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„Die Taliban stellen die internationale Gemeinschaft in Afghanistan vor eine ganz besondere Herausforderung. Wie geht man um mit einer menschenfeindlichen Regierung, der die Not der eigenen Bevölkerung egal ist?“ So heißt es in der Einleitung zu einem Text des neuen „Late-Night-Memo“-Online-Dienstes Table.Media vom 24.1.2023, der hinter einer Bezahl-/Probeabo-Schranke steht. Weiter heißt es, UN und Hilfswerke seien „ratlos“, „Auswärtiges Amt und das Entwicklungsministerium ringen um eine gemeinsame Strategie“ und hätten sogar (wie so oft) miteinander überkreuz gelegen, nachdem das AA „ – ohne das BMZ einzubeziehen – den Kontakt zur UN“ gesucht habe, „um im Windschatten der Weltorganisation weiter humanitäre Hilfe abwickeln zu können“. Daraufhin habe BMZ-Chefin Svenja Schulze in einem „Alleingang … den vorläufigen Stopp aller Projekte“ verkündet, inzwischen aber wieder aufgehoben.

Allerdings hatte AA-Chefin Annalena Baerbock schon am Tag vorher, vor einem Treffen der EU-Außenminister, über den Twitter-Account ihres Hauses erklären lassen:

Wo Frauen in #Afghanistan nicht mehr arbeiten dürfen, kann auch [deutsche Flagge] Hilfe nicht mehr ankommen. Wir können uns als internationale Gemeinschaft nicht zum Handlanger der #Taliban machen. Sie nehmen mit den Arbeitsverboten die ganze Bevölkerung in Geiselhaft.

Ich berichtete bereits hier.

Zu dem Table-Media-Text halte ich noch eine Reihe weiterer Anmerkungen für notwendig.

Dort heißt es u.a. weiter:

  • „International fahnden Regierungen und Hilfswerke nach einer Strategie, wie dem Land noch zu helfen ist.“ 

Naja. Regierungen fahnden danach, wie sie (was der humanitäre Imperativ gebietet) in Afghanistan weiter humanitäre Hilfe leisten können, ohne dass ihnen die jeweilige Opposition und die Medien – und dann wohl bald auch die „Steuerzahler:innen“ – Kollaboration mit den Talebs vorwerfen. Deshalb auch Baerbocks große Moralkeule, obwohl man die Taleban ja erst (qua Scheitern „am Hindukusch“) selbst wieder an die Macht gebracht hat. und das noch nicht einmal unabsichtlich: Immerhin war in Doha ja nicht nur das US-Taleban-Abkommen in Arbeit, sondern unter führender Beteiligung des AA auch der Versuch eine Machtteilung zwischen der damaligen Regierung in Kabul und den Taleban herbeizuführen, woraus letztere wohl nach einer gewissen Übergangsphase bald ebenfalls als stärkste Kraft, wenn nicht Alleinherrscher hervorgegangen wären.

Die Hilfswerke wissen schon was sie tun, wo sie weiter machen können und wo nicht. Sie sind in Afghanistan ja nicht neu, darunter die im Text erwähnte Caritas und die Welthungerhilfe, die dort seit Jahrzehnten aktiv sind. Wie das konkret und sehr abgewogen und differenziert aussieht, findet sich in einer Erklärung des genauso erfahrenen Schwedischen Afghanistan-Komitee mit seinen 2800 angestellten Afghaninnen (dazu viele Afghanen). „Fieberhafte“ Ratlosigkeit hört sich anders an. Also: Google Translate benutzen und mal über den deutschen Tellerrand hinaus blicken. (Meine engl. Übersetzung der Erklärung unten.)

  • „…seit die Taliban an Weihnachten Frauen das Arbeiten untersagt haben“.

Untersagt haben sie es den Frauen, die bei NGOs beschäftigt sind. Viele andere wurden (leider oft erfolgreich) „ermutigt“, nicht mehr am Arbeitsplatz zu erscheinen, manchmal bei (sporadisch) weiter laufenden Bezügen. Allerdings ist es eben nicht so, dass allen Frauen das Arbeiten verboten wurde. Manche arbeiten im Staatsapparat weiter, in Banken, wo gesonderte Schalter für Frauen eingerichtet  wurden, und v.a. im privaten produzierenden Sektor, dort allerdings unter zunehmend ausbeuterischen Bedingungen. Damit wir uns nicht missverstehen: Das sind nur Nischen in einem generellen System der Diskriminierung.

  • „… trotzig verkündete Ministerin Svenja Schulze (SPD) den vorläufigen Stopp aller Projekte.“

Kann sie gar nicht. Das BMZ hat keine Projekte in Afghanistan, denn es betriebt generell nur (langfristige Entwicklungs-) Projekte und Programme – im Gegensatz zu den kurzfristigen humanitären, die dem AA obliegen. Es finanziert höchstens Projekte und Programme von NGOs in Afghanistan – und hat also überlegt, deren Finanzierung einzustellen. Die Entwicklungszusammenarbeit ist seit der Taleban-Machtübernahme im August 2021 eingestellt, von allen westlichen Gebern. Was viele problematisch finden, denn nur mit humanitärer Hilfe kann Afghanistan seine Dauerkrisen nicht überwinden. Dafür tragen natürlich die Taleban eine gehörige Portion Mitverantwortung.

  •  „Also ist das BMZ vor allem in für Frauen so wichtigen Gesundheitsprojekten wieder aktiv.“

Dito.

  • AA und BMZ „wollen Hilfe leisten und können nicht. … Zudem gibt es keine wirkliche Opposition im Land, die eine Unterstützung wert wäre.“
  • Humanitäre Hilfe zu leisten ist nicht vom Vorhandensein einer Opposition abhängig. b) Und was ist mit den Frauenprotesten? Ist das keine „wirkliche“ Opposition? Allerdings fehlen ihr Strukturen (die finanzielle und sonstige Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen ist ja Entwicklungszusammenarbeit) und physischer Schutz vor den Taleban.
  • Für Hilfe „sorgten bisher rund 80 internationale und 100 lokale NGOs.“

Laut UN Women (und der örtlichen Koordinierungsstelle ACBAR) sind es 1260. UN Women befragte 151 von ihnen und hörte, dass 38% von ihnen ihre Aktivitäten wegen des Taleban-Arbeitsverbots für Frauen vollständig, weitere 48% teilweise einstellen mussten. 15% machten nach eigenen Angaben unbeeinflusst weiter. Also arbeiten wohl über die Hälfte weiter.

  • „Mit leeren Händen reiste Mohammed [UN-Vizegeneralsekretärin nach ihrem Kabul/Kandahar-Besuch – siehe hier] wieder ab.“

Hat der Autor erwartet, dass die UN einfach mal so nach Kandahar jettet und die Taleban, überzeugt von deren schlagenden Argumenten, mal so– schnipps – ihre ganze Politik ändern? Diplomatie ist das langsame Bohren dicker Bohlen, hat mal jemand gesagt, der damit zu tun hatte.

  • Die gute Frage im Text: „Ist es unter diesen Umständen richtig, die Hilfe vollständig einzustellen – was die ohnehin Ärmsten am härtesten treffen würde?“  

Ich würde sagen: Nein.

Auch wenn es ein politisches Dilemma darstellt. Übrigens war immer auch eine Mehrheit der Bundesbürger:innen gegen den Afghanistan-Einsatz, aus welchen Gründen auch immer. Der lief zwar in der Umsetzung mehr und mehr in die falsche Richtung, und humanitäre Hilfe in einer Krise zu leisten, kann nur richtig sein. Das muss zur Not auch gegen eine (gefühlte) Mehrheit durchgezogen werden.

Auch die UNO sagt das, wie die Tagesschau gestern (25.1.2023) meldete:

Die stellvertretende UN-Generalsekretärin Amina Mohammed hat Deutschland und die anderen EU-Staaten davor gewarnt, wegen der frauenfeindlichen Politik der Taliban in Afghanistan humanitäre Hilfslieferungen zu stoppen. Regierungen müssten den Steuerzahlern erklären, warum man einem Land Geld gebe, das Frauen so diskriminiere, sagte Mohammed unter anderem der Nachrichtenagentur dpa in Brüssel.

Die unangenehme Wahrheit sei aber, dass Frauen und Kinder in Afghanistan ohne Hilfe aus dem Ausland sterben würden. „Es gibt Temperaturen von minus 30 Grad“, sagte die Vize-Generalsekretärin. „Und es gibt Menschen, die nicht wissen, woher sie ihre nächste Mahlzeit bekommen.“

Laut den Vereinten Nationen sind etwa zwei Drittel der Bevölkerung, mehr als 28 Millionen Menschen, auf Hilfe angewiesen, um zu überleben.

Als nächster ist bereits der UN-Koordinator für Humanitäres in Begleitung der großen Hilfswerke CARE und Save the Children nach Afghanistan gereist – mit der gleichen Botschaft: dass humanitäre Hilfe „nicht ohne Frauen verteilt werden“ kann. Aber ohne die explizite Drohung einer Einstellung. Das wäre den Menschen in Afghanistan nicht zu vermitteln.

Sollte es trotzdem zu einer Einstellung der humanitären Hilfe für Afghanistan kommen, könnte man sagen: Regierungen, die das tun, spielen mit dem Leben von Millionen Afghan:innen – und es besteht der dringende Verdacht, dass sie jetzt einen auf super-moralisch machen, um davon abzulenken, dass sie mit ihrem Totalversagen „am Hindukusch“ selbst ein paar Aktien daran haben, dass die Taleban überhaupt wieder an der Macht sind.

Morgen (am 26.1.) wird Amina Mohammad den UN-Sicherheitsrat über die Ergebnisse ihrer Reise unterrichten.

Hilfe der Organisation Islamische Konferenz (ohne Frauen?) wird verteilt. Foto: Khaama.


Hier die oben erwähnte Mitteilung des Schwedischen Afghanistan-Komitee (SAK):

SAK’s work continues – but some activities are paused

After the ban on female NGO staff, SAK pauses some activities to avoid discrimination. Healthcare and education are not covered by the ban, so most of our operations are still open.

13 January 2023

On December 24, the de facto government of Afghanistan issued a ban on women working in non-governmental organizations (NGOs).

The Swedish Afghanistan Committee has around 2,800 female employees in Afghanistan. Approximately 1,000 of them work in health and medical care. As healthcare is exempt from the ban, our female healthcare staff can continue to work. The same applies to employees in our program for people with disabilities, such as physical therapists and technicians in our orthopedic clinics.

The ban on female staff also does not cover schools for grades 1-6. Above grade six, the situation is more uncertain. Through local agreements, we have previously been able to keep our schools for older girls open, even though most schools in the country for girls above grade six have been closed since the Taliban took power. Most of our schools are now on winter break but we are doing everything we can to be able to reopen them for both girls and boys after the Afghan New Year at the end of March. Around 1,500 women work in our educational activities, as teachers, principals or in other functions.

Paused to avoid discrimination

Large parts of our operations are gender segregated, and without female staff we cannot reach women and girls. To avoid discriminating, we are therefore pausing certain activities. If women and men, girls and boys cannot have equal access to an activity, SAK will not provide it to only men or boys.

Examples of activities that are currently paused for both women and men are vocational training, teacher training, and savings and producer groups for small business owners. Employees who are unable to perform their work continue to receive full pay.

Dialogue is ongoing

We are doing our utmost to ensure that all our female employees can return to work. We engage in dialogue with the de facto authorities both in Kabul and at the local level where we explain the consequences of excluding female staff. We are also part of a network of NGOs that carry out joint advocacy work for women to be allowed to work again.

We have worked in Afghanistan for 40 years, during civil war, former Taliban rule and international military presence. We have supported the civilian population through rural development, education and healthcare open to all, in close cooperation with the local population. We will continue to do so.

Auch Bäckereien verteilen Brot an Arme. Foto: Ariana News.


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