbeitrag.]

AKK hatte ja auch nicht von „deutscher“ Logistik gesprochen oder gesagt: „Wir“ bringen diese Menschen nach Deutschland. Praktischer Schutzfaktor: knapp über Null.

Übrigens: Für den nächsten Abschiebeflug aus Deutschland, der [am 6. Juli ab Hannover gehen soll und] am 7. Juli in Kabul erwartet wird, reicht die Logistik.

PS/

Es ist zudem „an Naivität  (oder Zynismus) kaum zu überbieten, dass unterschieden wird zwischen Ortskräften der Bundeswehr und jenen, die zum Auswärtigen Amt oder Entwicklungsministerium gehören“.

Der Staatssekretär im Bundesentwicklungsministerium, Martin Jäger (kurzzeitig auch deutscher Botschafter in Kabul), versicherte indes laut epd, dass in der Entwicklungsarbeit sorgfältig darauf geachtet werde, dass lokale Angestellte keinen unnötigen Risiken ausgesetzt würden. Die Ortskräfte könnten bei Bedarf auf die Unterstützung der Bundesregierung zurückgreifen, sagte er in Berlin. Allerdings gebe es aktuell nur sehr wenige Anträge mit dem Wunsch, Afghanistan zu verlassen. Das habe seinen Grund auch darin, dass Entwicklungshelfer, anders als Ortskräfte der Bundeswehr, durch das Ende des Afghanistan-Einsatzes nicht ihren Job verlieren.“

Aus Sicht der Taleban sind Militär und Entwicklung Teile derselben Mission. Im Übrigen war dies auch der politische Ansatz der Bundesregierung („vernetzter Ansatz“).