Schlagwörter
Afghanistan, Armut, Energieversorgung, humanitäre Hilfe, Hungersnot, Islamischer Staat, Kundus, Lebensmittelpreise, Masar-e Scharif, Mädchenschulen, Medien, Sarepul, Staatsguthaben, Taleban, Wirtschaft
Hier eine etwas ausführlichere Version eines Bilanzartikels nach zwei Monaten Taleban-Herrschaft in Afghanistan, der am 6.10.2021 im nd erschien.
Zuvor aber noch zwei Hinweise auf Online-Veranstaltungen heute und morgen mit meiner Beteiligung:
- heute abend (11.10.) bei der Heinrich-Boell-Stiftung: „Wie kann Deutschland legale Fluchtwege ermöglichen?“ – mehr hier
- morgen abend (12.10.) bei der Evangelischen Akademie Tutzing: ZDF-Anstalt-Nachlese zum Thema Afghanistan – mehr hier
Schon gelaufen: ein Online-Panel mit einem polnischen (PISM) und einem norwegischen Institut (NUPI), zum Nachhören hier entlang (auf Englisch).
Auf deutsch gibts dieses Interview auf tagesschau24.
Afghanistan steht vor Blackout und Hungersnot
Unter den Taleban bricht Afghanistans ohnehin schwache Wirtschaft zusammen – Quasi-Sanktionen tragen dazu bei
Zum Anfang eine zumindest teilweise gute Nachricht, die noch nicht im nd-Text enthalten ist. Sie belegt, dass sich die Situation in Taleban-Afghanistan uneindeutiger darbietet, als man oft den Eindeuck erhält: Der afghanische Sender Tolo TV sendete vorgestern (am 9.10.2021) ein Video, das zeigt, wie Schülerinnen von Klasse 1 bis 12 – entgegen der örtliche verhängten Schließung von Mädchenschulen über Klasse 6 hinaus – zumindest in Masar-e Scharif (sowie laut Bericht in den Provinzen Kundus und Sarepul) wieder zur Schule gehen können.

In Afghanistan Großstädten leidet die Bevölkerung unter dem Wirtschaftskollaps. Die US-Regierung fror nach der Machtübernahme der Taleban Mitte August die afghanischen Staatsguthaben ein, die sich auf neun Milliarden US-Dollar belaufen sollen. Weltbank, Internationaler Währungsfonds und zahlreiche Regierungen bisheriger Geberländer, darunter die deutsche Bundesregierung, stellten die Zahlungen für langfristige Entwicklungsvorhaben ein, aus denen oft auch Gehälter für die afghanischen Angestellten der Regierung und Projektumsetzer der Nichtregierungsorganisationen bestritten wurden. Bis dahin wurden nach Angaben von früheren Regierungsinsidern jeden dritten Monat 249 Millionen Dollar nach Kabul eingeflogen, um die Regierung von Präsident Aschraf Ghani liquide zu halten. Die Maßnahme war ursprünglich dafür gedacht, die systemische Korruption unter der westlich gestützten Ghani-Regierung zur einzudämmen, soll nun aber die international nicht anerkannte Taleban-Regierung treffen. Doch am meisten leidet die Bevölkerung, die bereits zuvor zu etwa vier Fünfteln unter der Armutsgrenze lebte.
Vor den Banken bilden sich immer noch lange Schlangen, denn die Taleban haben wegen der Bargeldknappheit angeordnet, dass Kontoinhaber umgerechnet nur 200 US-Dollar pro Woche abheben können, allerdings nur in der Landeswährung Afghani, die etwa fünf Prozent ihres Wertes verloren hat, aber noch drastischer abstürzen könnte. [Das soll inzwischen auf 5 Prozent des Gesamtguthabens erhöht worden sein.] Auch Gehälter von Regierungsangestellten, darunter Polizisten und Lehrer:innen, werden nach monatelanger Pause erst wieder teilweise gezahlt. Importeure lebenswichtiger Waren können ihre Lieferanten nicht bezahlen.
Augenzeugen berichten aus Kabul und Masar-e Scharif, dass zahlreiche Familien versuchten, Haushaltsgegenstände zu Geld zu machen. [Auch afghanische Medien berichteten darüber.] Aber es gäbe kaum Käufer. Der Inhaber eines Bekleidungsgeschäfts im Hauptbasar von Kabul sagte, er habe kaum noch Umsatz. Es reiche kaum noch, das Brot für die eigene Familie aufzubringen. Viele Nachbargeschäfte hätten bereits geschlossen. Zudem die Lebensmittelpreise sind gestiegen, die EU spricht von teilweise „über 50 Prozent“. Das betrifft auch Kochgas; die meisten Afghan:innen sind dafür auf nachfüllbare Gasflaschen angewiesen.
Nun droht auch ein Kollaps der Energieversorgung. Die Taleban können die von der Vorgängerregierung übernommenen Schulden von 90 Millionen US-Dollar bei den Lieferanten Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan nicht bezahlen. 70 Prozent des afghanischen Strombedarfs kommen [laut dem britischen Think Tank Chatham House] aus dem Ausland. Das könnte die Menschen auch von Online- und sozialen Medien abschneiden, über die wichtige und v.a. unabhängige Informationen geteilt werden.
Wie es in den Provinzen oder gar den Landgebieten aussieht, ist kaum zu ermitteln, weil Netzwerke von Kontakten sowie die afghanischen Medien zusammenbrechen. Auch die Medien können ihre Mitarbeiter nicht mehr bezahlen. Die Journalistenunion Afghanistans berichtete am Sonntag, 70 Prozent aller Medien hätten ihre Arbeit eingestellt. Die Vorschriften der Taleban, die ein hinderliches Genehmigungsregime für die Berichterstattung eingerichtet haben, engen den Spielraum der vor allem noch online aktiven Medien weiter ein.
Das UN-Entwicklungsprogramm UNDP warnte in September, dass bis Mitte nächsten Jahres 97 Prozent der Bevölkerung in Armut leben könnten, wenn die Wirtschaft nicht wieder anspringt. Die von Geberländern zugesagte humanitäre Hilfe, die sogar erhöht worden ist, kann nur die unmittelbaren Folgen der Krise lindern, etwa durch Nahrungsmittellieferungen. Aber das könnte sich zur Kreislauf entwickeln, aus dem große Teile der Bevölkerung nur schwer wieder ausbrechen können.
Hinzu kommt, dass die Taleban-Machtübernahme auch die Terrorgefahr nicht gebannt hat. Der afghanische Ableger des Islamischen Staates ISKP hat sich seit Mitte August zu mehreren Anschlägen auf Taleban-Patrouillen in Kabul und Dschalalabad bekannt. Möglicherweise steckt die Gruppe auch hinter dem Anschlag auf eine Trauerfeier für die verstorbene Mutter von Talebansprecher Sabihullah Mudschahed am 3. Oktober in der Kabuler Idgah-Moschee, bei dem mindestens fünf Menschen getötet oder verletzt wurden. Davon gehen jedenfalls die Taleban aus, die als Reaktion darauf Razzien gegen angebliche ISKP-Schlupfwinkel in Kabul durchführten. [Inzwischen bekannte sich der IS dazu.] Auch innerhalb der Talibanregierung scheint es Spannungen, wenn nicht Flügelkämpfe zu geben. Auf alle Fälle scheinen die Hardliner den Ton abzugeben, wie die Umsetzung der Geschlechtertrennung nun auch an den Universitäten sowie der erneute Ausschluss von Frauen aus den meisten Berufen zeigt.
Unterdessen versucht die UNO, Kanäle zu den Taleban offenzuhalten, um humanitäre Hilfe ins Land bringen zu können und die Folgen der Corona-Pandemie zu dämpfen. Zu diesem Zweck traf Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Chef der Weltgesundheitsorganisation, Regierungschef Mullah Muhammad Hassan Rahmani, wie das von den neuen Machthabern kontrollierte Staatsfernsehen am 20. September berichtete. Details wurden nicht bekannt.
Das gleiche gilt für die EU. Der Außenbeauftragte Josip Borrell schrieb am 3. Oktober in seinem Blog, dass Brüssel „Leute im Land braucht, zusätzlich zu unseren humanitären Mitarbeitern“ – also für niederschwellige politische Kontakte. Er stellte allerdings Bedingungen, darunter freien Zugang für die humanitären Helfer:innen, aber auch die „Achtung von Frauenrechten und der Pressefreiheit“. Das dürfte allerdings ein zähes Ringen mit den Taleban werden. Borrell identifiziert dafür drei Hebel, nämlich das Interesse der Taleban an einer diplomatischen Anerkennung, der Freigabe der afghanischen Guthaben und der Aufhebung von UN-Sanktionen.
Thomas Ruttig
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