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Afghanistan, Afghanistan-Bücher, Bildungszentrum Kaaj, Frankfurter Buchmesse, Kabul, PEN Deutschland, Ruchschana, Weiter Schreiben Afghanistan
Letztes Jahr [2021 – zwei Monate nach der Machtübernahme der Taleban]. Dieser Verlag aus Afghanistan. No books this year. Der traurigste Stand der Buchmesse. – Weiß ich noch.
drk (Dirk Knipphals), taz 15.-16.10.2022, S. 19
Es war der Kabuler Verlag Aazam, der einzige vertretene aus Afghanistan. Damals interviewte die taz die Vertreterin des Verlags, Yalda Abassi (dort auch ein Foto der oben erwähnten „no books“-Ankündigung).
„Wir nehmen seit sieben Jahren an der Buchmesse teil. In diesem Jahr hatten wir keine Hoffnung. Wir wollten anfangs gar nicht zur Messe kommen. Wie können wir hier Bücher ausstellen, während zu Hause die Menschen hungern?“, sagte sie. „Da haben wir erst vor einigen Tagen beschlossen. Wir leben noch. Es ist nicht unsere Schuld, dass die Bücher nicht hier sein können. Die Bücher sind ein Symbol für Bildung und Kultur. Auch wenn sie verschwinden: Wir sind noch da. Wir lieben Bücher, wir glauben an Kultur, also müssen wir hier präsent sein. Wir wollen den Menschen auf der Welt zeigen, dass wir trauern.“ In Afghanistan stünden die Maschinen des Verlages still. „Unsere Mitarbeiter sind im Wartemodus. Sie arbeiten nicht, und wir haben keine Hoffnung, dass die Lage in der nahen Zukunft besser werden wird. Wir hoffen, dass es auf lange Sicht besser wird.“

Foto: Bildschirmfoto Rukhshana.
In Afghanistan haben viele aus Angst vor den Taleban ihre Bücher versteckt oder sogar vernichtet. Aber es gibt – wie immer – auch Gegentendenzen. Ein Beispiel: Die afghanische Frauennachrichtenwebseite Ruchschana berichtete über Twitter (mit einem Video) von den beiden Kabuler Mädchen Parwana und Anisa Mohammadi, die bei dem Anschlag auf das dortige Bildungszentrum Kaaj (Kaadsch) im September 2022 ihre beiden Geschwister Marsia und Hadschar verloren und an deren Gräbern eine „Bibliothek des Wissens“ errichtet haben, in einem verglasten Schrankteil, ähnlich den bei uns zunehmenden Buchaustauschstellen in alten Telefonzellen usw. Parwana und Anisas Bibliothek enthält 20 Bücher, darunter vom Lieblingsautor der beiden, Elif Shafak. Marsia und Hadschar hatten Schriftsteller werden wollen.
In Frankfurt fand Afghanistan in diesem Jahr wieder statt.
Die im Rahmen von Untold – Weiter Schreiben Afghanistan seit 2020 kooperierenden Literaturinitiativen Untold (London), Weiter Schreiben (Berlin) und die Frankfurter KfW Stiftung zur Förderung afghanischer Schriftstellerinnen stellten bei der Messe drei afghanische Schriftstellerinnen, Naeema G., Batool H. und Marie B., in Lesung und Gespräch vor (https://kfw-stiftung.de/veranstaltungen/write-afghanistan). Parallel dazu erschien unter dem Titel Dieser Schatten ist nicht ich. Afghanische Autorinnen die neue Ausgabe des Weiter Schreiben Magazins, das in Text- und Wortbeiträgen sowie literarischen Briefwechseln die dramatischen Veränderungen seit der Machtübernahme der Taleban bezeugt und reflektiert. Ebenfalls 2022 erschien die Anthologie My Pen Is The Wing Of A Bird: New Fiction by Afghan Women (MacLehose Press), in der achtzehn Schriftstellerinnen „kraftvolle und ergreifende Erzählungen“ präsentieren und damit einen Einblick in die Lage des heutigen Afghanistans ermöglichen.
Der PEN Deutschland organisierte bei der Messe über sein Programm Writers-in Exile ein Gespräch mit einem afghanischen Stipendiaten. Zuvor hatte die Organisation „dank der Zusammenarbeit mit dem PEN International und der umfangreichen Kooperation mit der NGO ‚Luftbrücke Kabul’, dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium des Innern und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien“ zehn afghanische Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit ihren Familien, etwa einhundert Menschen, nach Deutschland evakuieren können.
Zu einem Gespräch über Afghanistan und ihre Bücher trafen sich bei der Buchmesse auch Waslat Hasrat-Nazimi, Leiterin der Afghanistan-Redaktion der Deutschen Welle, und Zeit-Journalist Wolfgang Bauer, „mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik.“ Hasrat-Nazimis „Die Löwinnen von Afghanistan“ (rowohlt) erzählt Geschichten über das Leben afghanischer Frauen vor dem Hintergrund der Familiengeschichte der Autorin, die sie von Afghanistan nach Deutschland führte. Hier ein Interview mit ihr bei detektor.fm. Bauer berichtet von seinen wiederholten Reisen nach Afghanistan („Am Ende der Straße“, Suhrkamp).
Eine weitere Zeit-Autorin, Bettina Flitner, stellt aus Anlass der Buchmesse den Erzählungsband „Wir sind noch da! Mutige Frauen aus Afghanistan“, herausgegeben von Nahid Shahalimi, vor (mit Leseprobe, 2021, Elisabeth Sandmann Verlag). Die Herausgeberin wurde in 1973 in Afghanistan geboren, floh mit ihrer Mutter und ihren Schwestern zunächst nach Kanada und lebt seit 2000 in München, wo sie als Künstlerin, Filmemacherin, Aktivistin und Autorin tätig ist.
Auszug:
Während ich als Jurorin bei ›The Voice of Afghanistan‹ tätig war, präsentierte ein anderer Fernsehsender namens Noorin TV jeden Abend einen anderen Mullah als Gast – und jeden Abend sprachen sie eine Stunde lang ausschließlich über mich und darüber, welch negativen Einfluss ich auf die Gesellschaft und die Frauen in Afghanistan hätte. In der 13. Nacht kamen alle zwölf Mullahs zusammen und erließen eine gemeinsame Fatwa: Jeder, der Aryana Sayeeds Kopf abschlägt und ihn zu ihnen bringt, kommt in den Himmel.
Das war acht Jahre vor dem Schicksalsdatum [dem erneuten Fall Kabuls an die Taleban]. Die Sängerin Aryana, ein Superstar in Afghanistan im westlich-orientalischen Outfit, mit zahlreichen Fernsehshows, war schon damals ein Dorn im Auge der konservativen Kleriker. Trotz der drohenden Todesgefahr trat sie weiter live auf, tanzend, mit offenen Haaren. Am 15. August 2021 schafft es Aryana ein paar Minuten vor Mitternacht gerade noch auf das Flughafengelände von Kabul.
»Wir sind noch da!« ist der Titel des Buches. Aber da ist nur noch eine der 13 Frauen, die zu Wort kommen: Razia. Sie war auf einem verwackelten Handyvideo im Fernsehen oder im Netz zu sehen: Razia, eine der drei todesmutigen Frauen, die auf einer Straße in Kabul standen und mit kleinen handgemalten Pappschildern für ihre Freiheitsrechte demonstrierten, umstanden von Taliban mit Kalaschnikows. Ja, sie ist da. Noch. Sie schläft jede Nacht woanders. Wenn sie überhaupt schläft. Denn auch heute werden täglich Menschen aus ihren Wohnungen gezerrt und verschleppt, und fast täglich schickt eine Frau in Kabul ihr letztes Video in die Welt.
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