Schlagwörter
Afghanistan, Bildungsverbot, Dschalalabad, Frauenbildung, Hebatullah Achundsada, Kabul, Kandahar, Neda Muhammad Nadim, Protest, Taleban, Universitäten
Im folgenden mein Text zum oben genannten Thema, der gestern (21.12.2022) unter der Überschrift „Gefährliches Halbwissen – Univerbot für afghanische Frauen“ auf der Webseite der taz erschien und heute in der Printausgabe steht. Wie gewohnt, handelt es sich hier um eine deutlich ausführlichere und aktualisierte Version.
Dazu gibt es bei der taz einen Kommentar von Asien-Redakteur Sven Hansen („Afghaninnen droht doppeltes Unrecht: Der Westen muss auf das Bildungsverbot, das die Taliban gegen die Frauen verhängten, reagieren. Doch Sanktionen würden vor allem die Frauen treffen.“) sowie ein Interview mit der früheren Vorsitzenden der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission Shaharzad Akbar.
Ich verwende hier die Titelzeile, die auch auf dem Aufmacher heutigen Print-taz steht:
Ausschluss statt Abschluss
Afghanistans Taleban haben mitten in den Jahresabschlussprüfungen für Frauen nun auch die Tore der Universitäten geschlossen. In einem Brief von Hochschulminister Scheich Neda Muhammad Nadim vom Dienstag ordneten sie „bis auf Weiteres“ an, jegliche Bildung für Frauen zu suspendieren. Sie forderten sowohl die staatlichen als auch die privaten Hochschulen auf, dies „sofort“ umzusetzen und darüber an das zuständige Ministerium Vollzug zu melden. Afghanistan hat 17 öffentliche und über 80 private Universitäten. Die Verbotspolitik der Taleban in Afghanistan hat damit einen weiteren Tiefpunkt erreicht.
Allerdings wird dabei auch wieder die erratische Politik der Taleban sichtbar: Noch Anfang Dezember waren zumindest in der Ostprovinz Nangrahar Mädchen der Klasse 12 zu den Abschlussprüfungen für die Universitätsreife zugelassen worden.
Bereits seit Schuljahresbeginn im Frühjahr sind Mädchen ab der Pubertät von der Schulbildung ausgeschlossen. Es folgte der Ausschluss von Frauen und Mädchen, selbst im Familienverband, von der Nutzung öffentlicher Einrichtungen wie Parks, Fitnessklubs und öffentlicher Bäder. An Universitäten konnten Frauen immerhin in nach Geschlechtern getrennten oder abgeteilten Räumlichkeiten weiter studieren. Allerdings wurde kürzlich auch die Auswahl an Fächern für sie reduziert.
Der aus ganzen vier Zeilen bestehende Brief von Minister Nadim bezieht sich auf einen nicht datierten und öffentlich nicht zugänglichen „bestätigten“ Beschluss des Taleban-Kabinetts, der offenbar bereits Anfang April gefasst worden war. Die Bestätigung ist offenbar ein Hinweis darauf, dass der erzreaktionäre Talban-Chef Maulawi Hebatullah Achundsada den Beschluss gebilligt hat. Er fiel etwa zur gleichen Zeit, als die Afghanistan-Sonderbotschafter der USA, der EU-Mitglieds- und weiterer europäischer Länder für Afghanistan bei einem Treffen in Brüssel erklärten, man werde „die internationale Geberhilfe“ davon abhängig machen, ob Frauen und Mädchen in Afghanistan das Recht und die Möglichkeit besitzen, gleichberechtigt Zugang zu Bildung auf allen Ebenen zu haben.“ Die Taleban hatten sich daraufhin gegen eine „Politisierung der humanitären Hilfe“ gewandt.

Original des Verbotsbriefes des Taleban-Hocschulministers.
Am Mittwochmorgen schritten die Taleban zur Tat. Aus verschiedenen Universitäten der Hauptstadt Kabul wurde berichtet, dass ihre Kämpfer Studentinnen entweder aus Vorlesungssälen herausschickten oder gar nicht erst auf das Universitätsgelände ließen. Kurze Video davon kursieren in sozialen Medien und sehen aktuell und authentisch aus. Tamana Aref von der privaten Kardan-Universität in Kabul berichtete auf Twitter, dass am Morgen die Studenten hereingelassen wurden, „aber auf uns richteten sie ihre Waffen und sagten: ‚Geht nach Hause.’” Es gibt auch ein Video, das angeblich zeigt, wie Studentinnen auch aus ihrem separaten Wohnheim gewiesen werden.
Oppositionsmedien und afghanische Studentinnen berichten in sozialen Medien, dass sie auch nicht in private Bildungs– oder Sprachzentren gelassen wurden, wo sie sich auf ihre Prüfungen vorbereiten. Selbst der Zugang zu Nähkursen sei versperrt worden, sagte eine Studentin. Ähnliche Berichte kamen auch aus den Provinzen Tachar und Ghasni. Laut der oppositionellen Online-Zeitung Ettelaat-e Rus stationierten die Taleban in Masar-e-Scharif und Maimana, den Hauptstädten der Provinzen Balch und Farjab im Landesnorden Bewaffnete vor Hochschulen und an wichtigen Straßenkreuzungen, um Proteste zu unterbinden.
Das neue Taleban-Verbot stieß auf weltweite Verurteilung und löste Proteste im Land selbst aus. An der medizinischen Fakultät der Universität von Nangrahar in Dschalalabad, im Osten des Landes, sowie an der Universität von Kandahar, im Kernland der Taliban, verließen männliche Studenten ihre Prüfungen und solidarisierten sich mit ihren Kommilitoninnen. Studentinnen und Studenten protestierten gemeinsam auf dem Uni-Campus von Dschalalabad. An der Universität von Kabul legte mindestens ein Mitglied des Lehrkörpers seine Dozentur nieder. (Inzwischen soll es laut dem BBC-Journalisten Khalil Noori landesweit zehn solcher Fälle geben.) In Kabul kam es auch zu kleineren spontanen Zusammenkünften, bei denen ausgeschlossene Studentinnen ihren Protest aufnahmen und in sozialen Medien teilten.
Die im Exil lebende frühere Parlamentsabgeordnete Raihana Asad und die aus Afghanistan stammende Dozentin an der Australischen Nationaluniversität Farchondeh Akbar nannten das Taleban-Verbot übereinstimmend einen neuen Schritt zu einer „Gender-Apartheid“. Shaharzad Akbar, die frühere Vorsitzende der afghanischen Menschenrechtskommission (siehe Interview unten), tweetete, die Taliban seien dabei, Afghanistan in ein “Massengrab für die Wünsche der Frauen und Mädchen zu verwandeln”.
UN-Generalsekretär Antonio Guterres bezeichnete die Maßnahme der Taleban als „sehr beunruhigend“. „Es ist schwer vorstellbar, wie ein Land, dass alle diese Probleme hat, sich ohne die aktive Beteiligung der Frauen und ohne Bildung entwickeln kann“, sagte er. Guterres’ Afghanistan-Sondrgesandte, die frühere kirgisische Außenministerin Rosa Otunbajewa sagte, die Schließung nun auch der Universitäten habe das Verhältnis der Taleban zur internationalen Gemeinschaft „unterminiert“. Ihr Stellvertreter, der deutsche Diplomat Markus Potzel nannte das Verbot „Ausdruck einer rückständigen Politik, die die Zukunft des ganzen Landes gefährdet“. Es repräsentiere nicht „den Mehrheitswillen des afghanischen Volkes.“ Der Generalsekretär der Organisation Islamische Konferenz, der auch Afghanistan angehört, Hissein Brahim Taha, verurteilte das Verbot. Taleban-Unterstützer Pakistan und Katar äußerten sich „besorgt“. Afghanische Kommentator:innen warfen dem Westen aber auch vor, das Land erst den Taleban ausgeliefert zu haben.
Es sei schwierig zu erklären, was die Taleban mit ihrem Verbot bezweckten, sagte langjährige Afghanistan-Beobachterin Susanne Schmeidl von der Schweizer Organisation Swisspeace der taz. Da sie sich zu den Gründen weitgehend „bedeckt halten“, könne man „nur spekulieren“. Sie sehe etwa möglichen Einfluss „konservativer gesellschaftlicher Werte, wo Männer als Hüter der Frauenehre angesehen werden, was für viele oft am einfachsten durch eine strikte Begrenzung von Frauen auf den häuslichen Bereich erreicht werden kann.“ Zudem priorisierte die Taleban-Führung „religiöses über weltliches Wissen“. Auf alle Fälle sei „zunehmender Einfluss der Religionsgelehrten auf allen Ebenen“ des Taleban-Regime „zu spüren“ (siehe auch hier). Zudem hat Taleban-Chef Hebatullah die Umsetzung des islamischen Rechts zur ersten Priorität gemacht. Es gehe nicht um „Religion oder Kultur“, meint hingegen Laura Cesaretti, eine weitere Afghanistan-Forscherin, sondern „einfach um Macht“ über Frauen. Andere Beobachter meinen, die Taleban versuchten mit ihrem harschen Vorgehen gegen Frauen ihre islamische Legitimation zu stärken, auch in den eigenen Reihen, wo viele Kämpfer nicht damit zufrieden seien, was der Dschihad gegen die westlichen Truppen ihnen gebracht hätte – während ihre Führer es sich in den Villen der alten Regierungsmitglieder bequem machten.
Ein nun in Deutschland lebender afghanischer Analyst ging gegenüber der taz von einem internen Machtkampf der Taleban aus, in dem der ultrakonservative innere Führungszirkel um Hebatullah die Moderateren, „die gute Beziehungen mit der Welt wollen“, an den Rand drängen wollen. In der Tat waren gerade in Bildungsfragen unterschiedliche Ansichten in der weiteren Taleban-Führung zu Tage getreten. So musste im Oktober Hochschulminister Abdul Baki Hakkani gehen. Er hatte die Hardliner gegen sich aufgebracht, da er Frauen noch den Universitätsbesuch erlaubte. Zuvor hatte er sich beschwert, dass er in seinem Ministerium keinen Spielraum habe; er wolle sich „nicht schuldig am Islam und der Menschheit“ machen. Auch Katar sagte in seiner Stellungnahme, dass Frauenbildung mit den „islamischen Prinzipien“ übereinstimme.
Hakkanis Nachfolger Nadim gilt als Hardliner. Er erklärte jüngst, Frauenbildung sei keine afghanische Tradition, sondern Teil der westlichen Kultur, die die US-Truppen ins Land gebracht hätten. Gestern verstieg er sich sogar zu der Äußerung, dass „gemäß dem Propheten [Muhammad], der Islam den Frauen nicht das Recht gibt, sich unter dem Vorwand der Bildung zu prostituieren.“ Für das neue Studienjahr kündigte er zudem an, dass es einen „neuen dschihadi Lehrplan“ geben und Studenten einen Turban tragen müssten. „Jetzt ist die Zeit gekommen, in der die Lücke zwischen Universitäten und Koranschulen geschlossen wird“, tweetete er. Lehrpläne, Studenten und Lehrkräfte müssten sich §nach der Sunna (Tradition) des Propheten richten.“
Die Hardliner scheinen weiterhin die Oberhand zu haben. Der US-Afghanistan-Analyst Jonathan Schroden meint, „wir können mit Sicherheit zu diesem Zeitpunkt schließen, dass, während internationale Anerkennung ein Ziel einiger hoher Taleban-Mitglieder ist, das für jene Anführer, die das letzte Wort haben, vollkommen unbedeutend ist“. Bibi-Zuhra Faizi von der Harvard-Universität meint, „die Taleban haben ein strukturelles Problem: Ein Mann hat absolute macht und kann jeden entfernen, der ihm im Weg steht. Entweder fangen Dissidenten in der Organisation an, den Emir herauszufordern, oder ihre Regierung dauert nicht lange. In beiden Fällen ist Konflikt unvermeidlich.“
PS/ In ihrem oben erwähnten Interview sagte die frühere Vorsitzende der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission Shaharzad Akbar, die inzwischen im Ausland lebt, dass nach ihren Informationen die Taleban inzwischen auch jene Sekundärschulen für Mädchen geschlossen hätten, die nach dem Verbot im März noch weitergearbeitet hätten. Das könnte für staatliche Schulen zutreffen. Nach meinen Informationen arbeiten zumindst NGO-geführte Mädchenschulen weiter.
Last but not least: Es kam zu weiteren Protesten von Frauen in Kabul (Videos hier und hier.) Hier ein Bericht darüber von Ruchschana.

Nun ein Bild der Vergangenheit: Studentinnen auf dem Campus der Kabuler Universität. Foto: Ruchschana.
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