Schlagwörter
Afghanistan, Amr-bil-Maruf, Bamian, Bildungsverbot, Herat, Kabul, Masar-e Scharif, Mädchenschulen, Naurus, Neda Muhammad Nadim, Taleban
Am kommenden Donnerstag* beginnt in Afghanistan das neue Schuljahr. (Jedenfalls in den meisten Gebieten – Afghanistan kennt traditionell eine terminliche Trennung zwischen den sogenannten „kalten“ und kleineren „warmen“ Gebieten im Süden des Landes.) Aber alle Mädchen, die Klassen höher als die sechste besuchen müssten, bleiben nach allen vorliegenden Anzeichen weiter davon ausgeschlossen, genauso wie die Universitätsstudentinnen. Für beide Gruppen hat die Taleban-Führung im vergangenen Jahr Verbote verhängt.
Als erstes wurden die älteren Schulmädchen, die sich am 23. März schon in ihren Klassenräumen eingefunden hatten, wieder nach Hause geschickt. Das betrifft etwa drei Millionen bis dahin an den Sekundärschulen registrierte Mädchen. Die Taleban-Führung um Maulawi Hebatullah Achundsada machte damit die Entscheidung ihres damaligen Bildungsministers Nurullah Munir rückgängig, der die Vorbereitungen für das neue Schuljahr wie gewöhnlich vorangetrieben hatte.
Der kommende Donnerstag wäre der 549. Tag des Verbots für die Schülerinnen sein.
Im Dezember folgte der Universitätsausschluss für Studentinnen, der alle staatlichen und privaten Hochschulen betrifft. Der wurde auch gegenüber Studentinnen an den vielen universitätsvorbereitenden privaten Lern- und Sprachzentren durchgesetzt.
Schon im Oktober, bei den Aufnahmeprüfungen zu den Universitäten, an denen junge Frauen noch teilnehmen konnten, hatte sich herausgestellt, dass für sie bereits die Auswahl der Studienfächer begrenzt worden war. Im Januar wiesen die Taleban auch die privaten Hochschulen und Bildungseinrichtungen an, „bis auf weiteres“ keine Studentinnen aufzunehmen.
Die Begründung lautete in beiden Fällen: Gemeinsames Lernen von Jungen und Mädchen führe zu fisat, einem Scharia-Konzept, das etwa „schlechtes [unmoralisches] Benehmen“ bedeutet. Das wollen die Taleban unterbinden. An den Universitäten hatten sie allerdings bereits zuvor eine Gendersegregation durchgesetzt, mit minutiösen Anordnungen, wer wo sitzen, wie dorthin gelangen und wer wen unterrichten soll, wo getrennte Vorlesungen stattfinden müssen und wo ein Vorhang zwischen Studentinnen und Studenten ausreicht. Schulen sind für Mädchen und Jungen ohnehin getrennt, zumindest durch Schichtunterricht.
Im Dezember instruierte das Hochschulministerium die Taleban-Sicherheitskräfte, dass das Studierverbot nicht für Koranschulen (Madrassas), auch höhere, gelte.
Für die Studenten der staatlichen Universitäten öffneten diese in diesem Jahr früher, damit sie im Vorjahr versäumte Kurse nachholen können.

Vor dem Verbot, aber schon unter den Taleban: Schülerinnen stehen zur Uni-Aufnahmeprüfung an. Foto: Ariana.
Die Taleban-Regierung beharrt weiter auf ihrer Position, dass es sich um keine Verbote, sondern zeitweilige Maßnahmen handele. Zum Beispiel wiederholte ihr im Oktober 2022 ernannter, neuer Hochschulminister Neda Muhammad Nadim am 7. März bei einer Zeremonie in der Universität Kabul zur Eröffnung des neuen akademischen Jahres mit Bezug auf die in seine Zuständigkeit fallenden Studentinnen, dass das Verbot „bis zu einer neuen Weisung“ gelte. Er verwies darauf, dass die Gehälter der Dozentinnen an den staatlichen Hochschulen weitergezahlt würden. Für sie gilt ebenfalls ein Arbeitsverbot, da sie nach den Vorstellungen der Taleban in Abwesenheit von Studentinnen bzw. gesonderten Universitäten für sie keine männlichen Studenten unterrichten dürfen. Im Januar hatte Ruchschana jedoch berichtet, dass sogenannte Kontraktdozentinnen an der Universität in Masar-e Scharif seit Monaten nicht bezahlt worden seien. Diese Kategorie hatten frühere Regierungen eingeführt, um die Zahl der Lehrkräfte zu steigern.
Nach den Diskussionen um das Mädchen-Schulverbot ersetzte Taleban-Anführer Hebatullah neben dem Hochschulminister auch den Bildungsminister durch einen konservativeren Gefolgsmann. (Ein Porträt Nadims findet sich hier.)
Hochschulminister Nadim drohte in seiner Rede am 7. März aber auch, dass niemand Forderungen erheben solle, die sich gegen das islamische Recht und afghanische Traditionen richteten.
Gegen ihn sowie seinen Amtskollegen im „Moral“ministerium (Vice and Virtue/ Amr bi-l-Maruf) verhängte der EU-Rat am 7. März Sanktionen wegen ihrer Verantwortung für „schwere Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan“ und die weit verbreitete Verletzung des Rechts der Frauen“, u.a. auf Bildung, freie Meinungsäußerung und Gleichbehandlung mit Männern.
Zusammenbrüche im Hochschulbereich
Inzwischen berichtete Anfang Februar der Verband der öffentlichen und privaten Universitäten Afghanistans, dass mindestens 35 private Universitäten wegen Einnahmeverlusten schließen müssten, darunter reine Mädchenuniversitäten, wenn die Taleban nicht ihre Verbote revidierten. 6000 Angestellte solcher Universitäten hätten schon ihre Arbeit verloren. Die private Kabuler University of Afghanistan stellte einem Bericht zufolge im Februar bereits ihre Tätigkeit ein und sucht jetzt einen Investor. In Herat hätten die privaten Hochschulen wegen der Einschränkungen auch die Hälfte ihrer männlichen Studenten verloren und dadurch finanzieller Verluste erlitten. Viele Studenten hätten sich ausgetragen, da sie für das Einkommen ihrer Familien arbeiten müssten. Der Chef der dortigen vereinigung der privaten Bildungszentren sagte, 30 Prozent dieser Zentren habe schon schließen müssen, und den übrigen 70 Prozent drohe in diesem Frühjahr das gleiche. Zu den Ursachen gehörten auch erhöhte Mieten und Steuern. Ine ähnliche Situation wurde aus der Nordprovinz Dschausdschan gemeldet.
Auch Kabuls Buchhändler klagen über Umsatzinbrüche von etwa 70 Prozent wegen sinkendem Käuferinteresse, u.a. wegen der fehlenden Studentinnen, und steigenden Steuern und Mieten.
Dazu kommt, dass die Taleban ankündigten, Bücher einzusammeln, die gegen den Islam und die Interessen des Landes gerichtet seien, „Ideologien wie Säkularismus“ propagierten und meist aus dem Ausland stammten. Offenbar in vorauseilendem Gehorsam hätten Verlage „tausende“ solcher Bücher bereits beim Kulturministerium abgegeben.
Unklare Details und ein möglicher Lichtblick
Unklar ist noch der Status der Medizinstudentinnen, insbesondere der Kabul Medical University (KMU). Sie untersteht nicht dem Hochschul- sondern dem Gesundheitsministerium. Daraus schlossen verschiedene Beobachter, dass das Studierverbot für Frauen dortige Studentinnen oder generell Medizinstudentinnen nicht beträfe. Ferner nahmen sie an, dass Medizinstudentinnen von bereits früher gegenüber mehreren NGOs verkündeten Ausnahmeregelungen für Frauenarbeit im Gesundheitssektor fielen.
Allerdings hatten die Taleban im Februar auch die Abschlussprüfungen für Medizinstudentinnen auf unbestimmte Zeit verschoben.
Für Aufmerksamkeit hatte gesorgt, dass die dem Hochschulministerium unterstehende Prüfungsbehörde am 6. März angeordnet hatte, dass die für Uni-Aufnahmeprüfungen erforderlichen Formulare auch an die Zwölftklässlerinnen verteilt werden sollten, und zwar in den „kalten Gebieten“. Ausgenommen waren die Provinzen Nimrus, Helmand und Kandahar. Nun gehören diese durchaus zu den warmen Gebieten, aber sie fallen – zufällig oder nicht – auch mit den Hauptherkunftsgebieten der Taleban und der Ultrakonservativen in ihrer Führung zusammen. So ist dieser Bericht für mich bisher nicht zu deuten, etwa ob es sich um einen Schritt in Richtung einer Abmilderung des Studierverbotes handeln könnt. Gegenüber der Quelle, der privaten afghanischen Nachrichtenagentur Pajhwok, bestätigte das Hochschulministerium, dass die Verteilung damals schon begonnen habe. Die letzte Entscheidung, ob die Mädchen dann tatsächlich an der Prüfung teilnehmen könnten, läge beim Ministerium.
Darüber, wann die Schulen und Universitäten wieder für Mädchen und Frauen geöffnet werden sollen und was die Taleban-Regierung dafür tut, dahin zu kommen, schweigt sie sich aus. In einem BBC-Interview sagte Taleban-Außenminister Amir Chan Muttaqi, er hoffe, dass diese „Problem schrittweise gelöst“ würden. „Die Welt sollte Geduld dafür aufbringen.“ Im Januar hatten die Taleban eine interministerielle Kommission zur Frage der Mädchenbildung eingerichtet, die das Problem in einem festgelegten, aber nicht bekannt gegebenem Zeitrahmen lösen solle. Sie haben auch angekündigt, dass neue, islamischere Studienpläne erarbeitet werden sollen.

Neuer Frauenprotest in Kabul. Foto: Twitter.
Neue Proteste
Nachdem aufgrund von Taleban-Repressalien die Straßenproteste von Frauen über einige Monate nicht mehr stattgefunden haben, gingen am Frauentag am 8. März wieder Frauen auf die Straße. Ein kleiner Protest vor einem UN-Büro wurde laut BBC von Taleban schnell aufgelöst. In sozialen Medien wurden Fotos gezeigt, auf den Studentinnen zu sehen waren, die vor der Kabuler Universität saßen und demonstrativ in ihren Büchern lasen.
Es gab eine Erklärung von Frauen, die ihre männlichen Kommilitonen zu einem Vorlesungsboykott aufforderten. Nach dem Uni-Verbot war es auch vereinzelt zu solche Solidaritätsaktionen gekommen (siehe z.B. hier in Dschalalabad und wieder im März in Masar- Scharif). Aber das waren Einzelfälle. Die BBC (s.o.) zitierte einen Studenten, der sagte, das würde doch nichts ändern. Aber die Taleban sollten ihm „einen einzigen Vers im Koran zeigen, in dem gesagt werde, dass Mädchen nicht gebildet sein sollen.“ Eine Studentin äußerte, sie wäre bereit, den Hidschab zu tragen, oder segregierte Vorlesungen zu besuchen, wenn sie nur studieren könnte.
Auch in den letzten Wochen kam es wieder zu Taleban-Vorgehen gegen private Bildungszentren, die weiter Mädchen zugelassen hatten. Aus Bamian wurde Ende Februar berichtet, dass bewaffnete Taleban unter Verweis auf das Studierverbot vier solcher Bildungszentren durchsucht hätten. Im Kausar Danesch-Zentrum hätten sie alle Mädchen aus den Klassen getrieben und den Direktor verhaftet. Er wurde später wieder freigelassen, aber erst nachdem er eine Unterlassungserklärung unterschrieben hatte. Die Zentren seien geschlossen worden.
Zuvor war berichtet worden, dass in Bamian im Februar eine nur für Frauen geöffnete Bibliothek eröffnet worden sei. Die Bibliothek wurde mit einer 80%-Anschubfinanzierung einer afghanischen NGO von 150.000 Afghani (1.600 USD) gefördert. Die Gründerin, ebenfalls eine Frau, steuerte 20 Prozent bei. Ebenfalls im Februar hatte in Masar-e Scharif ein Psychologiestudent eine mobile Leihbibliothek eröffnet, die Bestellungen online aufnimmt, dann die Bücher an private Haushalte verteilt und damit auch für Mädchen und Frauen zugänglich ist. Zwei Wochen zuvor war in Kabul der Uni-Professor Ismail Masch’al von den Taleban verhaftet worden, der etwas ähnliches gestartet hatte, allerdings mit viel Öffentlichkeit und als Protest. Masch’al ist immer noch in haft.
Mitte März sollen die Taleban In Kabul die einzige frauengeführte Bibliothek geschlossen haben. Sie war erst sechs Monate früher gegründet worden. Deren Gründerin, Laila Bassim, berichtete, dass zuvor die Bibliothek wegen der bestehenden Einschränkungen schon zwei Monate lang nicht arbeiten konnte, nachdem die Taleban zweimal die Räumlichkeiten durchsucht hatten. Alle Bücher seien in Privathäuser verbracht worden.
Am Montag: Was die Taleban (nicht) für Bildung ausgeben

Prof. Masch’als mobile Bibliothek in Kabul. Foto: Amu TV.
* Der Termin des neuen Schuljahres fällt traditionell mit dem Tag nach dem „persischen“ Neujahrsfest Naurus zusammen. Das allerdings haben die Taleban Mitte März letzten Jahres als offiziellen Feiertag abgeschafft, obwohl fast alle Afghan:innen quer durch alle Ethnien es feiern. Immerhin sagte ein Sprecher des Kultur- und Informationsministeriums damals: „ Wenn die Menschen [zu diesem Anlass] etwas tun wollen, werden wir sie nicht daran hindern.“
Normalerweise würde das Schuljahr also am 22. März beginnen. In diesem Jahr aber könnte der erste Tag des Ramadan auf den Dienstag/Naurus fallen (oder auf den Mittwoch – das ist noch nicht klar), so dass sich der Schuljahresbeginn verschiebt. Sollte es der Donnerstag werden, wäre gleich danach (also am Freitag) schon wieder Wochenende. Also vielleicht fangen gar erst am Sonntag die (verbleibenden) Schulen wieder an.
** Es handelt sich offenbar um eine große, gut ausgestattete Schule. Andere deutsche NGOs haben nach ortsüblichen Preisen und Standards (also Lehm-/Bruchsteinbauweise, Plumpsklo, keine Sitzmöbel) Schulen für 30-50.000 Euro gebaut. Auf solch einer Grundlage könnten die Taleban ihren Ausstoß verzehnfachen.

Nun wieder geschlossene Frauenbibliothek in Kabul. Foto. Kabul Now.
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