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Während aus Afghanistan neue Berichte über Gräueltaten, Misshandlungen und weiter verschärfte Einschränkungen kommen (dazu hier demnächst mehr Details), gibt es gleichzeitig auch gegenläufige Entwicklungen.

So berichtete die Webseite des weiter sendenden afghanischen TV-Senders Tolo TV am 3. Dezember von einem Treffen von „Hunderten“ von Aktivist:innen der Zivilgesellschaft in der westafghanischen Metropole Herat. Die Hälfte davon seien dem Bericht zufolge Frauen gewesen. Dabei hätten sie ihre Forderungen „an die gegenwärtige Regierung und die internationale Gemeinschaft formuliert: die Wiedereröffnung aller Mädchenschulen, die Rückkehr von Frauen an ihr Arbeit in Regierungseinrichtungen und die Abschaffung weiterer Restiktionen gegen Frauen. Es war nicht klar, ob Vertreter der Taleban und der internationalen Gemeinschaft, etwa der UNO, an dem Treffen teilnahmen.

Das Treffen wurde offenbar vom Institut Stimme des afghanischen Volkes organisiert. Die Organisator:innen kündigten an, ähnliche Treffen in allen Teilen des Landes veranstalten zu wollen.

Tolo zitiert örtliche Taleban-Vertreter mit den Worten, das Islamische Emirat unterstütze „jeden Akt, jede Bewegung oder Anstrengung, die den Autoritäten die Stimme des Volkes nahebringt“.

Bereits zuvor hätten afghanische Zivilgesellschaftsaktivist:innen in Kabul ein Treffen mit dem für Wirtschaftsfragen zuständigen Vizeregierungschef der Taleban, Maulawi Muhammad Kabir, initiiert. Das berichtete Massud Karochel, Leiter der in Afghanistan aktiven NRO The Liaison Office, die sich besonders um lokale Konfliktlösung bemüht, bei an einer vom Bundesentwicklungsministerium (BMZ) organisierten Veranstaltung im Rahmen des deutschen Vorsitzes der G7-Staaten am 24. November in Berlin. (Auch zu dieser Veranstaltung hier demnächst mehr.) Er sah es als Ermutigung an, dass Taleban-Vertreter daran teilgenommen und auch gesprochen hätten. Er sowie andere afghanische Teilnehmer:innen an dem Berliner Treffen erklärten, dass es möglich und nötig sei, Zugang zu den Taleban-Behörden herzustellen, um ihre Arbeit im Land fortsetzen zu können. Es ginge um die „Rechenschaftspflicht“ der Behörden gegenüber der Bevölkerung „und Dialog“.

Allerdings, so Suraya Pakzad, Direktorin der Organisation Stimme der Frauen, sei der „bürgerliche Freiraum“ in Afghanistan seit der Taleban-Machtübernahme geschrumpft. „Wir versuchen, die De-facto-Machthaber davon zu überzeugen, dass, was wir tun, nicht gegen das islamische Recht ist“, sagte sie. Das Verhalten der Behörden der Zivilgesellschaft gegenüber sei „von Provinz zu Provinz unterschiedlich”, es gäbe auch Unterschiede zwischen der zentralen und der örtlichen Ebene. Im Falle ihrer Organisation hätten die Taleban sogar Einwände gegen deren Namen, also dem Wort “Frauen” darin.

Samira Sayed-Rahman vom International Rescue Committee nannte “Einschränkungen der Bewegungsfreiheit für Frauen, Einschüchterung und bürokratische Hürden” als Hauptprobleme für Nichtregierungsorganisationen. Laut dem Vizechef der UN-Mission in Afghanistan Markus Potzel, der der Veranstaltung in Berlin online zugeschaltet war, nähmen Fälle von Übergriffen und Drohungen durch die Taleban gegen die Zivilgesellschaft zu.

Laut Berichten aus dem Land versuchen die Taleban, zivilgesellschaftliche und Hilfsorganisationen stärker zu kontrollieren und Einfluss darauf zu nehmen, an wen Hilfsgüter verteilt würden (siehe auch dieses Interview mit dem Landesdirektor der deutschen Caritas). Sicherheitsbeobachter in Afghanistan zählten vier solcher Fälle in diesem Jahr in Nord-Afghanistan. In einzelnen Fällen kam es zu willkürlichen Durchsuchungen von NRO-Einrichtungen und Festnahmen, meistens kurzzeitiger Natur. Im November unterbanden Taleban-Behörden in der Provinz Urusgan eine NRO-Studie, weil deren Personal dabei über Handies Geodaten aufnahm – offenbar aus Angst vor Spionage“. (In der Zeit vor 2021 hatte es Fälle gegeben, bei denen westliches Militär sich als Mitarbeiter von Hilfsorganisationen ausgegeben hatte. Auch der afghanische Geheimdienst zwang NROs, Daten herauszugeben, oder infiltrierte solche Organisationen, um Zielmarkierungen in Taleban-kontrollierten Gebieten zu setzen. Nicht zuletzt versuchten US-Geheimdienste in Pakistan über Mitarbeiter von Impfprogrammen an DNA-Proben der Familie Osama bin Ladens zu kommen.) Afghanische NRO-Vertreter wiesen darauf hin, dass den Taleban oft das Verständnis für die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen fehle.

Teilnehmer:innen des Treffens in Berlin wiesen zurück, dass alle zivilgesellschaftlichen Strukturen in dem Land zusammen gebrochen seien. Das zeigen auch die oben berichteten Treffen. Zudem sei die „traditionelle Zivilgesellschaft“ wie örtliche Ältestenräte sowie teilweise die unter der Vorgängerregierung ins Leben gerufenen Kommunalen Entwicklungsräte (CDCs) weiter aktiv, oft nicht formal in festen Organisationsstrukturen. Auch viele der aus dem Land geflohenen oder evakuierte Aktivist:innen unterstützten weiter die Arbeit ihrer im Land verbliebenen Mitstreiter:innen.

Das Institut Stimme des afghanischen Volkes hatte bereits im März in Kabul ein Konsultativtreffen der Zivilgesellschaft mit 250 Teilnehmer:innen aus allen 34 Provinzen des Landes organisiert, von dem die Nachrichtenagentur Pajhwok berichtet hatte. Dabei seien Fragen wie Bildung, Zugang in Rechtsfragen und Informationen, Probleme bei der Verteilung von humanitärer Hilfe sowie die generelle Rolle der Zivilgesellschaft diskutiert und ein Plan gefasst worden, den Taleban-Behörden Lösungsvorschläge nahezubringen. Sohra Bahman, Landesdirektorin des weltweit agierenden Instituts „Search for Common Ground“ in Afghanistan sagte, die afghanische Zivilgesellschaft sehe sich vielen Problemen gegenüber, darunter die Kappung aller auswärtigen Unterstützung. Es sei nötig, „Vertrauen“ zwischen der Zivilgesellschaft und den neuen Machthabern zu schaffen, und das Treffen sei ein erster Schritt dazu gewesen.

Konsultativtreffen der Zivilgesellschaft im März 2022 in Kabul. Foto: Pajhwok.


Bei dem Treffen in Berlin war auch deutlich geworden, dass Afghanistans Zivilgesellschaft in der Frage gespalten ist, ob man mit den Taleban überhaupt reden solle oder sogar dürfe. Während in der Diaspora wegen der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen der Taleban oft harsche Ablehnung zu hören ist, sprechen sich Inlandsvertreter:innen oft dafür aus – mit der Begründung, dass man sonst seine Aktivitäten wohl bald einstellen müsse. Eine Teilnehmende  sagte, man dürfte bei seiner Arbeit aber keine „Einschränkungen legitimieren“, etwa indem man Forderungen nachkomme, keine Frauen bei Hilfsprogrammen anzustellen. Taleban hatten dies mitunter gefordert, seien aber zurückgewichen, wenn Organisationen damit gedroht hatten, ihre Programme in diesem Fall einzustellen.

Allerdings gibt es auch in der Diaspora unterschiedliche Positionen, wie Kava Spartak vom Verband Afghanischer Organisationen in Deutschland (VAFO) sagte. Auch in seinem Verband sei dies der Fall. Karochel sieht diese Lager sogar weiter auseinanderdriften. Sayed-Rahman sagte, man könne keinen Druck auf die Taleban ausüben, ihre Positionen zu verändern, wenn man sich weigere, sich mit ihnen einzulassen. Diese Position vertreten auch große ausländische Hilfsorganisationen wie die Afghanistan-Komitees aus Schweden und Norwegen und die deutsche Caritas, die seit Jahrzehnten in Afghanistan arbeiten und das auch unter den Taleban tun.


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