Schlagwörter
AAN, Afghanistan, Armut, Dürre, Kutschi, Paktia, Surmat, Taleban, Wirtschaftskollaps
Im Sommer 2021 startete meine Organisation AAN ein neues Forschungsprojekt unter dem Titel „Leben unter den Taleban“. Wir untersuchten, wie sich das Leben in Distrikten verändert hatte, die in hohem Tempo nacheinander unter die Kontrolle der Taleban kamen. Dann brach die vom Westen gestützte Islamische Republik zusammen, nur wenige Tage nachdem wir unsere ersten Interviews geführt hatten. Als wir den Faden wieder aufgriffen, unter dem neuen Titel „Leben in einer kollabierten Wirtschaft“, war die Botschaft aus den Gesprächen laut und deutlich: Das neue Regime hat viele Veränderungen und Unsicherheit gebracht, es gab große Orientierungslosigkeit, manchmal sogar Hoffnungen – aber vor allem machten sich die Leute große Sorgen um die Wirtschaftskollaps und den kommenden Winter.
In Teil 1 sahen wir uns an, wie die Situation im Haushalte eines landlosen Arbeiters in einer abgelegenen und armen Provinz Ghor aussieht (in diesem Text). Heute geht es um einen ehemaliger Arbeiter in einem Golfstaat, der jetzt Bauer in Surmat (Provinz Paktia) ist.

Die ersten fünf originalen Interviews finden sich hier bei AAN (auf Englisch):
Ehemaliger Arbeiter in einem Golfstaat, jetzt Bauer in Surmat: „Ich wusste nicht, dass eines Tages alles kaputt und vorbei sein würde.“
In unserem Haushalt leben 12 Personen: ich, meine Frau, mein ältester Sohn mit seiner Frau und zwei Kindern, drei weitere Söhne, die zur Schule gehen, drei Töchter und meine Schwester, die Witwe ist. In unserem Haushalt hat sich nicht viel geändert. Erst letztes Jahr ist einer meiner Brüder, der bei uns wohnte, ausgezogen, weil seine Kinder älter wurden und der Platz im Haus nicht ausreichte. Ein weiterer Grund waren die wirtschaftlichen Probleme. Er ging nach Paktika und gründete dort ein kleines Geschäft. Jetzt ist seine wirtschaftliche Situation gut.
Vor dem Coronavirus und seinen Einschränkungen war auch unsere wirtschaftliche Lage gut. Ich habe in Saudi-Arabien als Taxifahrer gearbeitet und Geld nach Hause geschickt. Mein Sohn war Lehrer und verdiente auch. Ich wusste nicht, dass eines Tages alles zerstört und vorbei sein würde.
Vor zwei Jahren bin ich in den Ferien nach Hause gekommen. Zunächst gab es Reisebeschränkungen wegen Covid-19. Dann kam es im ganzen Land zu Kämpfen in den Distrikten, und schließlich stürzte die vorherige Regierung und mein Visum lief ab. Während ich zu Hause war, pachtete ich nach und nach Ackerland. Ich hatte ein kleines Stück Land, auf dem ich Weizen, Zwiebeln und Tomaten anbaute. Ich habe den Weizen zu Hause verwendet und die Zwiebeln und Tomaten verkauft.
Drei meiner Söhne waren mit ihrer Schulbildung beschäftigt, aber im Moment gehen nur die beiden jüngeren zur Schule, weil die Uni noch geschlossen ist. In unserer Gegend gibt es keine Mädchenschule, auf die ich meine Töchter schicken könnte. Meine beiden Enkel sind noch zu jung, um zur Schule zu gehen. Sie gehen zur Dorfmoschee, wo sie der Dorf-Mullah unterrichtet.
Meine drei kleinen Söhne arbeiteten nachmittags auf dem Hof, wenn sie von der Schule und der Universität nach Hause kommen. Die Tomaten haben sich sehr gut verkauft. Andere wollten, dass ich mit ihnen arbeite und Partner werde. Selbst im letzten Jahr, als es Covid-19 gab, waren die Transitwege noch offen und viele Händler kamen, um günstig bei den Bauern einzukaufen. Alle Produkte dieses Gebiets gingen nach Pakistan. Das Leben war gut.
Mit der Ankunft der Taleban wurden dann die Grenzen und Transitwege geschlossen. Jetzt gibt es keine Händler mehr, die etwas kaufen, und die meisten Produkte der Bauern verderben. Wir haben zum Beispiel letztes Jahr sieben Kilo Zwiebeln für 200 pakistanische Rupien (damals 1,25 USD) verkauft, aber in den letzten Monaten, insbesondere nach dem Fall des Distrikts an die Taleban, haben die Händler für sieben Kilo nicht einmal 50 Rupien (0,29 USD) gezahlt.


In diesem Jahr konnte ich wegen der Dürre kein Land zur Pacht finden. Niemand will sein Land jetzt teilen, weil es einfach nicht genug Einkommen gibt. Wir haben noch unser eigenes Land, aber es ist lalmi (regenbewässert), und wir können es uns nicht leisten, tiefere Brunnen zu graben oder Sonnenkollektoren zu installieren, um die Pumpe anzutreiben. Und wenn wir Wasser dazukaufen, reichen die Einnahmen aus dem Land nicht aus, um dies Ausgabe zu decken. Früher gab es Wasserkanäle, mit denen wir das Land bewässerten, aber sie sind seit mehreren Jahren trocken.
Der Verlust meines saudischen Visums war der größte Schlag für uns. Seit ich nach Afghanistan zurückgekehrt bin, habe ich immer wieder versucht, Arbeit zu finden, aber es gelang mir nicht. Hier gibt es einfach keine Arbeit. Nur mein Sohn, der Lehrer ist, arbeitet noch, bekommt aber seit vier Monaten kein Gehalt. Früher kamen wir mit seinem Gehalt irgendwie zurecht, aber jetzt ist das Leben hart geworden.
Ich habe mehrere Monate nicht gearbeitet. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wir haben nichts, nicht einmal Brot in unserem Haus. Tee finden wir nur mit großer Mühe. Ich muss mir Geld leihen, aber wegen der Dürre wird uns niemand etwas leihen. Wir haben all diese Probleme, aber wegen meiner Familie und meinen Kindern muss ich jemanden finden, von dem ich Geld leihen kann. Ich muss kaufen, was wir zu Hause brauchen. Der Winter kommt, aber die Preise sind sehr hoch. Wenn wir eine Sache kaufen, können wir nichts anderes kaufen. Manchmal kann ich bei den Ladenbesitzern Geld leihen.
Letzte Woche musste ich mir 120.000 Rupien (680 USD) leihen. In den letzten sechs Monaten habe ich von meinen Freunden insgesamt 380.000 Rupien (2150 USD) an Krediten aufgenommen. Ich habe noch nichts zurückbezahlt. Ich musste mir Geld leihen, weil jemand von uns krank war. Zuerst brachte ich ihn/sie mehrmals in die staatliche Klinik, aber es gab keine Medikamente, also musste ich ihn/sie in eine Privatklinik bringen. Das Arzthonorar und die Medikamente kosteten 20.000 Rupien (113 USD), was für mich eine riesige Summe war. Er/sie muss immer noch zu einem Arzt, aber ich habe kein Geld. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Insgesamt habe ich 100.000 Rupien (567 USD) für medizinische Behandlung ausgegeben und den Rest für Brennholz und Lebensmittel wie Mehl, Reis und Getreide. Wir sind eine große Familie. Ich fühle mich unwohl, weil ich mein gesamtes gespartes Geld ausgegeben habe und nicht weiß, wie ich meine Kredite abbezahlen soll. Wie lange soll ich mir von anderen leihen, während viele Leute kein Geld zum Leihen haben? Wir sind alle in einer schrecklichen Situation. Wir können nicht einmal 100 Afghanis (ein USD) an einem Tag verdienen.
Ich dachte, dass ich durch den Verkauf meiner Zwiebeln den Kredit zurückzahlen könnte, aber leider geschah das Gegenteil. Ich habe sehr wenig verkauft und der Rest verdarb, weil niemand gekauft hat. Am Ende konnte ich nicht einmal das Geld zusammenbekommen, das ich für die Bewässerung ausgegeben hatte.
Früher gab es Kämpfe und Unglück, und als die Taleban kamen, sagten wir: Wenigstens ist der Krieg vorbei und es wird besser, aber Armut, Hunger und Arbeitslosigkeit werden uns umbringen.
Meine Brüder machen Geschäfte, aber sie leben getrennt. Jeder möchte für sich und seine Familie arbeiten. Meine Söhne und ich versuchen irgendeine Arbeit zu finden, aber es ist schwierig. Früher zahlten Geschäftsleute 300 bis 500 Rupien für einen Tag (damals 1,90-3,15 USD), heute sind es nur noch 150 Rupien (0,85 USD). In den letzten Jahren waren während der Ernte kaum Arbeiter zu finden, da jeder etwas zu tun hatte. Dieses Jahr sind alle Menschen ohne Arbeit.
Als ich vor kurzem dringend Geld brauchte und niemand bereit war, mir welches zu leihen, musste ich mein Motorrad für einen niedrigen Preis verkaufen, obwohl ich es brauchte – denn auf dem Land braucht man, wenn jemand krank wird, ein Transportmittel, um zu einer Klinik zu kommen. Ich hatte das Motorrad für 60.000 Rupien (340 USD) gekauft, aber für 25.000 (140 USD) verkauft.
Ich habe kürzlich einem meiner Nachbarn geholfen. Ich gab ihm Bargeld, ungefähr 3.000 Rupien (17 USD). Er brauchte das Geld, um sein Kind zum Arzt zu bringen. Früher habe ich ihm auch schon manchmal geholfen. Ich gab ihm Bargeld und Lebensmittel von meinem Ackerland, wie Zwiebeln und Kartoffeln. Es ist gut, jemandem zu helfen, wenn Sie können und die Person es wirklich braucht. Gemäß unserer Religion gibt es eine Belohnung, wenn man anderen hilft.
Die Taleban haben von den Besitzern von Sonnenkollektoren und Vieh Steuern verlangt. Wer ein Solarpanel für die Landwirtschaft nutzt, muss 1.000 Afghani pro Jahr (10,40 USD) bezahlen. Sie haben auch Ushr von Bauern und allen anderen Leuten eingesammelt. Ich habe sie auch bezahlt, als ich Zwiebeln gepflanzt habe, obwohl ich es zuerst abgelehnt hatte, aber sie haben mehrmals jemanden geschickt und am Ende musste ich bezahlen.
Die Preise waren letztes Jahr während Covid-19 sehr hoch, aber dann haben sie sich wieder normalisiert. Als dann die Importrouten geschlossen wurden und die vorherige Regierung zusammenbrach, stiegen die Preise noch weiter und sie haben sich noch nicht normalisiert. Stattdessen nehmen sie nur zu. Ein Sack Mehl kostete früher 1.200 AFS. Letztes Jahr stieg sie aufgrund von Covid-19 auf 1.700 AFS, jetzt kostet sie 2.300 AFS (24 USD).
Der Preis für 16 Liter Speiseöl betrug 1400 Afghanis, jetzt sind es 2.500 AFS (26 USD). Eine Tüte Reis kostete 1.600 AFS, jetzt sind es 2.400 AFS (25 USD). Der Preis für einen Liter Kraftstoff betrug 35 AFS, jetzt sind es 80 AFS (0,83 USD), Gas hat 100 AFS pro Kilo (ein USD) erreicht. Woher sollen arme Leute das Geld nehmen?
Früher kauften wir Behälter mit 16 Liter Speiseöl, aber jetzt kaufen wir einen Liter nach dem anderen, weil wir es uns nicht leisten können, viel auf einmal zu kaufen. Wir essen auch weniger als früher. Früher hatten wir dreimal am Tag eine Mahlzeit und am späten Nachmittag Snacks, aber jetzt essen wir nur noch zweimal am Tag. Abends können wir manchmal nicht essen, weil wir kein Speiseöl und nur Brot haben. Die Preise für Mehl, Öl, Gas, Zucker und Gas sind sehr hoch, und das sind die Dinge, die jede Familie am meisten braucht.
Wir müssen kein Gemüse kaufen, weil wir es auf unserem Land anbauen oder von anderen im Dorf beziehen können. Früher habe ich Obst gekauft, als es billig war, aber jetzt ist es teuer und wir können es uns nicht leisten. Wir haben in den letzten zwei Wochen kein Obst gegessen. In den letzten Jahren haben wir im Winter Lahndi (Trockenfleisch) und früher einmal in der Woche Fleisch gegessen, aber jetzt können wir nicht einmal in zwei Monaten einmal Fleisch essen. Letzte Woche hatten wir hauptsächlich Reis und Kala Chosh (aufgerührte Sauermilch, heiß gemacht, mit Brotstücken). Das beste Essen, das wir jetzt haben können, ist Reis und Mungobohnen.
Früher haben wir Kleidung für den Winter und während der beiden Id-Feiertage gekauft, aber jetzt ist es ungefähr ein Jahr her, dass wir keine Kleidung mehr gekauft haben. Wir müssen ein Zimmer unseres Hauses reparieren, aber wir haben nicht das Geld. Auch Schmerzmittel, die wir früher viel gebraucht haben, sind heute sehr teuer. Wir können sie uns nicht mehr leisten.
Das Geld, das wir hatten, haben wir für Behandlungen ausgegeben und wir haben immer noch einen Kranken in unserer Familie. Wir werden sie auch in Zukunft zum Arzt bringen müssen. Im Moment gehen meine Söhne also nicht zur Schule. Wir sind dazu nicht in der Lage. Die Lage ist nicht gut. Und wir haben das Geld nicht.
In Zurmat werden alle Transaktionen in pakistanischen Rupien abgewickelt. Das liegt daran, dass viele Menschen aus dieser Gegend in Pakistan leben oder Verwandte haben, die in Pakistan leben. Wenn sie zurückkommen, bringen sie Rupien mit. Menschen, die in Saudi-Arabien arbeiten, wechseln ihr Geld auch in Rupien, wenn sie nach Hause kommen. Alle Händler kaufen Produkte von den Bauern in Rupien. Wenn ein Ladenbesitzer keine pakistanischen Rupien akzeptiert, kann er keine Geschäfte machen. Die Leute verwenden hier nicht so viel afghanische Währung. Nur im Zentrum von Paktia werden Afghani verwendet. Unter der vorherigen Regierung waren andere Währungen im Provinzzentrum verboten und die Leute wurden mit Geldstrafen belegt, wenn sie sie benutzten, aber mit der Ankunft der Taleban hat die Verwendung von Kaldars [pakistanische Rupien] zugenommen.
Meine Pläne für die Zukunft sind, dass ich einen Laden eröffnen möchte. Einige Freunde in Saudi-Arabien haben mir versprochen, mir Geld zu leihen. Und ich möchte meinem Sohn einen Karren beschaffen, damit er im Basar arbeiten kann. Ich habe viele Pläne, aber ich habe nicht das Geld, um sie in die Tat umzusetzen. Jetzt überlege ich, vielleicht als Straßenverkäufer in Gardez zu arbeiten und Dinge wie Handschuhe und Socken und Masken zu verkaufen. Im Dorf gibt es keine Arbeit. Das Wetter ist kalt und das Leben wird hart. Ich hätte nie gedacht, dass ich eines Tages auf der Straße arbeiten würde, aber ich muss Essen für meine Familie finden. Und ich habe nicht mehr die Energie, als Landwirt zu arbeiten.
Ich denke, unsere Situation ist besser als die anderer Leute. Manche Menschen haben nichts zu essen und kein Geld dafür, wenn jemand krank wird. Sie essen nur Brot. Manche Leute haben nicht einmal Mehl oder Brot im Haus, oder sie haben wochenlang nicht gekocht, weil sie nichts zu kochen haben. Manche Menschen leben in ungeheizten Häusern oder sogar in Häusern ohne Dach. Gestern ist das sechs Monate alte Baby einer Nachbarin gestorben, weil es dort so kalt ist, wo sie schlafen. Es ist schon Winter. Es gibt mehr Krankheiten. Die Menschen haben kein Brennholz, um sich warm zu halten.
Geld zu haben ist wichtig, für alles im Leben, aber das Wichtigste ist, einen Kranken zum Arzt bringen zu können. Wenn Sie kein Geld haben, können Sie Essen auf Kredit bekommen, aber der Arzt wird nicht ohne Geld arbeiten oder Ihnen Medikamente geben. Zweitens sollte jede Familie bedenken, dass eines Tages jemand aus ihrer Familie sterben könnte. Sie müssen Geld für den Sarg und die Beerdigung und die Beerdigungszeremonie haben.

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