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Der folgende Artikel erschien gestern (22.3.2023) online bei der taz und heute in der gedruckten Ausgabe. Die unten stehende Fassung ist deutlich ausführlicher; Ergänzungen stehen in [in eckigen Klammern]

Es hat sich bestätigt: Das neue Schuljahr in Afghanistan begann am Dienstag (21.3.2023), ohne dass die Taleban ihre Verbote für Frauen und Mädchen zurücknahmen oder nur abmilderten. Hoffnungen, dass sie genauso überraschend tun könnten, wie sie ein Jahr zuvor Mädchen von weiterführenden Schulen ausschlossen, bewahrheiteten sich nicht. Es öffneten nur die Jungenschulen, die Mädchenschulen bis einschließlich Klasse 6 und die Universitäten für die männlichen Studenten [, wie die Taleban bestätigten].

Siehe mein Vorbericht hier.

[Heute ist der 549. Tag, an dem größere Mädchen in Afghanistan nicht mehr zur Schule gehen können.]

Entgegen früheren Gepflogenheiten hatte das Bildungsministerium nicht rechtzeitig öffentlich mitgeteilt, wann genau das Schuljahr beginnen würde. Die Taleban legten das nun auf persischen Neujahrstag Naurus. [Es begann das Jahr 1402 nach dem in Afghanistan gebräuchlichen persischen Sonnenkalender.] Voriges Jahr hatten sie Naurus als arbeitsfreien Feiertag abgeschafft, da sie das Fest für „unislamisch“ halten. Dadurch waren in diesem Jahr zwar die Lehrer in den Schulen, die intern über die Schulleiter benachrichtigt wurden [und bereits schon zuvor ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten], aber keine Schüler:innen, berichtete AFP [aus sieben Schulen in Kabul sowie den Provinzen Herat, Kundus, Ghasni und Badachschan. (Meine Quellen bestätigen das. In diesem Brief gab es laut Reuters keinen Bezug auf die Sekundärschulen für Mädchen.]

Augenzeugen berichteten der taz, dass auch nur wenige Studenten die Kabuler Universität betraten. In Kundus, wo im vorigen Jahr trotz Verbots wie in anderen Nordprovinzen noch einige Sekundärschulen für Mädchen offen waren, seien diese jetzt ebenfalls geschlossen, so Reuters. [„Wir warten auf weitere Anweisungen, was die Sekundärschulen betrifft“, zitierte die Nachrichtenagentur den Chef der dortigen Taleban-Bildungsbehörde, Muhammad Ismail Abu Ahmad.]

In Kandahar sprachen sich Mädchen höherer Klassen dafür aus, ihnen wieder Zugang zu Bildung zu gewähren, berichtete eine aus dem Exil arbeitende unabhängige afghanische Nachrichtenseite. Eine Schülerin sagte, sie würden dafür die Verschleierung akzeptieren. „Wir gehen nach Pakistan oder Iran, wenn uns nicht erlaubt wird, zur Schule zu gehen“, sagte eine andere.

Die Begründung für die Verbote lautet, gemeinsames Lernen von Jungen und Mädchen führe zu „unmoralischem Benehmen“. Das wollen die Taleban unterbinden. Ihre Regierung beharrt aber darauf, dass es sich nur um zeitweilige Maßnahmen handele, wie Hochschulminister Neda Muhammad Nadim [am 7. März bei einer Zeremonie in der Universität Kabul zur Eröffnung des neuen akademischen Jahres unter Bezug auf die Universitäten] sagte. [Dieselbe Begründung führen die Taleban auch in Bezug auf die Mädchenschulen an; die Verbote gälten „bis zu einer neuen Weisung“.] Als Beweis verwies Nadim darauf, dass die Gehälter der Dozentinnen an den staatlichen Hochschulen weitergezahlt würden. Dasselbe gilt für Lehrerinnen, für die ebenfalls ein „zeitweiliges“ Arbeitsverbot gilt.

Im Januar riefen die Taleban eine interministerielle Kommission zur Mädchenbildung ins Leben, die die damit verbundenen [technischen und logistischen] Probleme in einem festgelegten, aber nicht bekannt gegebenem Zeitrahmen lösen solle. [Die Taleban kündigten auch an, dass neue, islamischere Lehrpläne erarbeitet werden sollen.]

Vizebildungsminister Maulawi Sajed Ahmad Schahidchel sagte am Dienstag [laut der staatlichen Taleban-Nachrichtenagentur in der Amani-Oberschule in Kabul bei einer offiziellen Zeremonie zum neuen Schuljahr], man wolle „allen Menschen des Landes eine faire, ausgewogene und qualitativ gute Bildung“ vermitteln. An Mädchenschulen müsse es aber erst „eine sichere Bildungsumgebung“ geben. „Alle Prinzipien der Scharia“ sollen dort beachtet werden und das gesamte Personal [einschließlich Lehrerschaft und Verwaltung] Frauen sein. [Allerdings dürfen Frauen unter den Taleban nicht studieren, auch nicht fürs Lehramt.]

Davon ist das Land weit entfernt. Zwar verfügt das Bildungsministerium mit geschätzt umgerechnet 400 Millionen US-Dollar über das drittgrößte Budget aller Ressorts. Aber 95 Prozent davon gehen in laufende Kosten wie Gehälter. Für gesonderte Schulgebäude für Mädchen reicht das bei weitem nicht (siehe mein ausführlicherer Bericht hier).

Im Landesdurchschnitt verfügt nur die Hälfte der bestehenden Schulen über ein Gebäude[, wie bereits unter der Vorgängerregierung bekannt war. Vor zwei Wochen berichteten auch die Taleban-Behörden aus der Provinz Tachar, dass von den dort existierenden 710 Schulen – für Jungen und für Mädchen –350 über kein eigenes Gebäude verfügten, so dass 40 Prozent aller Schüler:innen dort unter freiem Himmel lernen müssten.

Darüber, wann die Schulen und Universitäten wieder für Mädchen und Frauen geöffnet werden sollen und was die Taleban-Regierung dafür tut, dahin zu kommen, schweigt sie sich aus. In einem BBC-Interview sagte Taleban-Außenminister Amir Chan Mutaqi, er hoffe, dass diese „Problem schrittweise gelöst“ würden. „Die Welt sollte Geduld dafür aufbringen.“

Am Tag des Schuljahresbeginns hielten sich immerhin Bildungsminister Maulawi Sajed Habibullah Agha sowie eine Delegation von UNICEF in Katar auf, wo sie mit der Gastgeberregierung „die ökonomischen Herausforderungen, die unzureichende Infrastruktur, die begrenzten Humanressourcen und Qualifikation in Afghanistan“ diskutierten. Offenbar ging es darum, externe Mittel für das Bildungssystem zu mobilisieren.

In der Vergangenheit begann das neue Schuljahr am dritten Tag des neuen Jahres. Auf Naurus folgte seit einiger Zeit „Bauerntag“ (siehe z.B. hier 2022), mit Schwergewicht auf landwirtschaftliche Ausstellungen, also wie Naurus mit dem Frühjahrsanfang verbunden. An diesem Tag beginnt vielerorten auch der Verlauf von Pflanzen und Stecklingen für die Gärten (Fotos in diesem AAN-Bericht).]

Thomas Ruttig

Ein Absatz zum Naurus-Fest aus meinem ursprünglichen taz-Beitrag findet sich im Nachfolgetext morgen auf dieser Seite.

Eine Mädchenklasse in Paktika. Foto: Pajhwok News Agency.


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