Schlagwörter
Afghanistan, Überflutung, Chost, Erdbeben, humanitäre Hilfe, Paktika, Taleban
Hier meine heutige aktuelle Zusammenfassung zum Erdbeben in Afghanistan in der taz in der Originalversion. Eine geringfügig gekürzt Fassung stand gestern (23.Juni 2022) schon online; die Printfassung für heute (24.6.) ist kürzer. Dafür ist der zweite Text – mein Kommentar zum Thema – hier etwas ausführlicher.

„Ganze Dörfer zerstört“
Erdbebenhilfe in Afghanistan läuft langsam an, aber jetzt kommen dazu noch Überflutungen
Erste Hilfslieferungen der UN aus Kabul sind am Donnerstagmittag im afghanischen Erdbebengebiet eingetroffen. Zelte, Decken, warme Kleidung und Nahrungsmittel für 4000 Menschen wurden mit LKWs in den am schlimmsten betroffenen Distrikt Gian in der Provinz Paktika gbracht. Sintflutartige Regenfälle in 18 der 34 Provinzen Afghanistan, die zum Teil Straßen unterspül haben, erschweren den Zugang in die Katastrophenregion. Auch die Telefonverbindungen sind ausgefallen.
Die meiste Hilfe kommt aber nach wie vor von Menschen in der Region selbst und in Nachbarprovinzen sowie von „örtlichen Institutionen“, bestätigte Necephor Mghendi, Chef des Afghanistan-Büros der internationalen Föderation der Rotkreuz- und Roter-Halbmond-Gesellschaften. In Paktikas Hauptstadt Scharana, etwa 50 Kilometer Luftlinie vom Epizentrum entfernt, haben die örtliche Wohlfahrtsunion und Geschäftsleute in Kooperation mit örtlichen Taleban-Behörden ein Sammelzentrum für Soforthilfe eingerichtet. Bisher wurden 200.000 Afghani (etwa 2000 Euro), Medikamente und Nahrungsmittel gesammelt. Es stapeln sich bereits die Kisten.
Afghanische Nachrichtenagenturen zeigten lange Schlangen von Blutspendern in den benachbarten Provinzen Logar und Paktia. An der Organisation beteiligen sich die örtlichen Taleban-Abteilungen für Information und Kultur, Journalisten und Studenten. In der Provinz Kunar spendeten auch Schülerinnen Blut. Der afghanische Kricketstar Raschid Chan hat eine internationale Fund-Raising-Kampagne gestartet. Auch jüngst exilierte Afghan:innen und die Diaspora sammeln Geld.
Neue Zahlen zu den Opfern gab es bis Redaktionsschluss von den Taleban-Behörden nicht. Die UN gab am Nachmittag Schätzungen heraus: „770 Tote, 1440 Verletzte, 1500 Häuser allein in Gian zerstört oder beschädigt“. Alle Werte könnten noch steigen. Am späten Mittwoch hatte der Chef der Informationsabteilung in der Provinz Paktika, Muhammad Amin Hasifi, von über 1000 Toten und mehr als 1.500 Verletzten gesprochen.
Die vom Exil aus weiter betriebene afghanische Onlinezeitung Etilaat Roz schrieb unter Berufung auf lokale Quellen, dass das Erdbeben in den betroffenen Provinzen Paktika und Chost 1.500 Häuser in 14 Dörfern zerstört habe. Im Distrikt Gian allein seien zwei Dörfer, in denen 150 Familien lebten, vollständig zerstört worden. Aus dem Distrikt Barmal hätten Einwohner berichtet, dass allein dort 600 Menschen getötet und mehr als tausend verletzt sowie über 800 Häuser zerstört worden seien. Auch im Distrikt Spera (Chost) seien mehrere Dörfer vollständig zerstört worden. Hekmatullah Esmat, Chef der Taliban-Gesundheitsbehörde von Paktika, sprach von 500 komplett und 3000 teilweise zerstörten Häusern in der gesamten Provinz. Er sagte, die endgültige Zahl der Opfer sei noch unklar, da viele Verletzte aus den abgelegenen Gebieten noch nicht in Krankenhäuser gebracht werden konnten und die Überlebende ihre getöteten Angehörigen nach islamischem Brauch sofort begraben hätten. Aber selbst die Kapazitäten der Krankenhäuser in den Provinzzentren reicht für die vielen Opfern nichts aus. Ein Arzt aus Paktika sagte der BBC: „Wir hatten vor dem Erdbeben nicht genügend Leute und Einrichtungen, und jetzt hat das Erdbeben das bisschen ruiniert, das wir hatten. Ich weiß nicht, wie viele unserer Kollegen noch am Leben sind.“
Hier ein Video zur Lage von ToloNews, mit Dari/Pashto-Kommentar.
Die von den Taleban kontrollierte staatliche Nachrichtenagentur Bachtar schrieb: „36 Stunden sind seit der tödlichsten Naturkatastrophe im Distrikt Gian vergangen. Die Menschen des Distrikts trauern, begraben ihre Angehörigen und kehren in ihre zerstörten Häuser zurück, um die verbliebenen Leichen unter den Trümmern zu entfernen.“ Die Zahl der Opfer dürfte also noch höher liegen als bisher bekannt.
Ministerpräsident Muhammad Hassan Achund gab inzwischen bekannt, die Taleban-Regierung habe 100 Millionen Afghani (etwa 1 Mio Euro) als Soforthilfen zur Verfügung gestellt. 100.000 Afghani (1000 Euro) sollen für jeden Toten, die Hälfte für Verletzte direkt an die Familien gehen.
International kamen erste Hilfsgüter aus dem Nachbarland Pakistan. Das hat auch zwei Grenzübergänge, Ghulam Chan in Chost und Angur Ada in Paktika, geöffnet, damit Verletzte in örtliche Krankenhäuser gebracht werden können und Helfer ins Nachbarland reisen können. Usbekistan hat den Stützpunkt Termes, früher Umstiegsort für Bundeswehrsoldaten auf dem Weg nach Afghanistan, als Umschlagsplatz für internationale Hilfe geöffnet. Auch Katar, Iran und China schicken Hilfe oder haben das angekündigt. Die Vereinigten Arabischen Emirate eröffneten eine Luftbrücke für Hilfsflüge. Aus Deutschland organisieren zum Beispiel die Welthungerhilfe, die Caritas, terre des hommes und der Afghanische Frauenverein über ihre örtlichen Büros und Partner Hilfe.
Das Erdbeben ist nicht einzige Naturkatastrophe, der sich Afghanistan gegenüber sieht. Neben einer Heuschreckeninvasion an der Grenze zu Iran kam es in den letzten Tagen zu Überflutungen nach Starkregenfällen durch Ausläufer des Monsuns über dem indischen Subkontinent in 18 der 34 Provinzen des Landes. Unabhängige Quellen bestätigen Todesopfer. Aber sie halten die Taliban-Angaben von 400 Toten für zu hoch. Assem Mayar, Spezialist für Klimafragen in Afghanistan und früherer Dozent am Kabuler Polytechnischen Institut, sagte der taz, er halte die Zahlen für „unrealistisch“, zumal sie – im Gegensatz zum Erdbeben – bisher nicht durch Bildmaterial belegt seien.
Thomas Ruttig


Zum Erdbeben in Afghanistan
Hilfe statt Ideologie
Das Erdbeben in den Paschtunengebieten Südost-Afghanistans sei „eine Strafe Allahs“ für die Diktatur der Taleban, schreibt ein international preisgekrönter afghanischer Künstler, nun im Exil, in den sozialen Medien. (Sein Name sei hier gnädigerweise verschwiegen.) Ein Funktionär der vor allem an ihrer Korruption gescheiterten Vorgängerregierung meint, die Rettungsmaßnahmen der Taliban könnten schon deshalb nicht erfolgreich sein, weil deren Regime illegitim sei.
Natürlich ist die Taleban-Politik der Angst eine Hauptursache dafür, dass die staatlichen Institution des Landes – auch die des Katastrophenschutzes – durch die Flucht vieler Fachkräfte ausgedünnt wurden. Aber sie tun ihre Arbeit, wie Afghanen im Bebengebiet bestätigen. Mit Mühen zwar, aber das liegt vor allem an der Isolation der betroffenen Region. Dass es in Paktika – einer der ärmsten Provinzen in diesem durch 40 Jahre Krieg ausgepowerten Land – kaum Infrastruktur gibt, ist auch Resultat des Gesamtversagens der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan. Gerade dort priorisierten sie die Talibanjagd gegenüber stabilisierendem Wiederaufbau, trieben den Einsatz CIA-gesteuerte Milizen und den Drohnenkrieg. Deshalb hatten Aufbauakteure viele Jahre lang keinen Zugang zu den Provinz, gab es dort kaum Entwicklung.
Jetzt muss genau darauf geachtet werden, wie die Taleban in dieser Katastrophensituation reagieren, z.B. ob sie internationale oder im Land gesammelte Hilfe veruntreuen; ob sie verletzte Frauen nicht behandeln lassen, wenn keine Ärztin zur Verfügung steht (in Paktika gibt es keine einzige); ob sie sich in interne Angelegenheiten der Hilfswerke, etwa der Rekrutierung, auch von Frauen, einmischen. Vielleicht erweist es sich wie schon bei der Bekämpfung von Covid, dass man mit ihnen in praktischen Dingen kooperieren kann. Das könnte Möglichkeiten eröffnen, langfristig an der Überwindung der generellen Armutskrise im Land zusammen zu arbeiten.
Aber die Hilfe für die Bebenopfer politisch zu instrumentalisieren, zumal mit ethno-rassistischen Tönen („Paschtunen = Taleban“) ist unangebracht und schäbig. Die Regierungen der Geberländer sollten trotz ihrer begründeten Ablehnung des Taleban-Regimes jetzt alle Hilfe mobilisieren, die benötigt wird.

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