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Hier nur in kurzer Überblick über die Lage. Zuerst die Provinzen, deren Hauptstädte an die Taleban gefallen sind (Karte im taz-Artikel unten) – die meisten kampflos:

Nimrus, Dschusdschan, Sarepul, Kundus, Tachar

Samangan

Badachschan, Farah, Baghlan

Ghazni

Kandahar, Herat, Helmand

Badghis, Ghor

Uruzgan

Logar, Sabul

Gardes (Paktia), Scharana (Paktika)

14.8.: Masar-e Scharif (Balch), Asadabad (Kunar), Maimana (Farjab), Nili (Daikundi), Mehtarlam (Laghman)

heute (15.8.): Dschalalabad (Nangrahar), Bamian, Maidanschahr (Wardak),

dazu wohl die Distrikte Tschaharasjab und Paghman (nicht bestätigt) in der Provinz Kabul

Es scheint, dass nur Kabul, Pandschir, Khost noch nicht betroffen sind.

BBC berichtet um 10:20 Uhr, dass „Taleban aus allen Richtungen nach Kabul hinein strömen“. Taleban-Führung teilt mit, sie habe angeorndet, dass ihre Kämpfer nicht nach Kabul gehen sollen, weil Übernahmeverhandlungen mit der afghanischen Regieurng im Gange seien.

Laut Washington Post hat die US-Regierung den Taleban mitgeteilt, dass man ihren Einzug in Kabul wohlwollender betrachten werde, wenn sie die Evakuierung der westlichen Botschaften und afghanischer Angestellter nicht behinderten. Wieder einmal sprechen die USA für alle.


Taliban stehen vor Kabul

Die Taliban gewinnen an Land. Die Aufständischen kontrollieren jetzt 15 der 34 Provinzen. Auch auf die Hauptstadt rücken sie vor.

BERLIN taz | Obwohl am Donnerstag mit Kandahar und Herat die zweit- und drittgrößte Stadt Afghanistans gefallen waren, ist die Eroberung der Provinz Logar am Freitag der bisher wichtigste Sieg für die Taliban. Der Vorstoß bringt sie an die Pforten der Hauptstadt Kabul. Die Aufständischen kontrollieren jetzt 15 der 34 Provinzen des Landes vollständig.

Von großem Gewicht war zudem, dass sich am Freitag einer der wichtigsten Anti-Taliban-Warlords, Ismail Chan im westafghanischen Herat, den Taliban „anschloss“, wie diese behaupteten, oder ergeben musste, was wahrscheinlicher ist. Das US-Militär hatte zuletzt noch überlegt, auch an der Regierung von Präsident Aschraf Ghani vorbei Milizen wie die von Ismail Chan zu bewaffnen.

Doch die Zeit hat diese Idee schnell überholt. Ein weiterer Warlord, Atta Muhammad, der für sich die Führerschaft über die Tadschiken und deren wichtigste Partei Dschamiat-i Islami in Anspruch nimmt, ist seit Tagen abgetaucht. [Ergänzung: Atta tauchte heute nach Redaktionscchluss doch wieder in Kabul auf.]

Wie in vielen Landesteilen gab es auch in der Provinz Logar nicht mehr viel zu erobern, denn die Taliban beherrschen dort seit Jahren fast alle ländlichen Gebiete. Die Kontrolle über Logar gehört zur „Einschließungsstrategie der Taliban für Kabul für den Fall des Abzugs der westlichen Truppen“, wie ein hoher früherer Regierungsbeamter in Kabul der taz bereits im Juli 2020 sagte.

Zur Schwäche der Regierung trugen in Logar die Inkompetenz hoher Offizieller, die mangelhafte Koordination der bewaffneten Regierungskräfte, Ablenkung durch den Kampf um Kontrolle örtlicher Schmuggelrouten für Drogen und Chromerz sowie Drangsalierung der örtlichen Bevölkerung durch Sicherheitskräfte bei – bei resilienten örtlichen Talibanstrukturen.

Kabul ist umzingelt

Auch im Südwesten der Hauptstadt sieht die Lage in der Provinz Maidan Wardak nicht anders aus, außer dass die Provinzhauptstadt Maidanschahr formal noch unter Regierungskontrolle ist. Im Osten eroberten die Taliban schon Mitte Juli große Teile der Provinz Laghman. Von dort aus können sie die Verbindungsstraße von Kabul über Dschalalabad nach Pakistan bedrohen. Neben dem einstigen Bundeswehrstandort Masar-i-Scharif und der Hauptstadt Kabul ist Dschalalabad die einzige Großstadt, die noch in den Händen der Regierung ist.

Im Norden Kabuls beherrschen die Taliban das Ghorband-Tal, eine wichtige Verbindungsstraße ins zentralafghanische Hasaradschat, wo die schiitische Bevölkerungsgruppe der Hasaras sich wegen mehrerer Talibanmassaker vor 2001 besonders vor deren Rückkehr fürchtet. Im Juli richteten sie laut afghanischer Menschenrechtskommission im Hasara-Distrikt Malestan mindestens 19 gefangene Regierungssoldaten sowie eine unbekannte Zahl unbeteiligter Zi­vi­lis­t:in­nen hin.

In Teilen Hasaradschats gelang es den Hasaras mit selbst aufgestellten Milizen und kleinen Armee-Kontingenten zuletzt noch, Talibanvorstöße abzuwehren. Ein Hasara-Vertreter schrieb an eine deutsche Organisation, die dort Schulprojekte unterstützt: „Wo sollen wir hin? Auf dem Weg nach Europa werden wir von Schleppern um unser letztes Geld gebracht. Dort angekommen, lassen sie uns vor den Toren verrecken. Besser ist also, zu bleiben und zu Hause zu sterben“.

Die Taliban verfügen auch über Positionen in stadtnahen Gebieten um Kabul. Sie ziehen also ihren Ring um die Stadt zu. Selbst in der Stadt sind sie präsent. In Vororten verteilten sie im Frühjahr Flugblätter, man möge sich nicht fürchten.

Gleichzeitig forderten sie Mitglieder der Regierungsstreitkräfte auf, entweder diese oder ihre Dörfer zu verlassen, ansonsten drohe der Tod. Dem verliehen sie mit Attentaten Nachdruck. Gemeindeältesten untersagten sie, den Distrikt zu verlassen, um Regierungskontakte zu unterbinden. Bewohner Kabuls berichteten der taz von Späherpatrouillen im ebenfalls größtenteils von Hasaras bewohnten Westen Kabuls.

Evakuierung von Nicht-Afghan:innen

Derweil evakuieren westliche Botschaften ihre nichtafghanischen Mit­ar­bei­te­r:in­nen. Die Regierungen in Washington und London teilten das offiziell mit. Die USA senden 3.000 zusätzliche Soldat:innen, die den Flughafen von Kabul dafür sichern sollen. [Auch die Bundesregierung teilte inzwischen mit, sie reduziere das Botschaftspersonal und sogar ein Flugzeug zur Evakuierung senden.]

Die deutsche Bundesregierung scheint ihre ohnehin fadenscheinigen Bemühungen um ein Ausfliegen ihrer afghanischen Ortskräfte weitgehend eingestellt zu haben. [Das o.g. Bundesregierungsstatement sagt ebenfalls, dass Ortskräfte nun mitevakuiert werden sollen. Hoffentlich schaffen es diese Flugzeuge noch. Lange genug gezögert hat die Bundesregierung.] Auf eine Grünen-Anfrage antwortete das Innenministerium, von der US-Aktion habe man Kenntnis, arbeite aber „unabhängig davon“. Dabei fehlen der Bundesregierung dafür die Kapazitäten. Schon die letzten Bundeswehrsoldaten wurden im Juni teilweise mit US-Maschinen evakuiert.

Warlord Ismail Khan (Mitte, mit kariertem Turban) in den Händen der Taleban. Foto: Twitter

Hier noch ein zweiter Afghanistan-Artikl von mir aus der taz vom Vortag:

Drogen, Gold und flexible Fronten

Afghanistans Norden haben die Taliban jetzt ohne großen Widerstand erobert – obwohl dort weniger Paschtunen leben und es dort früher viele Gegner gab.

BERLIN taz | Es erstaunt viele Beobachter, dass die gegenwärtige Offensive der Taliban vor allem in Nordafghanistan erfolgreich ist. Sieben von zehn Provinzhauptstädten, die sie seit vorigem Freitag in einer beispiellosen Offensive zum Teil kampflos übernahmen, liegen in dieser Großregion. In der war bis Ende Juni die Bundeswehr für das Nato-Ausbildungsprogramm der afghanischen Streitkräfte verantwortlich. Dann stahl sie sich am 29. Juni nachts davon, ohne die Afghanen zu informieren – in der Furcht, sie könnte noch im letzten Moment von den Taliban angegriffen werden.

Nordafghanistan reicht von der Grenze zu Turkmenistan im Westen bis nach Badachschan im Osten, das an Tadschikistan und Pakistan grenzt. Ethnisch dominiert wird es von Usbeken, Tadschiken und Turkmenen. Dazwischen leben zahlreiche Minderheiten. Die größte sind die Paschtunen mit etwa 30 Prozent, die im Süden des Landes wie auch bei den Taliban die Mehrheit bilden.

Die Region kam erst spät, Mitte des 19. Jahrhunderts, zu Afghanistan. Zuvor war sie eher mit dem mittelasia­tischen Staat Buchara verbunden, den die Sowjetunion in den 1920er Jahren annektierte. Davor flohen Hunderttausende weitere Tadschiken, Usbeken und Turkmenen. Nicht zuletzt wegen dieser Vergangenheit war in der Region der Widerstand gegen die sowjetische Besatzung (1979–89) besonders stark.

Die damals aufkommenden Warlords wurden dominante Akteure der Region. Nach 2001 waren sie die wichtigsten Bündnispartner der US-geführten Anti-Taliban-Intervention. Auch jetzt richteten sich wieder Hoffnungen darauf, dass sie den Talibanvormarsch stoppen würden. Aber bereits die zweite Provinz, die an die Taliban fiel, war Dschusdschan, Hochburg des usbeko-afghanischen Warlords Abdul Raschid Dostum.

Dostums Führer schlossen sich Taliban an

Während Dostum mit Präsident Aschraf Ghani in Kabul sprach, gaben seine Milizen aber auf. Einige Führer schlossen sich gar den Taliban an. Ob aus Überzeugung oder weil ihnen kein anderer Weg blieb, ist unklar. Dostum und Ghani flogen am Dienstag nach Masar-i-Scharif, um die Verteidigung der Großstadt zu organisieren. Dort wird bereits in den Vororten gekämpft, aber Regierungskräfte schlugen einen Taliban-Angriff zunächst zurück.

Während Nordafghanistan unter dem Talibanregime (1996–2001) lange eine Anti-Taliban-Bastion war, auch wenn sie mit Ausnahme weniger Gebiete – darunter Badachschan – letztlich doch an die Taliban fiel, sind sie dort jetzt besonders erfolgreich. Wichtigste Ursache ist ihre erfolgreiche Mobilisierung unter dortigen Nichtpaschtunen.

Vor allem gewannen sie die örtliche islamische Geistlichkeit mit ihrem Narrativ der ausländischen und gegen den Islam gewandten Okkupation. Da die Geistlichkeit gerade in der ländlichen Bevölkerung großen Einfluss hat, folgten ihr ganze Gemeinden. Zudem installierten die Taliban auf Provinz- und Distriktebene Schattengouverneure und Frontkommandanten aus der Lokalbevölkerung, während vor 2001 ortsfremde Paschtunen dominierten.

Zulauf brachte den nordafghanischen Taliban nach 2001 auch die vom Westen tolerierten Racheakte auf die paschtunische Minderheit, der ihre Unterstützung des Talibanregimes angelastet wurde. Die Warlords schlossen die lokalen Paschtunen weitgehend von öffentlichen Ämtern aus. Es gab Plünderungen und Vertreibungen. Gerade die besonders konservative Nordostprovinz Badachschan hatte aber schon vor 2001 Vertreter in der Führung der Taliban, und diese genossen dort bereits punktuellen Einfluss.

Irrglaube, Norden sei gegen Taliban immun

Bereits 2011 schrieben die Afghanistan-Analysten Christoph Reuter und Antonio Giustozzi, dass in den Hauptstädten der Interventionsmächte lange „der Glaube weit verbreitet war, der Norden sei immun gegen Taliban-Infiltration“. Deshalb wählte die Bundesregierung Kundus als Hauptquartier für ihre seit 2003 dort stationierten Truppen, damals noch Teil der Isaf-Schutz- und Wiederaufbaumission.

Ein krasses Fehlurteil, wie sich bald zeigte. Ab 2005, so die beiden Forscher, bauten die Taliban „Zellen in den sogenannten Paschtunen-Enklaven“ auf, ohne dass diese zunächst militärisch aktiv wurden. Das Bild habe sich aber nach punktuellen „Angriffen, Anschlägen mit selbst gebauten Sprengkörpern und selbst großangelegten Attacken“ auf westliche und Regierungskräfte „drastisch gewandelt“.

Auch die Bundeswehr war betroffen. Im Mai 2007 tötete ein Selbstmordattentäter im Basar von Kundus drei Soldaten, die Kühlschränke für ihr Feldlager kaufen wollten.

Doch sind die Fronten auch im Norden Afghanistans nicht eindeutig. Alle Seiten sind von kriminellen Netzwerken durchdrungen, die nach Opportunität entscheiden, auf welche Seite sie sich wie lange stellen und die oft über Frontlinien hinweg kooperieren.

Militärs verkaufen Munition

Das reicht vom Verkauf von Treibstoff und Munition durch Armee- und Polizeikommandeure an die Taliban bis zum Teilen der Einkünfte aus dem Bergbau. Bei der Goldmine im Distrikt Raghistan in Badachschan läuft das zwischen Taliban und lokalen Unternehmerkommandeuren, die formal auf Regierungsseite stehen.

Zudem führen wichtige Drogenrouten durch Badachschan und weitere Nordprovinzen, um deren Kontrolle die Kriegsparteien streiten. Über diese Route gelangen via Zentralasien große Mengen Heroin und Crystal Meth nach Europa, hergestellt aus afghanischem Opium. Auch Nasri Muhammad, der Hauptkommandeur und langjährige Bürgermeister von Badachschans Hauptstadt Faisabad, gehört zu diesen mafiösen Strukturen.

Die Bundeswehr hatte ihn für die Bewachung ihres dortigen Camps angeheuert, sich aber jahrelang geweigert, seine Verbindungen zur Kenntnis zu nehmen. Seitdem trugen alle Bundesregierungen durch das Ignorieren von Realitäten und Schönfärberei dazu bei, dass nicht zeitig umgesteuert wurde. Diese Fehler gipfeln jetzt im erneuten Siegeszug der Taliban.


Hier noch mein Interview mit dem nd vom Wochenende zu den Ursachen der derzeitigen Misere in Afghanistan:

Ein 20 Jahre altes Problem

Der sogenannte Krieg gegen den Terror hat Friedensbemühungen in Afghanistan konterkariert, sagt Thomas Ruttig

Von Cyrus Salimi-Asl (13.08.2021)

Wie erklären Sie sich die militärischen Erfolge der Taliban in den vergangenen Tagen? Die afghanischen Streitkräfte sollen mehr als 300 000 Soldaten haben, die Taliban nach Schätzungen höchstens 85 000 Kämpfer, bewaffnet vor allem mit Handfeuerwaffen.

Bei Zahlen und Taliban wäre ich vorsichtig, weil es keine stehende Armee ist. Es gibt zwar auch Vollzeitkämpfer, ihre Spezialtruppen, die sogenannten Roten Einheiten, viele andere sind aber Freizeitkämpfer und Leute, die zeitweilig mobilisiert werden können. Jetzt gibt es Zulauf von der anderen Seite der Grenze, aus Pakistan: Von dort kommen afghanische Jugendliche, die eine Koranschule besuchen – diese sind auch zu großen Teilen in Händen der Taliban. Generell kann man sagen, dass die Taliban über die Jahre und auch in letzter Zeit erheblich unterschätzt worden sind, und ich nehme mich da gar nicht aus. Ansonsten liegt ihre Stärke in der Schwäche der Regierung, und diese Schwäche existiert schon seit Langem: korrupte Strukturen, innerlich zerstritten etc.

Die Regierung selbst zeigte sich lange auch gar nicht ernsthaft an Frieden interessiert, denn das würde ja mit einer Machtteilung einhergehen, man müsste Macht abgeben. Das haben sie schon intern zwischen Präsident Aschraf Ghani und Abdullah Abdullah nicht gut hinbekommen. Und jetzt sollen sie die Macht teilen mit einer inzwischen übermächtigen anderen Partei, den Taliban; schon beim Friedensprozess hat die Zentralregierung Kabul zum Teil auf die Bremse getreten. Erschwerend hinzu kommt die Ankündigung des Abzugs der ausländischen Truppen und die Art und Weise, wie dieser bedingungslos durchgezogen wird.

Ihre militärischen Erfolge feiern die Taliban nun auch im Norden des Landes. Dabei stießen die mehrheitlich paschtunischen Taliban gerade hier, in den 90er Jahren, auf großen Widerstand, insbesondere in Gestalt der »Nordallianz«, in der vor allem Tadschiken, Usbeken und Hazara kämpften. Haben sich die innerethnischen Beziehungen gewandelt zwischen Pashtunen auf der einen und anderen ethnischen Gruppen auf der anderen Seite?

Absolut, das ist auch Teil der Story. Im Norden Afghanistans haben sich die Dinge seit den 80er und 90er Jahre grundsätzlich verändert. Die Taliban haben seit 2005/2006 in Nordafghanistan sehr systematisch angefangen, ihre ersten Zellen aufzubauen, dann ihre Strukturen ausgeweitet, Leute aus den örtlichen ethnischen Gruppen integriert, und sie haben auch Verantwortung übertragen auf der Kommandeursebene, für Provinz- und Distriktgouverneure. Vor 2001 waren das im Wesentlichen Paschtunen, also sozusagen Auswärtige, die man im Norden nicht gern gesehen hat.

Was noch viel wichtiger ist: Ihr Narrativ hat unter der dortigen Geistlichkeit verfangen, nämlich das Narrativ »Der Islam ist bedroht«, wie schon unter den Sowjets; »Wir sind besetzt von den amerikanischen Imperialisten« usw. Die Geistlichkeit, die in Nordafghanistan nicht wirklich eine politische Heimat hatte, hat diese nach 2001 mit den Taliban gefunden. Und dann haben die Taliban allen Beteiligten, der afghanischen Regierung, auch den Amerikanern, gezeigt, dass auf die Warlords und die Milizen dort nicht viel Verlass ist – nicht nur im Norden, auch im Südosten. Viele Distrikte und jetzt Provinzen sind ja kampflos an sie gefallen.

Kandahar und Herat sind gefallen, am Freitag haben die Taliban die Provinzhauptstadt Pol-e Alam erobert und stehen nur noch 50 Kilometer südlich von Kabul; die Nato hat am selben Tag eine Dringlichkeitssitzung einberufen. Der US-Sondergesandte Zalmay Khalilzad war diese Woche in Doha, um die Taliban zu besänftigen und zum Einstellen ihrer Offensive zu bewegen. Wie realistisch ist das?

Politische Augenwischerei. Gerade Khalilzad ist für das Desaster des US-Taliban-Abkommens 2020 verantwortlich, aus dem die afghanische Regierung rausgehalten wurde. Von der kann man ja halten, was man will, aber es ist die international anerkannte. Und es ist auch nicht gelungen, das, was die Delegation der Islamischen Republik Afghanistan genannt wurde, also Kabul, auf breitere Füße zu stellen, unter Einschluss der Zivilgesellschaft, über die bewaffneten Fraktionen hinaus. Das wird den Krieg in Afghanistan nicht beenden.

Khalilzad hatte immer freie Hand in den Verhandlungen, speziell als jemand, der aus Afghanistan kommt, die Sprachen spricht und mit den Leuten direkt redet. Auch von seinen Mitarbeitern haben viele wohl gar nicht mitgekriegt, was der da wirklich beredet hat. Er hat sehr große Macht, und die hat er immer noch. Das ist einer der späteren Fehler Bidens, ihn nicht abgelöst zu haben.

Würden Sie die derzeitige Lage allein dem Truppenabzug anlasten?

Nein, letztendlich ist das ein 20-jähriges Problem, das sich immer mehr aufgebaut hat und wovor die Regierungen im Westen bis kurz vor Schluss die Augen verschlossen haben. Jetzt spricht sogar Ministerin Kramp-Karrenbauer vom »unseligen« US-Taliban-Abkommen. Aber das soll auch bemänteln, dass man selbst Hauptverursacher der jetzigen Misere ist – ohne die afghanischen Eliten und die Führung da freisprechen zu wollen.

Es wird immer wieder darüber spekuliert, ob die Taliban sich geändert hätten, insbesondere, was ihre strengen Moralvorstellungen angeht und die daraus resultierenden Einschränkungen, vor allem für Frauen. Wie sehen Sie das?

Es gibt graduelle Veränderungen. Das sind nicht mehr die Taliban von vor 2001. Viele junge Kämpfer sind dazugekommen. Die haben ihre Verwandten ersetzt, die von den Amerikanern umgebracht worden sind. Die Moralvorstellungen werden sowieso geprägt von der afghanischen Gesellschaft, die sehr konservativ ist und auch durch den Widerstand gegen die sowjetische Besatzung konservativer geworden ist. Es ist nicht andersherum. Die Taliban setzten es dann gegenüber denen durch, die da nicht mitmachten.

Die Taliban haben sich insbesondere auf der Ebene der praktischen Politik verändert, aber sicherlich nicht in ihrer politischen Grundeinstellung. Sie haben 20 Jahre lang gelernt und ein wirklich erstaunliches Comeback hingelegt. Das macht sie natürlich sehr selbstbewusst. Derzeit gibt es zwei Tendenzen. Die eine ist die, die man auch in den Medien hört: »Wir gewinnen jetzt und üben Rache gegen alle diese Knechte der Amerikaner.« Und die anderen sagen, und das sind auch die Statements der Taliban-Führung: »Nein, niemand soll sich vor uns fürchten, wir wollen mit allen zusammenarbeiten.« Aber natürlich im Rahmen einer zukünftigen Staatsordnung und eines politischen Systems, das sie bestimmen, und das würde auf der Scharia basieren. Aber man muss den Leser*innen auch erklären, dass Scharia auch eine Auslegungssache ist und nicht nur mittelalterliche Strafen.

Es gibt eine schwache Hoffnung: Afghanistan wird auch mit einer Taliban-Regierung weiter von auswärtigen Mitteln abhängig sein. Sie können es sich also nicht mit der internationalen Gemeinschaft verscherzen und das Regime wieder so aufbauen, wie es bis 2001 an der Macht war.

Hamid Karsai hat im Juli in einem FAZ-Interview gesagt: »Die Taliban gehören zu diesem Land, sie sind Landsleute.« Das würde bedeuten, dass man wohl oder übel eine Übereinkunft finden muss, da die Taliban nicht einfach verschwinden werden.

Dazu lässt sich nichts weiter sagen, das ist so. Aber man muss ihnen natürlich Widerstand entgegensetzen bei einem eventuellen Rollback von Freiheitsrechten und den Taliban-Gegner*innen in Afghanistan dabei helfen. Die Spielräume werden allerdings klein sein.

Was war Ihrer Ansicht nach der größte Fehler, der zu dieser Lage geführt hat?

Die großen Fehler liegen ganz am Anfang. Es geht wirklich um 2001/2002, als der Krieg gegen den Terror Priorität über institutionellen und sozio-ökonomischen Wiederaufbau gewonnen hat. All das hat man letztlich der Bündnispolitik mit den Warlords geopfert.


(Etwas) ältere Einschätzungen von mir hier.