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Das folgende Interview führte die Zeitschrift Publik-Forum mit mir, auf deren Online-Seite es am 5.3.17 erschien.

Anti-Abschiebe-Demo von Afghanen und Unterstützern in Berlin im Dezember 2016. Foto: (c) Katja Heinemann

 

Blanke Verzweiflung in Afghanistan

Interview: Markus Dobstadt

Die Bundesregierung will weiter abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan abschieben. Doch ein normales Leben ist dort nirgendwo möglich, sagt Thomas Ruttig vom unabhängigen Afghanistan Analysts Network. Er kennt das Land seit 35 Jahren, hat für die UNO und die EU gearbeitet und ist gerade in Kabul. Er hat mit Abgeschobenen gesprochen

Publik-Forum.de: Herr Ruttig, die Bundesregierung plant weitere Abschiebeflüge nach Afghanistan. Innenminister Thomas de Maizière sagt, es gebe dort sichere Gebiete. Sehen Sie das auch so?

Ruttig: Ganz und gar nicht. In Afghanistan herrscht landesweit Krieg, und es gibt nur mehr oder weniger unsichere Gebiete. In einer der Bundesregierung zufolge »sicheren« Provinz wie Bamian haben sich in einem Jahr fast dreißig schwere Zwischenfälle ereignet – von Bombenanschlägen und Mordanschlägen bis zu Gefechten und Luftschlägen. Stellen Sie sich den größten deutschen Landkreis – die Mecklenburgische Seenplatte – mal drei vor und verlegen sie diese Ereignisse dorthin. Würde man dann noch von »relativer Sicherheit« sprechen? Außerdem scheint es die Bundesregierung nicht zu stören, auch Flüchtlinge aus Provinzen zurückzuschicken, die sie selbst nicht für sicher hält – von dort kommen deutlich über die Hälfte der seit Dezember 2016 abgeschobenen 77 Afghanen.

Sie haben in Kabul die Ankunft des jüngsten Flugs mit 18 abgeschobenen Asylbewerbern miterlebt. Wie wirkten die Menschen auf Sie?

Ruttig: Bei der Ankunft meist nur niedergeschlagen. Aber inzwischen ist das bei denen, die wegen mangelnden Familienanschlusses in die Zwischen-Unterkunft in Kabul gegangen sind, in blanke Verzweiflung umgeschlagen. Einer von ihnen – er ist um die 30 – ist mit seinen Eltern nach Iran gegangen, als er fünf war. Er kennt nichts und niemanden hier in Afghanistan, fürchtet sich, wie er sagt, »wegen der vielen Bewaffneten« auf die Straße zu gehen. Sie sollten die Geschichten hören, wie es ihm und anderen in Iran ergangen ist und warum Europa für sie zu einer Hoffnung geworden war.

Stimmt es, dass Flüchtlinge vom Arbeitsplatz in Deutschland weg in die Maschine gebracht wurden?

Ruttig: Ja. In einem Fall trug der Abgeschobene noch die Jacke der Sicherheitsfirma, bei der er arbeitete; er durfte nicht mehr zurück in seine Wohnung, um irgendwelche Sachen zu packen, und hatte bei der Ankunft in Kabul überhaupt kein Gepäck dabei. Ein anderer wurde morgens um 4 Uhr aus seiner Unterkunft in Hamburg geholt und direkt nach München zum Abschiebeflug gebracht. Er hatte am Tag vorher gerade eine Ausbildungsvertrag als Dachdecker abgeschlossen und durfte weder seinen Anwalt anrufen, noch konnte er in dem Trubel seinen Papiere mitnehmen. [Es gab mehrere ähnliche Fälle bei den drei bisherigen Abschiebeflügen. Siehe auch meine frühere Berichterstattung bzw Medienschauen hier auf Afghanistan Zhaghdablai.]

Arbeiten die deutschen Behörden mit den afghanischen zusammen?

Ruttig: Die deutschen Behörden sehen ihre Verantwortung beendet, wenn die Angeschobenen auf dem Kabuler Flughafen ankommen. Sie finanzieren zwar ein freiwilliges psychosoziales Betreuungsangebot, aber es ist bisher unklar, wie viele der Rückkehrer das überhaupt in Anspruch genommen haben. Die Abgeschobenen stehen ja unter extremem Stress, wenn sie hier ankommen, und es gibt keine Garantie, dass das Angebot überhaupt wirklich zu ihnen durchdringt.

[Außerdem gibt es die REAG/GARP-Programme – siehe hier – die „von IOM im Auftrag des Bundes und der Länder organisiert und in Zusammenarbeit mit den Kommunalbehörden, den Wohlfahrtsverbänden, Fachberatungsstellen, Zentralen Rückkehrberatungsstellen und dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) durchgeführt” werden. So weit ich weiß, hat UNHCR in Afghanistan die Zusammenarbeit mit diesen IOM-Programmen eingestellt. Auch Norwegen hatte Anfang 2016 die Zusammenarbeit mit IOM wegen Korruptionsverdachts zumindest vorübergehend suspendiert und eine externe Untersuchung eingeleitet – siehe hier. IOM hat offenbar eine eigene Untersuchung durchgeführt und einige Resultate der externen Untersuchung bestritten; hier die Pressemitteilung dazu. Norwegen unterhält auch eine separate Unterkunft für Rückkehrer in kabul, die offenbar nicht von IOM gemanagt wird. In der IOM-Mitteilung heißt es weiterhin, dass Rückkehrer für 6 bis 9 Monate nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan beobachtet werden. Es ist bisher aber nicht klar, ob das nur für Rückkehrer aus Norwegen oder für alle gilt, die IOM betreut.]

Was passiert mit den abgeschobenen Asylbewerbern in Kabul? Kümmern sich Hilfsorganisationen um sie?

Ruttig: Nur sehr lückenhaft. Vor allem für die Zwangsabgeschobenen gibt es noch überhaupt keine Strukturen zu einer sinnvollen Wiedereingliederung. Ich vermute, dass es für die freiwilligen Rückkehrer – mit denen wir uns noch nicht beschäftigen konnten – auch nicht viel besser aussieht, auch wenn die finanzielle Unterstützung für sie etwas höher liegt. Dem afghanischen Flüchtlingsministerium fehlen Möglichkeiten; die afghanische Regierung war auf die vielen Rückkehrer, vor allem die Hunderttausenden, die 2016 aus Pakistan und Iran zurückkamen, so wenig vorbereitet wie die europäischen Regierungen auf die Flüchtlingsbewegungen in 2015/16. Dies müsste man erst einmal verbessern, um Abschiebungen und andere Rückführungen wirklich verantworten zu können – aber dem steht der Wahlkampf bei uns im Wege.

Haben Sie Informationen, was aus den Menschen der ersten beiden Abschiebeflüge geworden ist?

Ruttig: Nein, aber wir sind gerade dabei, das herauszufinden. Das Problem ist, dass selbst die afghanischen Behörden nicht wissen, wohin die Leute gehen, entweder direkt vom Flughafen oder nach den 14 Tagen in der Übergangsunterkunft. Warum viele der Rückkehrer ihrer Regierung nicht trauen oder ihr wenig zutrauen, sagte mir einer der Rückkehrer am Montag: »Als wir hier ankamen, sagte der Flughafenkommandant, dass wie den Boden der Heimat küssen sollten –, aber wir sind ja hier weggegangen, weil diese Heimat uns außer Krieg nichts zu bieten hatte.«

Halten Sie einen generellen Abschiebestopp für angemessen?

Ruttig: Absolut. Es gab einen solchen Abschiebestopp von 2005 bis 2015 – und seitdem hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan nicht verbessert, sondern verschlechtert, was alle wissen, auch Herr de Maizière. Was sich verändert hat, ist die Stimmung in Deutschland, beeinflusst von einer lautstarken xenophoben Minderheit, und der läuft de Maizière mit Teilen der Bundesregierung hinterher. Als ob die wirklichen Fremdenfeinde angesichts des Angebots der AfD seiner Partei noch ihre Stimme geben würden! Ich glaube auch, dass ein solcher Abschiebestopp für einige Jahre sowohl durchzuhalten als auch öffentlich zu begründen wäre – wenn man sich endlich daran machte, die Voraussetzungen für eine sinnvolle Wiedereingliederung aller Rückkehrer zu schaffen.

Hier zu Lande verbindet man mit dem Land vor allem Islamisten, Krieg, Terror und Flucht. Was mögen Sie an Afghanistan?

Ruttig: Ehrlich gesagt, geht es überhaupt nicht (mehr) ums Mögen. Ich habe in Afghanistan und von den Afghanen einiges gelernt, Freunde gefunden und die Chance gehabt, mich ein paar Jahre lang relativ frei zu bewegen, um die Schönheit des Landes kennen zu lernen. Inzwischen – auch wegen der erheblichen Einengungen der Bewegungsspielraums für alle, die hier leben und arbeiten – Afghanen wie Ausländer! – geht es nur noch darum, daran mitzuarbeiten, den Afghanen die Chance auf ein menschenwürdiges Leben zu erhalten.

Wie ist die Stimmung in der afghanischen Bevölkerung nach so vielen Jahrzehnten Gewalt? Gibt es dort auch ein normales Leben? Haben die Menschen Hoffnung?

Ruttig: Es gibt einen Alltag, und natürlich explodieren nicht immer und überall Bomben. Aber das angesichts von 40 Jahren Kriegserfahrung und bei fehlender Aussicht auf ein baldige Ende dieses Zustands »normal« zu nennen – wie es Kanzleramtschef Altmeyer neulich tat –, halte ich für völlig unangemessen.

Können die Kinder, auch die Mädchen, zur Schule gehen?

Ruttig: Ja, es gab erhebliche Fortschritte im Bildungswesen. Es gibt viele Mädchenschulen, und viele Afghanen wollen, dass auch ihre Töchter Bildung erlangen. Aber eine sehr konservative Grundeinstellung in großen Teilen der Bevölkerung, jahrelange Taliban-Angriffe auf Bildungseinrichtungen und neuerdings auch verstärkte »Übernahmen« von Schulen oder Kliniken durch afghanische Regierungstruppen und manchmal sogar westliche Soldaten, wie von der UNO berichtet, begrenzen den Zugang, und zwar stärker für Mädchen. Auch die offiziell verbreiteten Zahlen über den Schulbesuch sind viel zu hoch. Die meisten Mädchen verlassen die Schule vor einem Abschluss; häufig geht es nur bis Klasse 6 oder sogar nur 3.

Wie ist Ihre Einschätzung, was die Zukunft des Landes angeht?

Ruttig: Ganz platt gesagt: Der Krieg muss beendet werden, sonst ist alles andere an Entwicklung unmöglich, und es droht die Gefahr, dass das, was geschaffen wurde, schnell wieder zerstört wird. Aber Afghanistan sieht sich noch viel grundlegenderen Problemen gegenüber, die selbst dann schwer zu lösen sein werden, wenn der Krieg enden würde. Ich rede von der übergroßen Abhängigkeit von auswärtiger Hilfe, von einem Mangel an wirklich guter Bildung und Arbeitsplätzen, von großer Armut, an der die meisten »Investitionen« der letzten Jahre vorbeigingen. Präsident Ghani sprach jüngst auf der Münchener Sicherheitskonferenz davon, dass 59 Prozent aller Afghanen unter der Armutsgrenze leben. Zuvor war immer von 39 Prozent die Rede – aber wahrscheinlich ist das nun eine Anpassung der bisher geschönten Daten an die Realität. Wir haben ähnliches beim Schulbesuch, bei der Lebenserwartung und der Müttersterblichkeit gesehen – auch die ist unter den höchsten weltweit.