Schlagwörter
AAN, Afghanistan, Armut, Ghor, Lal wa Sar Jangal, Luftbrücke Kabul, Tagelöhner, Taleban, taz-talk, Verschuldung, Wirtschaftskollaps
In der Reihe taz-talk findet am kommenden Freitag abend folgende Online-Veranstaltung statt: „Afghanistan und seine Menschen: Zwischen Taliban und humanitärer Not – Überlebensstrategien am Hindukusch von Flucht bis Selbsthilfe. Wie ist die Lage vor Ort und was können wir tun?“
Wann: Fr., 10.12.2021, 19 Uhr
Kontakt: taztalk@taz.de
Wie sieht konkret die Lage der Menschen vor Ort aus, welche Überlebensstrategien haben sie auch jenseits von Flucht und Drogenanbau? Gibt es Ansätze von Hilfe und Selbsthilfe? Wie können Nichtregierungsorganisationen aus Deutschland helfen und welche nationalen und internationalen Perspektiven gibt es für das Land und seine Menschen? Diese Fragen diskutieren:
Lena-Lotte Agger, PR-Managerin und Aktivistin der Luftbrücke Kabul und Civil-fleet e.V., Fotografin
Theresa Breuer, Dokumentarfilmerin, Journalistin und Initiatorin von Luftbrücke Kabul, zugeschaltet aus Kabul
Thomas Ruttig, Co-Gründer Afghanistan Analysts Network und langjähriger taz-Korrespondent
Moderation: Sven Hansen, Asienredakteur der taz
Wann: Fr., 10.12.2021, 19 Uhr
Kontakt: taztalk@taz.de
Mehr Information:
https://taz.de/Afghanistan-und-seine-Menschen/!5819510/

Leben in einer kollabierten Wirtschaft
Im Sommer 2021 startete meine Organisation AAN ein neues Forschungsprojekt unter dem Titel „Leben unter den Taleban“. Wir untersuchten, wie sich das Leben in Distrikten verändert hatte, die in hohem Tempo nacheinander unter die Kontrolle der Taleban kamen. Dann brach die vom Westen gestützte Islamische Republik zusammen, nur wenige Tage nachdem wir unsere ersten Interviews geführt hatten. Als wir den Faden wieder aufgriffen, unter dem neuen Titel „Leben in einer kollabierten Wirtschaft“, war die Botschaft aus den Gesprächen laut und deutlich: Das neue Regime hatte viele Veränderungen und Unsicherheit gebracht, es gab große Orientierungslosigkeit, manchmal sogar Hoffnungen – aber vor allem machten sich die Leute große Sorgen um die Wirtschaftskollaps und den kommenden Winter. Im ersten Teil einer nun veröffentlichten neuen Serie sehen wir uns an, wie die Situation sich in den Haushalten einzelner Menschen aussieht: einer großen städtischen Mittelschichtsfamilie, eines landlosen Arbeiters in einer abgelegenen und armen Gegend, eines kleinen Händlers mit Garten, dem Besitzer einer kleinen Fabrik und einem ehemaligen Arbeiter in einem der Golfstaaten, in fünf verschiedenen Provinzen. Die Fragen wurden nach einem einheitlichen Fragebogen gestellt.
Hier die Übersetzung eines des fünf Interviews (die übrigen finden sich hier bei AAN, auf Englisch):
„Ich habe eine Decke verkauft, um einen Kanister Benzin zu kaufen, aber es war nicht genug“
Interview mit einem Gelegenheitsarbeiter in Lal wa Sar Jangal, einem Distrikt in der Provinz Ghor
Wir sind eine achtköpfige Familie in einem alten Lehmhaus (ich, meine Frau, drei Söhne, eine Tochter, die Frau meines Sohns und mein Enkel). Ich habe seit meiner Jugend als Gelegenheitslandarbeiter (dehqan) gearbeitet. Deshalb habe ich mein ganzes Leben in Armut gelebt. Jetzt machen es auch meine [zwei] Söhne – sie sind 15 und 17 Jahre alt. Der dritte ist 20 Jahre alt, aber er hat eine Behinderung. In guten Zeiten verdienten sie 10-20.000 Afghani (damals 130-260 USD) pro Saison, und wir kauften Mehl, Reis und Öl. Aber die meiste Zeit arbeiten sie im Austausch für Nahrung. In schlechten Zeiten musste meine Familie manchmal Wildpflanzen (alaf) essen.
Ich arbeite auch noch als Tagelöhner, zum Beispiel habe ich Menschen geholfen, die Brennholz aus den Bergen holen mussten, aber nur gegen Essen. Die Leute zahlen jetzt kein Geld. Unsere wirtschaftliche Lage verschlechtert sich von Tag zu Tag. Und das nicht nur für uns – die meisten Menschen hier leben in Armut. Manche sind sogar in einer schlechteren Position als ich.
Zwei meiner Kinder gingen zur Schule, ein Mädchen und ein Junge; sie waren in der 8. und 7. Klasse. Sie arbeiten jetzt nicht mit, weil es keine Arbeit gibt. Mein Sohn, der den halben Tag in der Schule ist, findet keine Teilzeitarbeit, auch nicht gegen eine Mahlzeit. Keiner von uns arbeitet oder hat ein Einkommen. Es ist Winter und die Straßen sind durch Schnee unpassierbar. Fast sieben Monate im Jahr liegt hier Schnee.
Wir müssen uns noch Geld leihen. Meine Söhne haben bei einem meiner Freunde einen Kredit aufgenommen, weil meine Frau und ich das Coronavirus hatten. Sie liehen 50.000 AFG (530 USD). Wir benutzten es, um den Arzt und den Transport zu bezahlen, um dorthin zu gelangen, und für Medikamente und etwas zu essen. Wir mussten uns Geld leihen, um unser Leben zu retten. Ich kann wegen Corona immer noch nicht richtig atmen, aber ich kann es mir nicht leisten, es behandeln zu lassen. Ich kann kaum das Essen finden, das ich brauche.
Ich habe nichts, was ich verkaufen kann, wie Kühe, Schafe oder Land, also habe ich meinem Freund gesagt, er solle das Geld, das ich ihm schulde, erst im kommenden Frühjahr zurückverlangen. Aber es ist zu viel. Meine Söhne und ich konnten nicht einmal einen Afghani verdienen. Das letzte Mal, dass ich Geld bekommen habe, war im letzten Frühjahr. Meine Söhne arbeiteten auf dem Land von jemandem, aber die Ernte erfror und sie bekamen nichts. Ich habe also kein Geld zum Ausgeben und überlege nur, wie ich diesen großen Kredit zurückzahlen kann.
Vorher habe ich mir manchmal Geld geliehen, aber nie mehr als 6.000 AFG (64 USD). Unsere Schuhe sind sehr alt, aber wir haben kein Geld, also müssen wir Schuhe mit Löchern tragen. Ich habe versucht, mir Geld zu leihen, aber die Leute wollen es nicht geben, weil sie wissen, dass ich es so schnell nicht zurückzahlen kann.
Wir haben vor kurzem eine Decke für 300 AFG (drei USD) verkauft, weil wir einen Kanister Benzin kaufen wollten, aber es war zu teuer – ich konnte es mir nicht leisten. Wir haben vor knapp 20 Tagen Hilfe von einer Organisation bekommen: zwei Flaschen Speiseöl à ein Liter und zwei Kilo Bohnen. Dies hat uns sehr geholfen. Ich habe nichts anderes von einer Organisation oder Person erhalten.
Das Islamische Emirate (die Taleban) verlangen von den Leuten Uschr (eine religiöse Steuer), aber ich habe nicht bezahlt, weil ich nichts habe.
Die Preise für alles sind gestiegen. Besonders die hohen Kosten für Speiseöl und Mehl haben mein Leben beeinflusst. Der Preis für einen Sack Mehl beträgt mittlerweile fast 3.000 AFG (32 USD), und Mehl ist nicht leicht zu finden. Ich mache mir große Sorgen um den Winter. Ich wünschte, ich könnte 50 AFG (0,50 USD) pro Tag verdienen, aber es gibt keine Arbeit. Ich kann nicht einmal Öl, Reis und Mehl kaufen. Ich befürchte, wir könnten verhungern.
Vor kurzem habe ich einen halben Sack Mehl gekauft, konnte ihn aber noch nicht bezahlen. Ich habe schon sehr lange kein Obst, Gemüse oder Fleisch mehr gegessen. Unser bestes Essen ist im Moment Kartoffelsuppe, aber meistens essen wir nur trockenes Brot. In der letzten Woche habe ich meistens Kartoffeln oder Brot mit abgekochtem Wasser gegessen.

Ich habe keine Pläne für die Zukunft, weil ich weder Arbeit noch Einkommen habe. Ich hoffe, dass eine Organisation oder die Regierung oder einige Privatpersonen uns Geld geben, aber niemand hat mit uns gesprochen oder uns für zukünftige Hilfe aufgelistet.
Ich konnte noch nie jemand anderem helfen, weil ich schon sehr lange arm war und mein Vater und meine Großväter in derselben Situation lebten. Manchmal bitten mich die Leute, für eine Mahlzeit auf ihre Schafe aufzupassen; sie sind froh, wenn ich es tue. Im Allgemeinen bin ich dankbar, dass ich lebe und fast gesund bin. Es gibt Menschen in einer schlimmeren Situation als ich. Von 60 Familien hier sind nur vier Familien wirtschaftlich besser als wir. Es gibt Waisen und alte Leute und Witwen, denen es schlechter geht. Es gibt Menschen, die krank sind und kein Geld für eine Behandlung haben, also sterben sie.
Früher hatte ich Pläne, Geld zu sparen und es für meine Söhne auszugeben, damit sie etwas lernen, aber leider konnte ich es nicht tun. Ich wünschte, ich hätte genug Geld, um genug zu essen und ein Haus zu kaufen. Ich wünschte, ich könnte Geld für die Ausbildung meiner Kinder ausgeben und sie alle zur Schule schicken.
Frühere AAN-Berichterstattung über Ghor findet sich hier.
Wer für Menschen in Afghanistan spenden will, hier möglich Adressen:
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