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Afghanistan, Aschraf Ghani, Dr Abdullah, Hamed Karsai, Hekmatjar, Kabul, Machtübernahme, Mulla Baradar, Taleban
Hier meine Zusammenfassung der letzten Ereignisse in Afghanistan in zwei Artikeln in der taz, mit dem jüngsten von heute (16.8. online; Print 17.8.) beginnend:
Zuvor mein Zitat aus dem Tagesspiegel:
„Am Ende wurden die Taleban unterschätzt und die afghanische Armee überschätzt“, sagt der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig. „Über Jahre hat man sich daran gewöhnt, das Bild von Afghanistan zu schönen.“

Taleban übernehmen Afghanistan: Die letzten Tage von Kabul
Auf die Machtübernahme der Taleban folgen Chaos und Angst: Plünderungen, Selbstzensur, Angriffe auf Frauen.
BERLIN taz | Die geordnete Machtübergabe an die Taleban ist gescheitert. Der Plan der USA und der Regierung in Kabul, eine Übergangsregierung unter ihrem Einschluss zu bilden, brach zusammen, bevor er zu Ende diskutiert werden konnte. Auch eine zweiwöchige Feuerpause, um die Übergabe geordnet zu managen, kam nicht zustande. Stattdessen übernahmen die Taleban ungehindert die alleinige Macht. Bereits am Abend saß der Chef ihrer Militärkommission, also der Quasiverteidigungsminister, Qari Salahuddin, im Kabuler Präsidentenpalast.
Am Montag erklärten sie den Krieg für beendet, das sie nun das gesamte Land kontrollierten. Das stimmt nicht ganz. Die kleine Provinz Pandschir nördlich von Kabul, als Anti-Taleban-Hochburg bekannt, ist wohl noch nicht besetzt.
Talebansprecher Muhammad Naim teilte gestern mit, die Bewegung würde mit der Regierungsbildung beginnen. Man wolle „kein isoliertes Land“ regieren – ein Gesprächsangebot an die Weltgemeinschaft. Talebanvizechef Mulla Baradar sprach von einer „offenen, inklusiven islamischen Regierung“, ein Zeichen, dass auch Nichttaleban einbezogen werden sollen. Das könnte auch die Erklärung dafür sein, dass die erwartete Ausrufung eines islamischen Emirats noch nicht erfolgte.
Der Machtübernahme der Taleban leistete Vorschub, dass der bisherige Präsident Aschraf Ghani am Sonntagnachmittag das Land verlassen hatte. Unklar blieb, ob das eine Vorbedingung der Taleban für eine Übergangslösung war oder der USA, die ihn schon lang nicht mehr unterstützten, oder eine überstürzte Flucht. Mit seinen zwei engsten Vertrauten, dem nationalen Sicherheitsberater, Hamdullah Moheb, und seinem engsten Mitarbeiter, Fasl Fasli, ließ er sich zunächst nach Tadschikistan fliegen und von dort aus nach unbestätigten Berichten nach Oman. Ghani besitzt die US-Staatsbürgerschaft, Moheb ist afghanisch-britischer und Fasli afghanisch-schwedischer Staatsbürger.
Warlords und Regierungsmitglieder flüchten ins Ausland
Aus den sozialen Medien schlagen Ghani nun Anschuldigungen entgegen, er sei mit großen Geldbeträgen ausgereist. Dazu kommen Wut über sein Scheitern nach Jahren großsprecherischer Pläne und Häme. Noch kürzlich hatte Ghani erklärt, er würde lieber im Amt sterben als fliehen.
Nach Ghanis Flucht entstand ein Dreierrat, der für sich in Anspruch nahm, mit den Taleban weiter über deren Machtübernahme zu verhandeln – offenbar auch in der Hoffnung, dabei selbst weiter eine politische Rolle spielen zu können. Dazu gehören der frühere Präsident Hamed Karsai, der berüchtigte Mudschaheddinführer Gulbuddin Hekmatjar und Ghanis interner Hauptrivale Abdullah, zuletzt Vorsitzender des für Verhandlungen mit den Taliban zuständigen Rats für Nationale Versöhnung. Die Taleban haben bisher kein Zeichen ausgesandt, dass sie diesen Rat ernst nehmen. Währenddessen haben sich führende Warlords und Regierungsmitglieder ins Ausland gerettet.
Keine Kämpfe in Kabul
Nach Ghanis Abreise lösten sich die letzten Regierungsstrukturen auf. Darunter war die Polizei, die bis zum Abend aus dem Stadtbild Kabuls verschwand. Daraufhin kam es zu ersten Plünderungen und Überfällen auf Passanten. Viele Teile Kabuls wurden über das vergangene Jahr zunehmend von kriminellen Netzwerken geplagt, die teilweise von hohen Politikern protegiert wurden. Sie versorgten sich offenbar mit Waffen der sich auflösenden Polizei, oder Polizisten schlossen sich ihnen an. Das nahmen die Taleban zum Anlass, entgegen früheren Zusagen nach Kabul einzurücken. Bereits am Sonntagabend hatten sie alle Polizeikommandanturen in Kabul übernommen, einen ehemaligen Parlamentsabgeordneten als Polizeichef (das wurde später dementiert) und einen Gouverneur aus den eigenen Reihen eingesetzt. Ab 21 Uhr galt eine nächtliche Ausgangssperre.
Gekämpft wurde in Kabul nicht, wie das Internationale Rote Kreuz gestern bestätigte. Kontakte der taz in Kabul berichteten aus den Stadtteilen Kart-e Nau im Südosten und Chuschhal Mena im Wesen, dass einige Geschäfte wie Bäckereien geöffnet, aber Banken noch geschlossen seien, die aber wieder Geld von der Zentralbank erhalten sollen. Autos würden zwar kontrolliert, aber nicht durchsucht. Dies gelte auch für weibliches Personal. Es wurde auch berichtet, Taleban suchten nach gepanzerten Fahrzeugen und solchen von Armee und Polizei, offenbar um sie zu beschlagnahmen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich vereinzelt um Kriminelle handelt, die sich als Taliban ausgeben und die Angst der Bevölkerung ausnutzen.
Angst vor den Taleban
Internet- und Stromversorgung liefen normal, damit auch weiter unabhängige afghanische Onlinemedien. Der unabhängige Sender Tolo in Kabul sei nach Waffen durchsucht worden; die Taleban hätten die des Sicherheitspersonals eingezogen, aber zugesichert, den Sender zu schützen. Das berichtete Tolo über Twitter. Einige TV- und Radiosender hätten ihr Programm „gemäßigt“ und „islamisiert“, hieß es in sozialen Medien. In einem Sender war noch eine Sprecherin im einfachen Kopftuch zu sehen.
Eine Talebandelegation suchte den Gesundheitsminister Wahid Madschruh auf und ersuchte ihn, „wie bisher“ weiterzuarbeiten, ausdrücklich auch Ärztinnen. In Kundus sollen Behördenmitarbeiterinnen von der Arbeit nach Hause geschickt worden sein, in Kabul Studentinnen. Es könne aber auch vorauseilender Gehorsam der Universitätsverwaltung sein. Ebenfalls auf sozialen Medien hieß es, die Furcht vor den Taleban „vergifte“ bereits den öffentlichen Raum. Frauen und Mädchen würden von Passanten beschimpft, dass die Taleban „wegen euch“ gekommen seien und sie jetzt „disziplinieren“ würden.


Hier in Rückblick auf die Ereignisse des Vortags (Print-taz vom 16.8.):
Präsident Ghani hat Afghanistan verlassen: Taleban übernehmen die Kontrolle
Afghanistans bisherige Regierung streckt die Waffen. Gemeinsam mit den USA handelt sie die Machtübergabe an die Taleban aus.
In Afghanistans Hauptstadt Kabul hat die US-Regierung offenbar eine kampflose Machtübernahme durch die Taleban arrangiert. Nachdem das afghanische Führungsmitglied Abdullah Abdullah am Sonntagnachmittag bestätigte, dass der bisherige Präsident Aschraf Ghani das Land in Richtung Tadschikistan verlassen hat, ordnete die Taleban-Führung den Einmarsch ihrer Kämpfer in die afghanische Hauptstadt an – um angesichts der Flucht der bisherigen Machthaber Plünderungen zu verhindern und damit anderen Menschen kein Schaden zugefügt werde, wie es in einer Erklärung hieß.
Seit Freitag hatten die Taleban fast alle noch in Regierungshand befindlichen Provinzhauptstädte ohne Gegenwehr eingenommen und am Sonntagmorgen waren sie in einige Außenbezirke Kabuls eingerückt. Zunächst ordnete die Taleban-Führung an, ihre Kämpfer sollten Kabul „nicht mit Gewalt“ betreten.
Afghanistans bisheriger Innenminister Abdul Sattar Mirsakwal und Verteidigungsminister Bismillah Muhammadi wandten sich mit der Zusicherung an die Bevölkerung, es werde nicht zu Kämpfen kommen. Damit war klar, dass Afghanistans Armee und Polizei keinen Widerstand mehr leisten und Straßenkämpfe vermieden würden.
Taleban-Sprecher Suhail Schahin sagte der BBC aus Katars Hauptstadt Doha, es werde in Kabul „keine Rache an irgendjemandem“ geben. Die Stadt solle dem „Islamischen Emirat von Afghanistan“ friedlich übergeben werden.
Abzug abgeschlossen?
Unter Berufung auf diplomatische Quellen und afghanische Regierungsmitglieder sickerte durch, dass Taleban-Vizechef Mulla Abdul Ghani Baradar sich auf dem Weg aus Katar nach Kabul befinde, um die Machtübergabe zu arrangieren. Neben den USA seien der Chef des afghanischen Friedensrates und frühere Oppositionsführer Abdullah und Ex-Staatschef Hamed Karsai beteiligt.
Präsident Ghani war in die Verhandlungen nur indirekt über den US-Sonderbeauftragten Zalmay Khalilzad einbezogen. Die Taleban haben sich bis zum Schluss geweigert, seine Regierung anzuerkennen und mit ihr direkt zu verhandeln. Ghani dürfte künftig keine politische Rolle mehr spielen.
Mit der Machtübernahme durch die Taleban endet auch die direkte Rolle des US-geführten Westens in Afghanistan. Einige westliche Regierungen evakuierten gestern ihr Botschaftspersonal, andere Staatsangehörige sowie einen Teil ihrer örtlichen Angestellten.
Dazu beorderte US-Präsident Joe Biden am Sonnabend 1.000 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan, zusätzlich zu 650 Botschaftsschützern und 3.000 weiteren noch nicht abgezogenen Soldaten. Mit der Evakuierung dürfte auch deren Abzug abgeschlossen sein, mit Ausnahme des Schutzes der US-Botschaft, die unter US-Kontrolle bleibt.
Deal mit den Banken
Tatsächlich wurde gestern in Kabul nicht gekämpft, wie Kontakte in der Kabuler Bevölkerung bestätigten. Sie bestätigten auch die Anwesenheit von Taleban-Kämpfern im südöstlichen Stadtteil Kart-e Nau, im nördlichen Bagh-e Bala und im westlichen Chuschhal Mena. Im Osten, in Pul-e Tscharkhi, öffneten sie die Tore des dortigen Zentralgefängnisses, wo Tausende ihrer Mitkämpfer einsaßen.
Bei Schüssen, über die berichtet wurde, handelte es sich offenbar um die Polizei, die in die Luft schoss, um Menschenmengen zu zerstreuen. Auch das bestätigte ein taz-Kontakt für den Stadtteil Darulaman.
Am Freitag und Sonnabend hatten sich vor den Banken in Kabul lange Schlangen von Menschen gebildet. Aber Bargeld war nicht mehr vorhanden. Offenbar gab es bereits eine Abmachung mit den Taleban, dass die Nationalbank, die den Geldfluss kontrolliert, ihre Überweisungen an die Privatbanken, bei denen die meisten Menschen ihre Konten haben, kurzzeitig einstellt.
Die Taleban sollen den Privatbanken Schutz und ungestörten Geschäftsablauf zugesichert haben. Damit sollten offenbar auch Plünderungen sowie Abfluss ins Ausland verhindert werden. Besonders dieser Fakt deutet darauf hin, dass die Machtübergabe bereits länger geplant war.
Viele Warlords offenbar auf der Flucht
Der Fall von Kabul erfolgte dennoch schneller als von vielen erwartet. Erst am Freitag war mit der nordafghanischen Stadt Masar-e Scharif, dem letzten Stationierungsort der Bundeswehr, Afghanistans vorletzte Großstadt an die Taleban gefallen. Gestern folgten die beiden letzten Regionalzentren, Dschalalabad im Osten und Bamian in Zentralafghanistan, sowie die Provinzhauptstadt Maidanschahr am Südwestrand Kabuls und mehrere ländliche Distrikte der Provinz Kabul.
Bamian liegt im Siedlungsgebiet der schiitischen Hasara, die besonders unter dem Talebanregime vor 2001 gelitten hatten. Aber das Gebiet war nicht mehr zu halten, nachdem mehrere ihrer Warlords entweder zu den Taleban übergelaufen waren oder mit ihnen Deals geschlossen hatten. Auch der Militärstützpunkt Bagram, nördlich von Kabul, bis vor Kurzem Hauptquartier der US-Militärs, wurde kampflos übergeben.
Die Warlords, die bisherigen US-Hauptverbündeten im Kampf gegen die Taleban, waren schnell aus dem Feld geschlagen. Ihre Milizen leisteten wie Armee und Polizei kaum Widerstand. Zwei der wichtigsten, Abdul Raschid Dostum und Atta Muhammad Nur, flohen offenbar über die afghanische Nordgrenze nach Zentralasien, nachdem sie sich in den letzten Tagen noch einmal martialisch in ihren Generalsuniformen fotografieren ließen.
Auch Vizepräsident Amrullah Saleh, enger Vertrauter des 2001 von al-Qaeda ermordeten Mudschaheddinführers Ahmad Schah Massud sowie der USA, verschwand von der Bildfläche. Zuletzt war er schon einmal in Tadschikistan aufgetaucht, von wo aus Massud in den 1990er Jahren den Widerstand organisiert hatte. Saleh könnte versuchen, das nachzumachen. Massuds Hochburg, das Pandschirtal, wurde bisher noch nicht von Talebankämpfern besetzt.
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