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Hier eine längere und zudem aktualisierte Fassung meines taz-Artikels vom 5.8.2021. Er stand dort online unter dem Titel:

Beim Anschlag in Kabul am 3.8. zerstörte Villa des afghanischen Verteidigungsministers. Foto: Tolo.

Vormarsch der Taleban in Afghanistan: Unheilvolle Vorahnung

Am Dienstagnachmittag wurde die afghanische Hauptstadt erstmals seit Monaten wieder Schauplatz eines schweren Anschlags. Ein Taleban-Kommando verschaffte sich mit einer Autobombe Zugang zum Privathaus von Verteidigungsminister Bismillah Muhammadi und stürmte die dreistöckige Villa im Stadtteil Scherpur. Bis tief in die Nacht dauerten Schießereien mit afghanischen Sondereinheiten an, dann waren die fünf Besetzer tot, entweder erschossen oder mit eigenen Sprengstoffgürteln in die Luft gejagt. Bismillah entkam unverletzt. Nach offiziellen Abgaben soll er nicht zu Hause gewesen sein, aber inoffiziell war zu hören, dass er sehr wohl bei einem hochrangigen Treffen zu Sicherheitsfragen zugegen gewesen sei. Die Autobombe töteten mindestens vier Menschen, darunter Passant:innen, und verletzte mindestens 14 weitere. Von Bismillahs Villa steht nur noch ein bröseliges Betongerippe.

Gleichzeitig hielten gestern die Kämpfe im südafghanischen Laschkargah an. Die Taleban kontrollieren in der Hauptstadt der Provinz Helmand neun von zehn Polizeibezirken. Gekämpft wurde um den Gouverneurssitz, das Provinzgefängnis – in dem viele Talebankämpfer sitzen – und die Stützpunkte von Armee, Polizei und Geheimdienst. [Die Taleban nahmen das örtliche Rundfunkgebäude ein, aus dem die Mitarbeiter bereits geflohen waren. Das regionale staatliche Radio und TV stellten ihre Sendungen ein.] Der zuständige Armeekommandeur ordnete am Dienstag an, dass die Zivilbevölkerung wegen einer bevorstehenden Gegenoffensive die 200.000-Einwohner-Stadt verlassen solle. Das setzte eine neue Fluchtwelle in Gang. Bis Dienstag waren bereits 18.000 Familien geflohen. Kabuls Truppen flogen gestern früh bereits Luftangriffe auf Ziele im Zentrum der Stadt. Dabei wurden mehrere Gebäude zerstört. [Am heutigen 5.8. zeigten Bilder, wie dort afghanische Spezialeinheiten eintrafen, die eine Gegenoffensive starten sollen. Neue Gefechte wurden nicht gemeldet – offenbar die Ruhe vor einem nächsten Sturm.]

Gekämpft wurde gestern [und heute] weiterhin auch im Stadtgebiet des 140 Kilometer weiter östlich gelegenen Regionalzentrums Kandahar [die Armee setzte Hubschrauber ein] sowie nahe der nordafghanischen Provinzhauptstadt Schibarghan. [Am 5.8. wurde berichtet, dass die Taleban den Distrikt Kang in der Südwestprovinz Nimrus kampflos eroberten und von dort die Provinzhauptstadt Zarandsch an der Grenze zu Iran bedrohen, von der sie sich nur noch 10 km entfernt befinden. Viele Menschen seien über die Grnze nach Iran geflohen.] In Herat, wo Taleban am vorigen Freitag einen Wachmann vor einem UN-Büro erschossen und zwei weitere verletzten, scheint sich die Lage vorerst etwas beruhigt zu haben. [Am heutige 5.8. wurden Kämpfe aus Distrikten etwa 20 km entfernt gemeldet. Im Juli hatte ein Talebansprecher versprochen, UN- und NRO-Büros würden nicht angegriffen.]

Der afghanischen Menschenrechtskommission liegen Berichte von Familienmitgliedern und anderen Augenzeugen vor, dass Taleban nach ihrer Eroberung der Grenzstadt Spin Boldak, östlich von Kandahar, am 14. Juli nahegelegene Dörfer durchkämmt und mindestens 40 Menschen getötet haben sollen. Viele Opfer sollen bei einem vorübergehenden Gegenangriff die Ankunft von Regierungstruppen begrüßt, aber nicht selbst an den Kämpfen teilgenommen haben. Andere seien Mitglieder von Regierungstruppen, der Verwaltung oder Angehörige. Ähnliche Szenen sollen sich ebenfalls im Juli im Distrikt Malistan in der Provinz Ghasni abgespielt haben. Dort gab es Vorwürfe, die Übergriffe hätten sich gegen Angehörige der ethno-religiösen Minderheit der schiitischen Hasara gehandelt.

Die Kommission weist aber auch darauf hin, dass bei einigen der Morde „persönliche Motive“ im Spiel gewesen seien, nämlich Rache für eine ganz Reihe von Folter, Mord und Verschwindenlassen durch die örtliche Polizei [Hintergründe hier bei AAN].

In den meisten von ihnen eroberten Gebieten zeigen sich die Taleban laut afghanischen Beobachtern aber erstaunlich „weich“. Sie beschränkten sich – jedenfalls bisher – darauf, in den Moscheen dazu aufzurufen, dass die Männer sich an die islamische Bart- und Kleiderordnung halten und die Menschen „vermeiden“ sollten, fernzusehen und Smartphones zu verwenden. Über Hausdurchsuchungen, um wie zu ihrer Regierungszeit bis 2001 diese Aufrufe auch durchzusetzen, oder Verhaftungen wurde bisher nicht berichtet. Auch Anfragen der taz in mehreren Provinzen ergaben bisher nichts. Im Distrikt Surmat im Südosten verhinderten die Taleban laut Stammesältesten und Zivilgesellschaftsaktivisten, dass die Bevölkerung – wie andernorts – Verwaltungsgebäude plünderte. Kliniken würden offen gehalten. In mehreren Provinzen forderten sie die Verwaltungsmitarbeiter:innen auf, ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Dem wurde aber wegen verbreiteten Misstrauens den Aufständischen gegenüber nur sporadisch Folge geleistet, besonders unter Frauen. Ein Stammesältester im Distrikt Alingar in der Ostprovinz Laghman sagte der taz, weibliche Angestellte der örtlichen Bildungs- und Gesundheitsverwaltung würden weiter arbeiten und seien auch nicht aufgefordert worden, nur in männlicher Begleitung außer Haus zu gehen [ausführlicher Bericht aus Laghman bei AAN hier]. Solche Vorfälle wurden etwa aus den Provinzen Tachar und Dschusdschan gemeldet. [Der Guardian berichtete von der Steinigung einer „Ehebrecherin“ im Distrikt Obe, Provinz Herat, durch ein Talebangericht.]

Zu den befürchteten Schulschließungen, besonders für Mädchen, kam es nicht. Das liegt aber daran, dass diese wegen der Coronapandemie ohnehin nicht offen sind. [Sie werden allerdings seit dem 25.7. auf Regierungsbeschluss landesweit schrittweise wieder geöffnet.]

Schulen und Verwaltungen offen zu halten, wo deren Sicherheit gewährleistet sei, ist laut Talebansprecher Sabihullah Mudschahed offiziell Politik der Bewegung [, wie er in einem von Tolo im Juli ausgestrahlten Interview sagte]. Er bezeichnete auch die Berichte, dass Frauen außer Haus männliche Begleitung benötigten, als „Gerüchte“. Da die Talebanführung auch Rachemorde untersagt hat, wird deutlich, dass sich die Talebankämpfer nicht überall an diese Vorgaben halten.

Berichte, die Taleban hätten dekretiert, alle unverheirateten Frauen hätten sich registrieren zu lassen, um mit ihren Kämpfern verheiratet zu werden, gehören wohl tatsächlich ins Reich der psychologischen Kriegführung. Viele Beobachter [darunter meine AAN-Kolleg:innen] halten in mehreren Provinzen aufgetauchte Kopien eines solchen Edikts mit Taleban-Kopfbogen für eine geheimdienstliche Fälschung. In einem Fall in der Provinz Bamian [im Distrikt Saighan, siehe hier] scheint ein talebanfreundlicher Mullah dies allerdings versucht zu haben, tatsächlich umzusetzen. Der betroffene Bezirk fiel aber bereits nach zwei Tagen zurück an die Regierung. Trotzdem haben Familien aus mehreren Provinzen ihre weiblichen Angehörigen nach Kabul geschickt, um der Gefahr zu entgehen, dass es doch zu solchen Übergriffen kommen könnte [wir im AAN-Bericht aus Laghman erwähnt]. Es gibt auch keine Garantie, dass die Taleban ihre überwiegend weiche Linie nach einer Machtkonsolidierung beibehalten werden. So weit ist es allerdings noch nicht.

[Am 5.8. berichtete Radio Freies Europa/Radio Liberty, dass die Taleban in mehreren Provinzen – auch private – Radiostationen entweder ganz geschlossen haben oder bestimmte Programme – z.B. Musik – sowie das Auftreten von Frauen verboten haben.]

[Auch den Regierungskräften werden Kriegsverbrechen vorgeworfen. Ende Juli berichtete der Guardian, dass Regierungstruppen bei Laschkargah ein privates Hospital bombardiert und zerstört hätten, obwohl bekannt war, dass die Taleban dort verletzte Kämpfer behandeln ließen. Die Regierung ließ verlauten, es habe sich um einen Irrtum wegen falscher Koordinaten gehandelt.) Am 3.8. berichtete der französische Auslandssender France24, dass in der Provinz Paktika afghanische Soldaten einen angeblichen Talebanunterstützer standrechtlich erschossen hätten.]

In Kabul und anderen Städten waren bereits vor dem gestrigen Anschlag hunderte Menschen spontan gegen die Talebangewalt und zur Unterstützung der Regierungstruppen mit „Gott ist groß“- und „Freiheit“-Rufen auf die Straßen geströmt. [AAN-Kollegen berichten allerdings, einige dieser Demos seien von der Regierung organisiert wurden.] Ein Zivilgesellschaftsaktivist aus Laghman sagte aber der taz [via AAN], er bezweifle, dass viele Menschen den Aufrufen der Regierung folgen würden, sich auch gegen die Taleban zu bewaffnen. „Nachdem so viele Distrikten gefallen sind, ist es dafür zu spät“, sagte er. „Die Angst ist einfach zu groß.“

Thomas Ruttig