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Afghanistan, Amr-bil-Maruf, Frauenrechte, Kabul, Kontrazeptiva, Masar-e Scharif, Ruchschana, Taleban, UNFPA
Am 9. Februar 2023 berichtete die von afghanischen Frauen aus dem Exil, aber mit Quellen im Land betriebenen Nachrichtenseite Ruchschana, dass die Taleban (es war die Rede von „the Taleban“ and „this group“) in der Hauptstadt Kabul sowie in der nordafghanischen Metropole Masar-e Scharif den Kauf und Verkauf von Schwangerschaftsverhütungsmitteln untersagt hätten. Als Quellen berief sie sich auf einige Frauen, die wie bisher Kontrazeptiva in Apotheken kaufen oder sich von Hebammen geben lassen wollten, Hebammen, Ärzt:innen und sogar Medikamenten-Großhändler. (Die Originalmeldung auf Dari findet sich hier.)
Der Titel des Ruchschana-Beitrags lautete „Taliban have banned the sale of medicine and contraceptives“. Später im Text heißt es: „Die Taleban haben den Verkauf dieser Medikamente verboten, der die vorherige Regierung Afghanistans in Kooperation mit internationalen Institutionen [gestattet] hatte.” Das hörte sich besonders in dem aufgemachten Gegensatz zur Vorgängerregierung wie ein generelles Verbot an.
Die Story machte schnell ihre Runde in der internationalen Presse. Auch ich berichtete, am 13.2.2023 in der taz und etwas ausführlicher hier im Blog.
Eine Reihe von Journalist:innen und Medien fassten die Meldung als generelles Verbot auf oder formulierten diesbezüglich ambivalent. Letzteres betrifft auch den Titel meiner Artikel, der in beiden Fassungen lautete: „Taleban gegen Geburtenkontrolle“, in der taz mit der (nicht von mir stammenden) Unterzeile „In Kabul und im Norden Afghanistans ist der Verkauf von Verhütungsmitteln nun untersagt. Ein offizielles Verbot der Taliban gibt es aber bisher nicht.“ Ich hatte etwas vorsichtiger vorgeschlagen: „Verkaufsverbote und Beschlagnahmen in Kabul und Nord-Afghanistan, aber kein offizielles Verbot“. (Die Redaktionen haben die Hoheit über Überschriften und Untertitel, nicht der Autor.) Warum der Unterschied wichtig ist, sehen wir weiter unten.
Werfen wir zunächst noch einmal einen Blick auf den Ursprungsartikel. Ruchschana berichtete, Taleban-Kämpfer hätten in Kabul und Masar-e Scharif einige Apotheken, Kliniken und Hebammen-Praxen aufgesucht und erklärt, der Verkauf bzw. die Ausgabe der Verhütungsmittel sei „verboten“, aber nicht gesagt, wer das angeordnet habe oder ob es sich um ein generelles, offizielles Verbot handele. (Bei ihnen nachzufragen könnte riskant sein.)
Der Bericht zitiert einen Apotheker in Kabul, dass „Studenten“ (Taleban bedeutet übersetzt „Studenten“) „in weißer Kleidung“ (in seinen Laden gekommen seien und ihm erklärt hätten, der Vertrieb dieser Mittel sei „nicht zulässig“. Die Uniform des „Moral“ministeriums ist weiß, so dass man aus dieser Aussage schließen kann, dieses Ministerium stecke hinter dem Verbot oder dessen Umsetzung. Im Bericht heißt es aber auch weiter, das zuständige Gesundheitsministerium (MoPH) habe „keine offizielle Bekanntmachung in dieser Sache herausgegeben“. Es geht daraus aber nicht hervor, ob Ruchschana selbst beim MoPH nachgefragt hatte. (Auch das ist für ein Exilmedium und seine lokalen Quellen schwierig. Aber dadurch ergibt sich Spielraum für Interpretationen und Missverständnisse.)

Mitarbeiter des Taleban-„Moral“ministeriums (Amr bi-l-Maruf) in ihren weißen „Uniformen“. Foto: Ettelaat-e Rus.
Zunächst griff am 17.2.2023 der britische Guardian den Ruchschana-Bericht auf, allerdings ohne ihn explizit zu erwähnen. Der Autor zitiert ebenfalls mehrere Quellen, die nicht mit denen von Ruchschana identisch zu sein scheinen, dass „Taleban-Kämpfer“ den Verkauf der Kontrazeptiva „in zwei der größten Städte Afghanistans gestoppt“, bewaffnet „die Runde gemacht“, Hebammen „bedroht“ und „Apotheken angewiesen“ hätten, „alle Verhütungsmittel aus den Regalen zu nehmen“. Ein Taleban-Kommandeur hätte einer Hebamme gesagt, ihr sei nicht gestattet, „rauszugehen und das westliche Konzept der Bevölkerungskontrolle zu propagieren“. Der Artikel enthält keine Ortskennung; laut seinem Twitter-Account berichtet der Autor aus Islamabad. (Ich finde es problematisch, dass er Ruchschana überhaupt nicht erwähnt, obwohl seine Recherche offenbar durch deren Bericht ausgelöst wurde.)
Auch in diesem Bericht heißt es, dass es keine offizielle Erklärung des Gesundheitsministerium gebe und der (oder die) Afghanistan-Vertreter:in des UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA) nicht auf die Bitte um einen Kommentar reagiert habe. In dem Bericht kommt aber auch ein Taleban-Verantwortlicher in Kandahar zu Wort, der gesagt habe: “Der Gebrauch von Kontrazeptiva ist manchmal für die Müttergesundheit medizinisch notwendig. Es ist in der Scharia gestattet, Kontrazeptiva zu verwenden, wenn es ein Risiko für das Leben der Mutter gibt. Deshalb ist ein komplettes Verbot von Kontrazeptiva nicht richtig.” Ob es ein solches Verbot überhaupt gebe, sagte er nicht (und scheint der Guardian ihn auch nicht gefragt zu haben).
Am gleichen Tag berichteten die britische Boulevardzeitungen The Daily Mail und The Daily Mirror sowie eine Reihe indischer Blätter (z.B. hier) und zitierten ausführlich aus dem Ruchschana-Bericht (was ich auch tat) sowie dem Guardian. Die Mail fügte lediglich als Einleitung eine eigene Interpretation hinzu: „Die Taleban haben begonnen, in zwei von Afghanistans größten Städten ein umfassendes Verbot aller Formen von Kontrazeptiva durchzusetzen“ (meine Hervorhebungen).
Unter Bezug auf den Guardian-Bericht berichtete ebenfalls am 17.2. die Webseite des Pro-Trump-Fernsehsenders Fox News. Fox News fügte als Recherche-Eigenanteil hinzu: „Suhail Shaheen, Chef des Politischen Büros [der Taleban] in Doha, sagte Fox News Digital, dass er keine Kenntnis solcher Restriktionen habe und angedeutet habe, es könne sich um ‚ein Gerücht handeln, wie es immer wieder entsteht’. Shahin sagte Fox News Digital später, dass der Sprecher des Gesundheitsministeriums die Behauptung eines Verbots von Kontrazeptiva im Land zurückgewiesen habe.“
Diese Berichte riefen zwei afghanische Journalisten – Sulaiman Hakemy und Ali M. Latifi – auf den Plan, die die Sache nachrecherchierten. (Beide leben nicht mehr ständig in Afghanistan, besuchen Kabul aber regelmäßig – siehe hier.) Besonders irreführend fanden sie, dass der Eindruck eines „umfassenden Verbots“ („blanket ban“) hervorgerufen worden sei, wie sie in einem Tweet formulierten. Allerdings stammt der Begriff von The Daily Mail, nicht vom Guardian, wie es in ihrem Artikel heißt.
Ihr Artikel stand am 18. Februar in der in Abu Dhabi (VAE) erscheinenden englisch-sprachigen Tageszeitung The National. Darin heißt es gleich im ersten Satz, dass „Afghanistans Taleban-Regierung zurückgewiesen“ habe, „dass sie den Verkauf von Kontrazeptiva verboten habe“. Solche Berichte seien „fake news.“ Streng genommen dementierten die Taleban aber nicht, dass sie deren Import untersagt hätten. Hier besteht weiter Recherchebedarf.
Weiter heißt es in dem Artikel: „Apotheken in der Landeshauptstadt Kabul verkauften frei Familienplanungsprodukte, als The National sie besuchte.” Allerdings besuchten auch die Autoren dieses Artikels nur drei Apotheken – und zitieren insgesamt weniger Quellen als Ruchschana. Im Gegensatz zu jenen sei ihnen überall gesagt worden, dass es dort keine Besuche von Taleban-Kämpfern und auch keine Verbotsanweisung gegeben hätte. Sie zitieren jemanden in einer Filiale einer Apothekenkette im Stadtteil Taimani, dass dort der Verkauf „normal“ weiterlaufe. Man erhalte manchmal „von der für (die Zulassung) zuständigen Abteilung (des Gesundheitsministerium) Listen von Medikamenten, die nicht verkauft werden sollten, aber wir haben in letzter Zeit soetwas nicht erhalten.“ (Afghanistan hat große Probleme mit gefälschten und abgelaufenen Medikamenten.) Ein anderer Apotheker habe gesagt: „Mir sind keine solchen Restriktionen bekannt. Zwei befragte Kliniken seien ebenfalls nicht zum Thema Kontrazeptiva von Taleban besucht worden und hätten nichts von Durchsuchungen oder Beschlagnahmen gehört.
Auch ein inzwischen im Ausland lebender AAN-Kollege erkundigte sich bei einem Kabuler Apotheker und einem Mitarbeiter einer im südafghanischen Helmand auch auf dem Gebiet Familienplanung tätigen NGO und kam mit der Aussage zurück, dass seien „Gerüchte“ und „niemand hat uns gesagt, dass wir keine Kontrazeptiva mehr verkaufen sollen“. Dergleichen ein in Kabul lebender westlicher Analyst, auf den ich unten noch einmal komme, der „seinen“ dortigen Apotheker befragte.
Hier stehen, auf der Grundlage jeweils einer nur begrenzten Zahl von Quellen, Aussagen gegen Aussagen. Es ist bekannt, z.B. aus der Praxis bei der (unvollständigen) Umsetzung des Schulverbots für Mädchen jenseits von Klasse 6, dass örtliche Taleban-Behörden, Kommandeure oder sogar einfache Kämpfer oft die Politik in die eigene Hand nehmen, ohne konkrete Anweisung oder in Interpretation solcher (die oft vage und manchmal eben keine „Befehle“, „Verbote“ oder ähnliches sind, sondern hedayat, also „Anleitungen“) oder sogar aufgrund ihrer eigenen Auffassungen, was zulässig ist und was nicht.
Das könnte auch hier der Fall sein: Örtliche Taleban könnten aus eigenem Antrieb Apotheken, Kliniken etc. in Kabul und Masar-e Scharif aufgesucht und ein Verbot angeordnet haben. Ausgeschlossen ist auch nicht, dass die Taleban-Führung bei bestimmten heiklen Fragen keine schriftlichen Anweisungen erlässt oder diese nicht veröffentlicht. So berichtet der US-Sonderinspekteur für Afghanistan (SIGAR), dass sowohl die UN als auch das Taleban-Gesundheitsministerium mitgeteilt hätten, dass es im Gesundheitssektor Ausnahmen bei der Beschäftigung von Frauen bei NGOs gebe, aber dass es eben kein offizielles Dekret dazu gibt.
Aus diesen Gründen – der Kenntnis von der oft uneinheitlichen Taleban-Politik und ihrer fehlenden oder ungenauen Kommunikation sowie der nicht ganz verlässlichen Quellenlage von Ruchschana – versuchte ich bei meiner Berichterstattung, Zurückhaltung walten zu lassen. Bei den Titelzeilen ist das nicht völlig gelungen (obwohl im Deutschen ein Unterschied zwischen „Taleban“ und „die [=alle] Taleban“ besteht – im Persischen/Dari gibt es leider keine bestimmten und unbestimmten Artikel und deshalb weiß man nicht, ob Ruchschana im Dari-Originalaktikel „Taleban“ oder „die Taleban“ meinte, obwohl für letzteres spricht, dass es in einem Satz „die Gruppe“, d.h. die Organisation der Taleban, heißt). Aber in meinen Texten habe ich, glaube ich, hinreichend deutlich gemacht, dass noch Zweifel darüber bleiben, ob wirklich ein Verbot von Kontrazeptiva als offizielle Taleban-Politik existiert.
Den Bericht von Ruchschana habe ich nicht generell angezweifelt. Besonders der Verweis auf die Großhändler erschien mir plausibel. Inzwischen fand ich aber einen Bericht, demzufolge Ruchschana schon zweimal zu wichtigen Themen Falschberichte abgeliefert haben soll – vom in Kabul ansässigen Analysten Jeff Rigsby (der das nachrecherchiert hat): zum einen über die angebliche Trennung durch die Taleban von männlichem und weiblichem Krankenhauspersonal in Kabul und vom angeblichen Mord an einem (laut Rigsby) gar nicht existierenden schwulen afghanischen Medizinstudenten, eine Story, die ebenfalls durch die internationalen Medien ging. Ob Rigsby Recht hat, kann ich nicht einschätzen; mir kommen seine Schlüss abr plausibel vor. (Mensch kann seine Recherchen in seinem Twitter-Account nachlesen.)
Im vorliegenden Fall aber sprechen zwei Fakten aus den oben zitierten Medienberichten dafür, dass es tatsächlich kein allgemeines Verbot gibt: Erstens die Aussage des Apothekers, dass es keine neue Listen nicht zu verkaufender Medikamente gibt, und zweitens die Aussage des Afghanistan-Sprechers der renommierten internationalen NGO „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF), mit zentraler Rolle bei Progammen zur Geburtenplanung in Afghanistan. Er erklärte laut The National: „MSF ist von den afghanischen Behörden über keine Maßnahme informiert worden, die die Verwendung von Kontrazeptiva im Land betrifft. Alle unsere Aktivitäten bei der Familienplanung … gehen in Afghanistan ungehindert weiter.” Im Gegensatz zu den Taleban, die nicht immer die Wahrheit sagen oder bestimmte Dinge nicht zugeben, hat MSF keinen Grund, falsche Aussagen zu treffen.
Schließlich gibt es die Statements, dass es kein offizielles Verbot gibt, die Hakemy und Latifi den Taleban entlockten. Sie zitieren Dr. Scharafat Saman Amar, Sprecher des Taleban-MoPH, der die ursprünglichen Berichte “fake” nannte und gesagt habe: “Niemand hat Kontrazeptiva gestoppt.” Und der Sprecher des für die Umsetzung solcher Verbote zuständigen „Moral“ministeriums, Akef Muhajdscher, antwortete auf die Frage, ob Kontrazeptiva in Afghanistan verboten seien, mit „Nein.“ Das ist, wie Hakemy auf Twitter schrieb, immerhin etwas: Schließlich habe er „die gute Nachricht“ herausgefunden und berichtet, dass Frauen in Afghanistan weiterhin „das Recht haben, Verhütungsmittel zu verwenden.“
Fazit: Im Moment ist es extrem schwer, irgend etwas aus Afghanistan mit völliger Sicherheit zu berichten. Es gibt kaum noch ständig dort arbeitende Korrespondent:innen. Unter afghanischen Journalist:innen sind Selbstzensur und Angst weit verbreitete. Sie wagen oft nicht, den Taleban Fragen zu stellen, die sie vielleicht nicht gern hören Die Hauptursache dafür ist natürlich die mangelnde Transparenz der Taleban, ihre Unterdrückung der Meinungsfreiheit und Einschränkungen der Pressefreiheit. (Etwa wenn man liest, dass der Vizegouverneur der Provinz Parwan gegenüber lokalen Medien angeordnet habe, sie müssten vor der Veröffentlichung von Beiträgen die Genehmigung der Taleban-staatlichen Agentur Bachtar einholen. Das berichtete am 20.2.2023 ebenfalls ein afghanisches Online-Medium, Kabul Now, der englischsprachige Ablger der nunmehrigen Exilzeitung Ettelaat-e Rus. Es ist unklar, wie es von der Anordnung des Gouverneurs erfahren hat oder ob es gar eine Tonaufzeichnung davon gibt.)
Das alles schafft Raum für die Verbreitung von Gerüchten und gezielter Anti-Taleban-Propaganda – die geglaubt wird, weil mensch den Taleban alles zutrauen kann. Vieles hängt also davon ab, welchen Quellen man vertraut, was plausibel erscheint. Das beschreibt auch Hakemy.
Wie im konkreten Fall dürfen gerade Journalist:innen und Analyst:innen nicht jeden Bericht unhinterfragt übernehmen und als Fakt wiedergeben (was sowieso immer und überall der Fall sein sollte). Wenn Zweifel bestehen, müssen sie diese auch deutlich machen und ihren Bericht einordnen. Das habe ich hier im Blog und in der taz versucht, und seshalb steht bei mir (und vielen anderen) so oft der Konjunktiv. Denn manchmal kann mensch auch nicht vermeiden zu berichten, v.a. wenn Stories „viral gehen“, wie bei der Frage des Kontrazeptiva-Verbots.

Afghanische Apotheke. Foto: Tolonews.
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