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Es mag sich anhören wie „nichts neues“: Die Bundesregierung lässt sich weiterhin nicht davon beeindrucken, dass sich die Sicherheitslage in Afghanistan im Kontext des westlichen Truppentotalabzugs weiter verschlechtert und das Selbstbewusstsein der Taleban sich in dessen Ergebnis weiter verstärkt und dazu noch eine erneute Verschärfung der Coronasituation kommt.

Der Bayerische Flüchtlingsrat meldete heute, dass er „nach aktuellen Informationen“ davon ausgehe, „dass die nächste Sammelabschiebung nach Afghanistan vermutlich am Dienstag, den 8. Juni 2021 stattfinden wird.“ Es wäre die 39. Sammelabschiebung seit Wiederaufnahme dieser Maßnahmen im Dezember 2016.

Der für den 4.5.2021 geplante Flug war kurzfristig „verschoben“ worden. Das Bundesinnenministerium (BMI) gab logistische Beschränkungen in der Hauptstadt Kabul und am dortigen Flughafen als Grund an. Die afghanische Regierung habe wegen möglicher Taleban-Angriffe nach den vom 1. Mai verschobenen Abzugs der US/NATO-Truppen für den Zeitraum vom 1. bis zum 6. Mai in Kabul verstärkte Sicherheitsmaßnahmen getroffen.

Seit Dezember 2016 Bisher schoben deutsche Behörden insgesamt 1035 Afghanen über solche Sammelabschiebeflüge direkt nach Afghanistan ab. Dazu kommt eine unbekannte Anzahl von Abschiebungen in europäische Drittländer unter der sogenannten Dublin-Regelung. Von dort aus könnten sie in sogenannten Kettenabschiebungen ebenfalls weiter nach Afghanistan abgeschoben werden, ohne dass das in die deutschen Statistiken eingeht.

Coronalage

Nach Auskünften aus Kabul gibt es wieder einen „dramatischen Anstieg“ an registrierten Covid19-Infektions- und Todesfällen. Der Chef des Afghan Japan-Hospitals in Kabul erklärte Mitte Mai, die ausgebrochene dritte Coronawelle sei „gravierender“ als die zweite, denn „mehr Patienten sterben in deren Ergebnis“.

In den letzten Tagen wurden zwischen 240 und 850 Neuansteckungen per 24 Stunden sowie zwischen 10 und 24 Coronatoten registriert. Während der ersten Corona-Welle im Mai/Juni 2020 waren es täglich um die 400 Neuansteckungen und 20 bis 40 Tote. Damals wurde die Marke vom 25.5.2021 nur an sehr wenigen Tagen übertroffen.

In der letzten Woche gab es nach WHO-Zahlen gegenüber der davor liegenden Woche bei beiden Zahlen mehr als eine Verdoppelung (+118% bzw. +107%). In den letzten drei Tagen (zwischen dem 23. und 25.5.) stieg die Zahl der registrierten Neuerkrankten von 541 auf 840. Schon zuvor hatte das afghanische Gesundheitsministerium von einer Verdreifachung der Todesfälle im Monat Saur (April/Mai) gegenüber Hamal (März/April) gesprochen. Gleichzeitig habe sich die Zahl der positiv Getesteten um 3,5 Mal gsteigert. Seit September 2020 verzeichnete Afghanistan fast eine Verdopplung der insgesamt registrierten Fälle (von über 39.000 auf über 66.000) und eine Verdopplung der insgesamt registrierten Todesfälle (von 1400 auf 2800).

Am 25. Mai rangierte Afghanistan weltweit auf Rang 26 von 95 Ländern bei registrierten Neuerkrankungen (am 24.5. Rang 55 von 153 und am 23.5. und 58 von 159). Nach absoluten Zahlen lag Afghanistan am 24.5. bei aktiven Fällen weltweit auf Rang 81 (7800 bei 35 Mio. Einwohnern), davon 1124 ernste oder kritische Fälle (14%). Zum Vergleich: Am 25.5. registrierte Deutschland 142.400 aktive COVID19-Fälle – bei einer über doppelt so großen Bevölkerung, aber auch einer 130fach höheren Gesamttestrate gegenüber Afghanistan. Bei Test pro Kopf der Bevölkerung liegt Afghanistan weltweit nur auf Rang 194 (von 220). Das dürfte auf eine nach wie vor hohe Dunkelziffer an Infektionen hindeuten.

Kritisch ist, dass in Afghanistan die Impfkampagne praktisch zum Stillstand gekommen sei, da das Land fast über keine Impfdosen mehr verfüge. Nach WHO-Angaben wurden bisher insgesamt 573.277 (Erst- und Zweit-)Dosen verimpft – bei etwa 35 Mio. Einwohnern. Gegenwärtig warte man auf eine neue Lieferung aus China. Peking hat versprochen, diese von 400.000 auf 750.000 Dosen aufzustocken. Die Zahl der Tests pro Tag sei seit dem Vorjahr von 1000 auf zwischen 1000 und 3000 gestiegen.

Dazu kommt, dass auch die Behandlungskapazitäten unzureichend bleiben. Nach Angaben des Direktors des afghanischen Gesundheitswesens in einer Provinz stünden in den meisten der 34 Provinzen nicht mehr als fünf Intensivbetten für Covid19-Patienten zur Verfügung, und in 20 Provinzen können das Krankenhauspersonal nicht mit Beatmungsgeräten umzugehen. In Kabul hatte ein wichtiges Referenzkrankenhaus Mitte Mai kein freies Bett mehr für Coronapatienten. Gleichzeitig warnte der afghanische Botschafter in Delhi afghanische Bürger wegen der dort aufgetauchten Mutation, nach Indien zur Behandlung zu reisen; auch Indien hat die Visaerteilung erschwert).

Sieht besser aus als die Gesamtlage: Corona-Testzentrum in Afghanistan.

Sicherheitslage

Es gibt mehrere neue, Besorgnis erregende Tendenzen und  Details: die Kämpfe haben ein präzedenzloses Ausmaß angenommen; die Taleban sind am Drücker und unternahmen nach dem Verstreichen des ursprünglichen Truppenabzugstermins zum 1. Mai verstärkt Angriffe; sie rücken in mehreren Provinzen weiter vor, kesseln deren Hauptstädte ein oder greifen sie sogar an und erobert mehrere Distriktzentren; die Regierungstruppen verlieren die Kontrolle über wichtige Verbindungsstraßen. Nach Angaben von Fernfahren gibt es an den Straße zwischen Kabul und Kandahar nur noch vier Polizeiposten der Regierung, statt früher etwa 100. Ähnlich an der Straße zwischen Pul-e Chumri und Kundus, wo sich deren Zahl von mehreren Dutzned auf etwa 5 reduziert haben soll. Das abziehende US-Militär sah sich gezwungen, die Regierungstruppen in mindestens zwei Provinzen vor offenbaren strategischen Verlusten zu bewahren. Auch die Hauptstadt Kabul gerät vermehrt unter Druck. Einflussreiche frühere Mudschahedinführer wie Ismail Khan und Atta Muhammad Nur sowie der Sohn des ermordeten Ahmad Shah Massud, Ahmad Massud, drohten mit dem Beginn eines „zweiten Widerstands“ gegen die Taleban und der Aufstellung von der Regierung unabhängiger Milizen; in Nord- und Nordost-Afghanistan werden seit mehreren Monaten verstärkt Waffen verteilt. Nach einem Bericht der New York Times kultivieren westliche Geheimdienste diese Akteure, um den Verlust direkten Zugangs durch den Truppenabzug zu kompnsieren. Insgesamt wurden durch Kämpfe in diesem Jahr über 100.000 Menschen vertrieben.

Die Zahl der von UNAMA erfassten zivilen Opfer im ersten Quartal 2021 ist wieder auf dem hohen Niveau von 2019, nachdem sie im ersten Quartal 2020 aufgrund mehrerer Faktoren, die sich aus dem US-Taleban-Abkommen vom Februar 2020 ergaben, zurückgegangen waren. Die UNO verzeichnete zwischen Mitte November 2020 und Mitte Februar 2021 einen fast 50-prozentigen Anstieg der landesweiten Sicherheitsvorfälle, wovon regierungsfeindliche Gruppen (also zumeist die Taleban) 85 Prozent auslösten. Laut US-Quellen nahm die Zahl der Taleban-Angriffe im ersten Quartal 2021 gegenüber dem selben Zeitraum um 37 Prozent zu. Sie blieben also in der Offensive. Für ganz 2020 lag die Zahl der Vorfälle insgesamt um 10 Prozent höher als 2019.

Nach einer Verringerung der Taleban-Gewalt bis zur Unterzeichnung des Abkommens verschärfte sie sich ab März 2020 wieder langsam, aber stetig. Im Herbst und frühen Winter, wenn die Kämpfe in normalerweise nachlassen, verschärften sie sich wieder, vor allem im wärmeren Süden des Landes – und das während, Taleban und Regierung in Katar Verhandlungen begannen. Dabei stiegen die Zahlen der zivilen Opfer der Taleban stark und waren so hoch, wie nie in diesem Quartal seit Beginn der systematischen Aufzeichnungen 2009 und doppelt so hoch wie im Vergleichszeitraum 2019. Während die abziehenden, sich aus den meisten Kämpfen heraushaltenden ausländischen Truppen bei zivilen Opfern kaum noch eine Rolle spielen und der Anteil des IS stark zurückging, nahmen die von den Regierungskräften verursachten zivilen Opfer um 35 Prozent zu; die der Taleban lag aber um mehr als ein Drittel darüber. Die von nicht identifizierten „regierungsfeindliche Elemente“ verursachten zivilen Opfer verfünffachten sich. Es kann angenommen werden, dass die Taleban als größte Aufstandsbewegung für die viele, wenn nicht die meisten davon verantwortlich ist.

Zwischen Mitte November 2020 und Mitte Februar 2021 nahem auch die Aktivität des IS wieder zu. Das war noch vor dem Anschlag auf Schulmädchen im Kabuler Stadtteil Dascht-e Bartschi am 8. Mai, für den keine Gruppe die Verantwortung übernommen hat, dessen Muster aber dem Vorgehen des IS entspricht. Neuesten Angaben zufolge kamen dabei 100 Menschen um und 160 wurden verletzt.

Die Welle gezielter Anschläge auf Regierungsvertreter:innen, die bis ins Jahr 2021 hinein v.a in Kabul wohl ungekannte Ausmaße erreichte, schwächte sich seit Frühjahrsbeginn ab. Allerdings scheint sie sich auf einige Provinzen ausgedehnt zu haben, darunter Logar (südöstlich von Kabul) und Herat, wo solche Vorfälle vorher fast unbekannt waren. Zuden Opfern gehörten z.B. die Polizeichefs der Distrikte Wasachwa (Paktika), eines Stadtbezirks von Pul-e Alam (Logar), von Nawa, Dehjak und Giro (Ghasni) sowie der Kommandeur der milizähnlichen Afghan Local Police in Jahjachel (Paktika), ein Stammesältester und früherer Mudschahedin-Kommandeur in Schinwari (Nangrahar), ein Wachmann und ein Zivilist in Chost, der Vorsitzende eines örtlichen Lehrerrates, in Geistlicher, in Parwan (https://tolonews.com/afghanistan-172341), ein weiterer Geistlicher in Behsud (Nangrahar), ein jetzt für die Regierung arbeitender Ex-Journalist in Kandahar und ein Anführer der Schia-Gemeinschaft in Gereschk (Helmand).

Vor dem Fastenmonat Ramadan im April und Mai 2021 fielen die Distriktzentren von Almar (Farjab), Tscharch (Logar) und Burka (Baghlan) an die Taleban. Sie griffen außerdem das Distriktzentrum von Arghandab (Zabul) mit zwei Autobomben an. Im Fall von Tscharch und Burka erklärte das Verteidigungsministerium, man habe das Distriktzentrum verlegt, sei also noch in Kontrolle.

In den Ramadan fiel auch der ursprünglich vereinbarte Endtermin für den Truppenabzug, der 1. Mai. Danach griffen die Taleban nach einer Meldung von Reuters noch am ersten Tag in mindestens sieben Provinzen an. Am Vorabend detonierte in der Provinzhauptstadt Logars, Pul-e Alam, eine Autobombe vor dem Gästehaus eines örtlichen Politikers, wobei Dutzende Menschen getötet wurden.

Anfang Mai nahmen die Taleban Armeeposten nahe Ghasni-Stadt sowie Teile des Distriktzentrums von Neu-Baghlan (Baghlan-e Markazi bzw Jadid) ein. Am 6. Mai nahmen die den zweitgrößten Staudamm des Landes, Dahla in Kandahar ein.

Gekämpft wurde seit Anfang Mai auch um mehrere Distriktzentren in Herat wie Farsi und Obe. In Obe gelang es den Regierungskräften nach eigenen Angaben erst am 25.5., den Basar zurückzuerobern. Mitte Mai eroberten die Taleban das Distriktzentrum von Nirch (Wardak). Am vergangenen Wochenende gruffen die Taleban das Distriktzentrum von Schahr-e Safa (Sabul) sowie die Hauptstraße in Richtung Kandahar an und konnten nur mit Mühe zurückgeschlagen werden.

In Helmand und Sabul unterstützte das US-Militär die afghanischen Streitkräfte erneut mit Luftschlägen, offenbar um größere Niederlagen bzw Verluste strategischer Gebiete zu verhindern. Die Flugzeuge starteten offenbar von Stützpunkten in Katar und auf Flugzeugträgern im Arabischen Golf oder anderen Teilen des Indischen Ozeans, nachdem sie einen ihrer Hauptstützpunkte im Land, in Kandahar, geräumt hatten. Gleichzeitig halten die USA offenbar ihre technische Unterstützung der afghanischen Armee über private Sicherheitskontraktoren aufrecht, die offenbar formal von der afghanischen Regierung angestellt, aber aus US-Mitteln bezahlt werden.

Während des Ramadan wurden nach Angaben des afghanischen Innenministeriums bei Taleban-Angriffen – darunter 15 Selbstmordangriffe und fast 200 Minenexplosionen – über 250 Zivilist:innen getötet und über 500 verletzt. (Das könnt auch Zahlen von IS-Opfern enthalten – mehr hier.) Die Unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans (AIHRC) sprach von 160 getöteten und 351 verletzten Zivilist:innen bei 130 Vorfällen, ohne den Anschlag auf eine Kabuler Schule am 8. Mai. Allein für die Provinz Herat gab eine Zivilgesellschaftsgruppe die Zahl ziviler Opfer am 10. Mai für die vorausgegangenen 50 Tage mit 137 an, davon 22 Tote und 115 Verletzte.

Trotz einer dreitägigen Waffenstillstands über das Id-Fest zum Ende des Ramadan kamen bei Minenexplosionen in Kandahar und Kundus mindestens neun Menschen ums Leben. Nach Angaben von Tolo News sei es während der Festtage zu „vereinzelten“ Gefechten in den Provinzen Badachschan, Baghlan, Balch, Farah, Farjab, Helmand, Herat, Kapisa, Kundus, Laghman, Logar, Tachar, Urusgan und Wardak gekommen.

Nach dem Ramadan nahmen die Taleban ihre Angriffe nahe Helmands Provinzhauptstadt Laschkargah und in Baghlan wieder auf. Sie nahmen die Distriktzentren von Daulat Schah (Laghman) und Dschalres (Wardak) ein, an der strategisch wichtigen Straße von Kabul nach Bamian. Zuletzt wurde gemeldet, dass die Taleban vier Distrikte in der Westprovinz Farah vollständig unter Kontrolle genommen haben, Gulestan, Schibkoh, Bakwa und Chak-e Safid. In Badachschan griffen sie den Distrikt Tashkan an. Die Regierungstruppen antworteten mit zahlreichen Luftschlägen und behaupten, zahlreiche Taleban getötet zu haben.

Am vergangenen Wochenende griffen die Taleban Mehterlam, die Hauptstadt der Provinz Laghman, an und wurden nach heftigen Kämpfen zurückgeschlagen. Nach den Kämpfen wurden nach Angaben des Provinzgouverneurs 117 Sicherheitsbeamte „wegen Pflichtvernachlässigung“ verhaftet, nachdem Sicherheitskräfte Stellungen in mehreren Distrikten an die Taleban übergeben hatten, möglicherweise nach Bestechung.

In Logar verschlechterte sich die Lage nach Erkenntnissen von AAN in den letzten Tagen ebenfalls, darunter in den Schlüsseldistrikten Baraki Barak und Muhammad Agha, wo der Basar von Waghjan wegen Kämpfen geschlossen wurde. In der Provinzhauptstadt Pul-e Alam wird mit einem bevorstehenden Taleban-Angriff gerechnet.

Kämpfe bei Daulat Schah (Laghman). Foto: Khaama.

Die Einnahme von Dschalres ermöglichte es den Taleban nun, sich im Westen Kabuls der Hauptstadt weiter anzunähern. Sie sollen von dort aus verstärkt in den Distrikten Paghman, Guldara und Schakardara aufgetaucht sein. Damit können sie auch die Straße von Kabul in Richtung Norden durch die Schimali-Ebene bedrohen. Sie rücken auch auf das Zentrum von Paghman vor. Der Vormarsch der Taleban in den Provinzen Logar, Wardak, Laghman und Baghlan wird von Beobachtern in Kabul als Versuch der Taleban bewertet, den Druck auf die Hauptstadt weiter zu erhöhen und sich möglicherweise Ausgangspositionen für einen möglichen Angriff zu schaffen – ein Trend, der allerdings bereits seit mehr als einem Jahr zu beobachten ist.

Die Bundesregierung sollte die Abschiebungen stoppen und statt Flüchtlingen lieber Impfstoff nach Afghanistan fliegen. Wie sagte WHO-Generaldirektor Dr Tedros Ghebreyesus vor wenigen Tagen auf dem Weltgesundheitsgipfel:

Über 75% aller Impfstoffe sind in nur 10 Ländern verabreicht worden.

Es gibt keinen Weg, es diplomatisch auszudrücken: eine kleine Gruppe von Ländern, die die Mehrzahl der Impfstoffe der Welt herstellen und kaufen, kontrolliren das Schicksal des Rests der Welt.

Afghanistan gehört zu diesem „Rest“.