Schlagwörter
Afghanistan, Anschlag, Balch, EU-Sonderbeauftragter, Herat, Human Rights Watch, ISIL-K, ISKP, Kabul, Masar-e Scharif, Mullah Musammil, Nangrahar, Salafisten, Taleban, Tomas Niklasson, UN-Sicherheitsrat
Der folgende Artikel von mir erschien heute (am 10.3.2023) leicht gekürzt in der taz. Hier mit einigen Zusatzinformationen und Aktualisierungen [in eckigen Klammern].
(Mutmaßliche) Rache des Islamischen Staates
In Afghanistan ist die weltweit agierende Terrorgruppe Hauptverantwortlicher für den Anschlag auf einen Taleban-Gouverneur
Ein Selbstmordattentäter hat am Donnerstagmorgen den Taleban-Gouverneur der nordafghanischen Provinz Balch, Mullah Muhammad Daud Musammil, umgebracht. Laut dem dortigen Taleban-Polizeisprecher, Muhammad Asef Wasiri, wurden bei dem Anschlag während einer Planungssitzung in Musammils Büro in der Provinzhauptstadt Masar-e Scharif zwei weitere Zivilisten getötet. Unabhängige Beobachter in Afghanistan gehen von mindestens sieben Toten und 15 Verletzten aus. [Hier ein Taleban-Überwachungsvideo, das den Attentäter zeigen soll.]
Seit sie im August 2021 in Afghanistan wieder an der Macht sind, hat der zuvor von ihnen ausgeübte Terror auch die Taleban erreicht. Musammil ist eines der bisher ranghöchsten Opfer. Der in Schweden lebende afghanische Terrorismus-Experte Abdul Sayed sprach gegenüber der taz von einem „schweren Schlag für die Taleban“.
[Zuvor wurden folgende hochrangige Taleban Anschlagsopfer der ISKP: Im November 2021 wurde bei einem Anschlag auf ein großes Krankenhaus in Kabul der Kommandeur des in der afghanischen Hauptstadt stationierten Zentralen Armeekorps, Hamdullah Muchlis, getötet. Im August 2022 wurde Scheich Rahimullah Haqqani, ein wichtiger Taleban-Ideologe, aber ohne offizielle Position in ihrer Regierung, ebenfalls bei einem Selbstmordattentat in seinem Büro umgebracht. Im Dezember 2022, fiel der Taleban-Polizeichef der Provinz Badachschan, Maulawi Abdul Haq alias Abu Omar, einer Autobombe zum Opfer.]
Musammil [stammt aus der Stadt Gereschk in der Provinz Helmand und gehört wie Taleban-Chef Hebatullah Achundsada zum paschtunischen Stamm der Nursai. Er] stieg während des Kampfes in seiner Heimatprovinz gegen die dort unter der Vorgängerregierung stationierten britischen ISAF-Truppen in die Taleban-Militärkommission auf. [Vor der erneuten Machtübernahme der Taleban im August 2021 war er ihr Vize-Schattengouverneur von Helmand, danach Schattengouverneur von Farah und Urusgan. Hier ein Video, das ihn 2015 zeigt.] Unter dem 2016 bei einem US-Luftschlag getöteten Taleban-Chefs Achtar Muhammad Mansur war er einer dessen Verbindungsleute nach Iran. [Hier ein Beitrag, den ich damals zu diesem Vorfall schrieb.]
Bisher bekannte sich niemand zu dem Anschlag. [Inzwischen meldete AP, dass sich ISKP zu dem Anschlag auf Musammil bekannt habe. Hier die Original-Mitteilung.]
Taleban-Ziele werden immer wieder von bewaffneten Gruppen angegriffen, die sich der gestürzten, westlich gestützten Islamischen Republik verpflichtet fühlen (hier ein Artikel von mir dazu), aber auch vom örtlichen Ableger des Islamischen Staates, bekannt unter dem englischen Kürzel ISKP. Er beschuldigt die Taleban, nicht konsequent genug eine „islamische Ordnung“ zu errichten.
„ISKP ist der Hauptverdächtige für den Anschlag in Balch und die einzige Anti-Taleban-Gruppe, die solch einen komplexen Anschlag ausführen kann“, sagte bereits am Tag des Anschlags ein afghanischer Analyst, der inzwischen in Deutschland lebt, der taz. Er sei zu erwarten gewesen, dass ISKP auf jüngste Taleban-Razzien gegen Verstecke der Gruppe in Kabul und Herat „eine starke Antwort geben“ werde. Nachdem am vorigen Sonnabend (4.3.2023) die Taleban gemeldet hatten, dass sie in Herat sechs Mitglieder der Gruppe, darunter eine Frau, getötet hätten, kündigte der ISKP-Medienarm al-Asaim Vergeltung an. [ISKP behauptete, die Razzia sei ein „Fake“ gewesen; die Taleban hätten die später Getöteten als Gefangene an den Ort gebracht und dort ermordet.]
Bereits am Mittwoch bekannte sich ISKP zu dem Anschlag in auf den Herater Chef der Wasserbehörde Muhammad Nader Kakar. Neben ihm kamen zwei weitere Personen um. Gestern ging in Kabul eine Haftmine an einem Taleban-Fahrzeug hoch. Ob es dabei Opfer gab, war zunächst noch unklar. [Die Taleban bestritten das später.] Es gab auch keine Bekennermeldung. Zuvor hatte sich ISKP sieben Wochen lang zu keinem Anschlag in Afghanistan bekannt.
Musammil war noch aus einem anderen Grund ein ISKP-Ziel. Vor seiner Versetzung nach Balch im vorigen Jahr war er seit August 2021 Gouverneur der Ostprovinz Nangrahar. In der ehemaligen ISKP-Hochburg ging er rabiat gegen deren Untergrund-Zellen vor. Human Rights Watch berichtete im vorigen Juli, dass man die Todesumstände von etwa 100 ISKP-Verdächtigen untersuche, die dort im April in einem Bewässerungsgraben gefunden wurde.
In sozialen Medien beschuldigte gestern ein ISKP-Offizieller, der unter dem Decknamen Abu Chaled auftritt, Musammil der Kollaboration mit Iran, den Taleban und den Salibin („Kreuzzüglern“, also den westlichen Truppen), gegen seine Gruppe, ohne direkt die Verantwortung für den Anschlag zu übernehmen. In den Wintermonaten 2020/21 hatten die eigentlich verfeindeten Taleban und damaligen afghanischen Regierungstruppen in konzertierten Offensiven mit US-Luftunterstützung ISKP aus allen von ihm kontrollierten Dörfern vertrieben (ausführliche AAN-Berichte dazu hier und hier).
Am Montag hatte der aus Schweden stammende EU-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tomas Niklasson, den Taleban in einem Interview mit der unabhängigen afghanischen Nachrichtenagentur Ariana dafür gedankt, dass sie zum Dialog über die Terrorismusbekämpfung bereit seien und sich „offenbar gut um ISKP kümmern“. [Die Taleban bekämpften ISKP aufgrund von Forderungen der internationalen Gemeinschaft und Afghanistans Nachbarn. Niklasson sagte: „Ich denke, dass sie ihr Bestes tun, militante Organisationen im Land zu bekämpfen, besonders Daesch (ISKP).”]
Ende Februar töteten die Taleban in Kabul auch den Chef der pakistanisch-indischen ISKP-Schwester, Idschas Amin Ahangar (siehe auch hier).
Thomas Ruttig

Taleban-Gouverneur von Balch, Mullah Muhammad Daud Musammil, getötet durch einen ISKP-Anschlag am 9. März. Foto: Khaama.
Hier als Hintergrund ein Mix aus Ausschnitten von zwei Artikeln, die ich Mitte vorigen Jahres für die Berliner Wochenzeitung Jungle World bzw. diesen Januar für die taz schrieb:
Der Islamische Staat – Provinz Khorasan (ISKP), der in Afghanistan und den Paschtunengebieten Nordwestpakistans agiert, verübt seit der Machtübernahme der Taleban immer wieder Anschläge auf deren Strukturen und Sicherheitskräfte. Er versucht bewaffnet und mit Terroranschlägen, deren Regime zu stürzen.
ISKP wirft den Taleban vor, nicht konsequent genug die Errichtung eines islamischen Systems zu betreiben, den Abzug der westlichen Truppen durch eine Vereinbarung und nicht durch einen siegreichen Jihad erreicht zu haben sowie um internationale Anerkennung zu buhlen. Zuletzt ging der ISKP mit Anschlägen auf die Botschaften Russlands und Pakistans sowie chinesische Geschäftsleute in Kabul auch gegen die wichtigsten internationalen Verbündeten der Taleban vor. Hauptangriffsziele bleiben jedoch die schiitische und andere religiöse Minderheiten.
Der ISKP verfügt allerdings über keine nennenswerte soziale Basis in Afghanistan mehr, seit die Gruppe salafistische Dorfgemeinden in Teilen Ostafghanistans durch eine mehrjährige Schreckensherrschaft so sehr gegen sich aufbrachte, dass diese Ende 2019 und Anfang 2020 die Taleban und die Truppen der damaligen Regierung zu Hilfe riefen. Allerdings verfügt die Gruppe in der Region weiterhin über entlegene Rückzugsgebiete, Geld aus dem Ausland und, so meinen manche Beobachter, Unterstützung aus dem „tiefen Staat“ in Pakistan. Dort misstraut man den afghanischen Taleban trotz aller Unterstützung in den vergangenen 20 Jahren – fährt ihnen gegenüber also eine Doppelstrategie. Zum einen, weil sie die umstrittene Grenze, die sogenannte Durand-Linie, nicht anerkennen, mit der die Briten Ende des 19. Jahrhunderts Pakistan von Afghanistan trennten. Zum anderen wegen des engen Verhältnisses der afghanischen Taliban zu den pakistanischen Taleban (TTP), die ihnen nacheifern und das vom Militär geprägte Regierungssystem in Islamabad beseitigen zu wollen.
Zulauf erhält der ISKP auch aus militanten antischiitischen Gruppen aus Pakistan, die seit Jahrzehnten im Grenzgebiet beider Länder operieren. Größter Rekrutierungsfaktor dürfte allerdings die Gewalt der Taleban sein. Sie gehen systematisch gegen das Milieu vor, das mit dem ISKP sympathisiert, salafistische Prediger, Moscheen und Gemeinden in Afghanistans Städten, darunter Kabul. Dabei kam es auch zu Gruppenhinrichtungen.
Und hier noch die ISKP betreffenden Ausschnitte aus dem letzten betreffenden Bericht des UN-Sicherheitsrates (Dokument S/2023/95), dort Islamic State in Iraq and the Levant – Khorasan (ISIL-K) genannt (auf Englisch):
Issues of leadership were significant during the reporting period. ISIL core continues to be under pressure, with attrition in its leadership and depleting resources. It has proven resilient, but morale is low. The group is strengthening through its affiliates beyond Iraq and the Syrian Arab Republic: in Africa and with the aggressive agenda of Islamic State in Iraq and the Levant – Khorasan (ISIL-K) in Afghanistan, whose rivalry with the Taliban will continue to have a destabilizing effect in Afghanistan and the region. Most of the attacks by ISIL-K are against the Taliban. A new leader of ISIL was killed after barely eight months in charge. The function of leader has become almost totemic, a rallying point for the wider group. For the time being, ISIL core continues to produce leaders who meet this need, and members of affiliates pledge allegiance swiftly and without question, not anticipating close operational direction.
(…)
Operations mounted by Islamic State in Iraq and the Levant – Khorasan (ISIL-K, QDe.161) in Afghanistan have been designed to challenge regional security and the credibility of the Taliban as guarantors of security both domestically and internationally.
(…)
ISIL in Somalia hosts the Al-Karrar office (S/2022/547, para. 24), headed by the Emir of ISIL in Somalia, Abdul Qadir Mumin, a former leader within Al-Shabaab who had pledged allegiance to ISIL in October 2015. (…) Several Member States noted that the Al-Karrar office facilitated ISIL-K financially by sending $25,000 worth in cryptocurrency every month.
(…)
ISIL-K portrays itself as the primary rival to the Taliban de facto administration, with its strategic focus on Afghanistan and beyond in the historical Khorasan region. Its main goal is to portray the Taliban as incapable of providing security in the country. By targeting diplomatic missions, ISIL-K seeks to undermine the relationship between the Taliban and neighbouring countries. The 5 September attack on the Russian Embassy in Kabul was the first against a diplomatic presence in Afghanistan since the Taliban took control; in December, ISIL-K claimed attacks against the Pakistan Embassy and a hotel that accommodated Chinese nationals. It also threatened to launch terrorist attacks against Chinese, Indian and Iranian embassies in Afghanistan. Apart from high-profile attacks, ISIL-K conducts low-level attacks nearly daily, causing fear in local communities, targeting Shia minorities to undermine Taliban Pashtun authority and challenging nascent security agencies.
Regional Member States estimated current ISIL-K strength at between 1,000 and 3,000 fighters, of whom approximately 200 were of Central Asian origin, but other Member States believed that number could be as much as 6,000. Core ISIL-K cells are located primarily in the eastern Kunar, Nangarhar and Nuristan Provinces of Afghanistan, with a large cell active in Kabul and its environs. Smaller groups had been detected in the northern and north-eastern Badakhshan, Faryab, Jowzjan, Kunduz, Takhar and Balkh Provinces. Since Balkh is one of the most economically developed provinces in the north, it remained of primary interest to ISIL-K in terms of revenue generation. One Member State reported that ISIL-K had started smuggling narcotics, which was a new development.
The ISIL-K magazine “Voice of Khorasan” releases propaganda in Pashto, Persian, Tajik, Uzbek and Russian languages; recent outreach in Tajik and Uzbek was noteworthy following a man named Rashidov, an Uzbekistan national, joining the ISIL-K media wing. With the goal of recruiting from ethnic groups in the region and strengthening the group’s capabilities, ISIL-K had recruited Rashidov online while he was working in Finland as a labour migrant, before moving to Afghanistan. ISIL-K used the teachings of Syrian Arab Republic-based radicalizing ideologist Abu Mohammad Qosoni (Khodjihonov). The propaganda of the Tablighi Jamaat movement in Kyrgyzstan, the only country in Central Asia where it is not banned, was spreading to neighbouring countries. Ethnic Uzbek and Tajiks were targeted for recruitment, with approximately 200 Uzbekistan nationals reportedly joining groups in the Syrian Arab Republic since the beginning of 2021.
(…)
One Member State noted cooperation between ETIM/TIP and ISIL-K, despite the fact that historically the former had aligned with Al-Qaida. According to that State, the groups had exchanged personnel and planned joint operations, with ETIM/TIP providing military instructors to ISIL-K and sending members to join its operational unit responsible for tracking Chinese nationals and carrying out attacks. On 29 July, they had plotted in Kabul to purchase weapons and conduct terrorist attacks against Chinese targets in Afghanistan. Both groups had jointly published Uyghur-language propaganda posters. Whether such cooperation between the groups was strategic or opportunist required further study.
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