Hier ein Text, der am 12.1.2023 online bei der taz erschien und tags darauf in der Printausgabe. Hier mit kurzen Ergänzungen [in eckigen Klammern].

Der abgesperrte Anschlagsort in Kabul. Foto: Ariana.
Zweiter größerer Anschlag des Jahres
Regionaler Ableger des Islamischen Staates (IS) bekennt sich zu Selbstmordattacke vor Kabuls Außenministerium
Der Angreifer hatte sich die Feierabendzeit für seinen Anschlag ausgesucht. Kurz vor 16 Uhr Ortszeit sprengte er sich am Mittwoch an einem Seiteneingang des Kabuler Außenministeriums in die Luft, nachdem er vergeblich versucht hatte, mit einer Tasche und einer umgehängten Schusswaffe in das Gebäude zu gelangen. So schilderte es ein Augenzeuge gegenüber afghanischen Medien. [Nach Angaben in sozialen Medien soll der Angreifer sich in einem Bereich aufgehalten haben, der nur zu Fuß und mit einem Dienstausweis zu erreichen sei – ein Zeichen entweder für laxe Durchsetzung von Sicherheitsmaßnahmen oder dass der ISKP Sympathisanten im Apparat und damit Zugang zu sensitiven Papieren hat.]
Bei dem Anschlag starben nach Taleban-Angaben mindestens fünf Menschen. Der Islamische Staat – Provinz Chorasan (ISKP), der in Afghanistan und Pakistan aktive regionale Ableger des weltweit terroristischen Netzwerks IS, bekannte sich zu dem Anschlag und behauptete, dabei seien 20 Menschen getötet worden. Frühere Mitarbeiter des Ministeriums, die nun im Exil leben, posteten Fotos umgekommener Kollegen in sozialen Medien, was auf eine höhere Zahl von Ermordeten deutet (siehe auch hier).
Stefano Sozza, Landesdirektor der italienischen Nichtregierungsorganisation Emergency, die in Kabul das größte Hospital für Kriegsopfer betreibt, sagte, man habe über 40 Verletzte des Anschlags aufgenommen. Er sei „der erste 2023 mit Massenopfern“, sagte er, und „sicher der mit den meisten Patienten seit Anfang 2022“. Allerdings hatte ISKP sich auch zu einen Anschlag am 1. Januar am Eingang zum militärischen Teil des Kabuler Flughafens bekannt, der zu einer unbekannten Zahl von Opfern geführt hatte.
ISKP verübt seit der Machtübernahme der Taleban immer wieder Anschläge auf deren Strukturen und Sicherheitskräfte. Die Gruppe wirft den Taleban vor, nicht konsequent genug die Errichtung eines islamischen Systems zu betreiben und um internationale Anerkennung zu buhlen. Zuletzt ging ISKP auch gegen die internationalen Hauptverbündeten der Taleban vor. Im Dezember versuchte die Gruppe, den pakistanischen Geschäftsträger in Kabul zu ermorden. Im selben Monat stürmten ISKP-Kämpfer ein Kabuler Hotel, in dem chinesische Geschäftsleute wohnten. [Bei dem Angriff kamen insgesamt drei Menschen ums Leben und 18 weitere wurden verletzt, darunter fünf chinesische Staatsbürger.] Im September sprengte sich ein IS-Kämpfer vor der russischen Botschaft in die Luft und tötete zwei Zivilisten und zwei russische Mitarbeiter. Hauptangriffsziele bleiben jedoch die starke schiitische und andere religiöse Minderheiten.
ISKP verfügt über keine nennenswerte soziale Basis im Land mehr, seit die Gruppe salafistische Dorfgemeinschaften in Teilen Ost-Afghanistan durch eine mehrjährige Schreckensherrschaft so sehr gegen sich aufgebracht hatte, dass diese die Taleban und die Truppen der damaligen Regierung zu Hilfe riefen (siehe hier und hier). In koordinierten Offensiven verdrängten die beiden eigentlich verfeindeten Parteien ISKP aus ihren Basen in den Provinzen Kunar und Nangrahar. Allerdings verfügt die Gruppe offenbar weiterhin über Rückzugsgebiete in entlegenem Gebirgstälern in dieser Region. Unterstützung erhält sie offenbar durch militante anti-schiitische Gruppen aus Pakistan, die seit Jahrzehnten im Grenzgebiet beider Länder operieren (mehr Hintergrund zu ISPK hier).
Größter Rekrutierer dürfte allerdings die Gewalt des Regimes gegen den islamistischen Kontrahenten sein. Die Taleban gehen systematisch gegen das Milieu vor, das mit ISKP sympathisiert, salafistische Prediger, Moscheen und Gemeinden in Afghanistans Städten, darunter Kabul. Dabei kam es auch zu Gruppenhinrichtungen.
Ähnlich rekrutierten schon die Taleban, wie die westlichen Truppen und ihre afghanischen Verbündeten in ihrem 20-jährigen Krieg erfahren mussten. Vor allem die unter Präsident Barack Obama und der damaligen Außenministerin Hillary Clinton begonnene US-Kampagne zur „Enthauptung“ der Taleban durch gezielte Tötung nicht nur von Taleban-Führern, sondern auch ihrer zweiten und dritten Reihe in Provinzen und Distrikten sorgte nicht nur für Zulauf, sondern zum Entstehen einer neuen Generation von Kämpfern und deren antiwestlicher Radikalisierung. Das könnte sich jetzt widerholen, wenn auch aufgrund der sozialen Umstände in einer Miniaturvariante.
Thomas Ruttig
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