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Hinweis: Ich werde diesen Text bei Erscheinen wichtiger Berichte regelmäßig fortschreiben.

„Nach Einschätzung der NATO lässt sich die militärische Lage derzeit als Patt beschreiben.“ So heißt es in der öffentlich nicht zugänglichen Afghanistan-Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes vom 28.7.2017. Diese NATO- bzw US-Einschätzung findet sich auch im jüngsten Bericht des Sondergeneralinspekteurs der US-Regierung für Wiederaufbau in Afghanistan, SIGAR (S. 12.)

Diese Einschätzung griff General André Bodemann auf, von November 2016 bis Oktober 2017 Kommandeur des Sektors Nord der Resolute-Support-Mission in Afghanistan sowie der knapp 1000 deutschen RS-Truppen (inzwischen ist er Unterabteilungsleiter Strategie und Einsatz II im Bundesministerium der Verteidigung in Berlin, siehe hier). Gegenüber der Süddeutschen Zeitung sagte er – damals noch in seiner Verwendung in Afghanistan: Ihm zufolge „besteht zwischen Regierungstruppen und Insurgenten ein Patt“, wenn auch mit erheblichen Verlusten auf beiden Seiten. So schlecht, wie man das in Deutschland sehe, sei die Lage aber nicht: „Wir erzielen stetig kleine Fortschritte, sind aber noch lange nicht am Ziel.“

Auch z.B. Anthony Cordesman, langjähriger Afghanistan-Experte am Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington (zitiert hier), und der ebenfalls dort ansässige Council of Foreign Relations verwendeten (hier) jüngst diesen Begriff, d.h. seine englische Entsprechung: „stalemate“.

 

Warum dieser Begriff so wichtig ist, macht die größte deutsche Nichtregierungsorganisation, die im Flüchtlingsbereich tätig ist – Pro Asyl –, deutlich: „Unbeeindruckt von der sich kontinuierlich verschlechternden Situation wird die Behauptung des ‚Patts’ seit Jahren aufrechterhalten”, heißt es dort. Denn in der politischen Praxis, und trotz der selbst im AA-Bericht aufscheinenden Differenzierungen, siehe hier…

Seit dem Abzug des Großteils der internationalen Truppen bei Beendigung der ISAF-Mission agieren die Aufständischen mit größerer Bewegungsfreiheit. (…) Sie konsolidieren den Einfluss in ihren Kernräumen (…) und weitem ihn aus. (…) Die Initiative ergreifen aber, wie in einem asymmmetrischen Konflikt nicht unüblich, primär die Aufständischen.

… hat das Bundesinnenministerium daraus eine sich nicht verschlechternde, und sogar sich verbessernde Lage gemacht – und begründet damit die andauernden, wenn auch noch gedrosselten Abschiebungen nach Afghanistan (zum letzten Abschiebeflug siehe hier).

In der Tat hat sich die Sicherheitssituation in Afghanistan seit dem Missionswechsel von ISAF (inklusive Kampfeinsatz) zu Resolute Support (nur Ausbildung, Beratung und Unterstützung; natürlich gibt es noch eine, wieder gesonderte Kampfmission Freedom Sentinel – siehe hier) nach allen vorliegenden Anzeichen meistenteils verschlechtert oder erst nach z.T. deutlichen Verschlechterungen auf hohem (d.g. gewalttätigen) Niveau „stabilisiert“ (deshalb das Wort in Anführungsstrichen). Der Krieg zwischen der afghanischen Regierung und ihren internationalen Verbündeten auf der einen und bewaffneten islamistischen Aufständischen auf der anderen Seite hat sich seit Ende 2014 sowohl deutlich ausgeweitet als auch intensiviert.

Kennziffern dafür sind die Zahlen für zivile Kriegsopfer, Verluste bei den bewaffneten afghanischen Regierungskräften, Binnenvertriebenen und sogenannten sicherheitsrelevanten Zwischenfälle n(Gefechte, Terrorangriffe etc) sowie die Ratio zwischen regierungs- und taleban-kontrollierten Gebieten.

Das sich die Situation ziemlich kontinuierlich verschlechtert hat, belegen die jüngsten Berichte des UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan an den Weltsicherheitsrat (Monat März 2017, Juni 2017 und September 2017). Daraus ergibt sich folgende Zusammenfassung der Sicherheitssituation für 2016 und 2017:

Die generelle Sicherheitssituation hat sich durch 2016 [also im Vergleich zum ersten Nach-ISAF-Jahr 2015] und nach 2017 hinein weiter verschlechtert (…), der Konflikt dehnte sich geografisch aus, mit zunehmenden Taleban-Aktivitäten in Nord- und Nordost-Afghanistan [März 2017] [und] blieb höchst unberechenbar [Juni 2017]. Der Konflikt hielt unvermindert im ganzen Land an [September 2017].

(Alle Afghanistan-Berichte an den UN-Sicherheitsrat hier.)

Auch die Weltbank und die afghanische Regierung sprachen in einem gemeinsamen Bericht im Februar von einem „Anstieg der Unsicherheit“. Beleg für den landesweiten Charakter des Krieges ist auch die Tatsache, dass von Januar bis Juni 2017 die Zahlen der von UNAMA registrierten zivilen Opfer in 14 Provinzen in allen sieben Großregionen des Landes zunahmen.

Wie das von der deutschen Bundesregierung um seine Lageeinschätzung ersuchte UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) im Dezember 2016 feststellte, könne es „[a]ufgrund der sich ständig ändernden Sicherheitslage“ nicht zwischen sicheren und unsicheren Regionen unterscheiden. Das gelte auch für die Feststellung sogenannter interner Schutzalternativen.

 

Einzelne Kennziffern

Sicherheitsrelevante Zwischenfälle

Die Vereinten Nationen registrierten für 2016 23.712 sogenannte sicherheitsrelevante Zwischenfälle, „ein fast 5-prozentiger Anstieg verglichen mit 2015 und die höchste Anzahl in einem Jahr, die UNAMA je verzeichnete“. Im UN-Bericht von September 2017  heißt es, dass es 2017 wieder “ein Rekordniveau an bewaffneten Zusammenstößen” gegeben hat.

Augenfällig ist auch, dass die Zahl der Terroranschläge – u.a. auf Ziele der schiitischen Minderheit (siehe z.B. hier, hier und hier) – 2017 sprunghaft anstieg. Dazu kommen organisierte Kriminalität und eine fragmentierte Sicherheitsarchitektur.

Die Kategorie „sicherheitsrelevante Zwischenfälle“ bildete unter ISAF lange das Hauptbewertungskriterium; ISAF veröffentlichte dazu regelmäßige Berichte. Dies wurde nach Ende 2014 eingestellt. Allerdings handelt es sich hier um eine nur quantitative Kennziffer, da ein schweres Gefecht genauso ins Gewicht fällt wie etwa die Aushebung eines illegalen Waffenlagers. Sie kann also nur im Zusammenhang mit anderen, etwa den u.g. Kennziffern die Situation verdeutlichen.

(Alle UNAMA-Berichte zur Lage in Afghanistan an den Sicherheitsrat finden sich hier.)

Zivile Opfer

Seit die UNO 2009 die systematische Registrierung der zivilen Konfliktopfer begann, wurden 27.481 Zivilisten im Konflikt getötet und weitere 50.726 verletzt – insgesamt wurden also seither 78.207 Zivilisten als Opfer des Afghanistan-Kriegs registriert (Zahlen inkl. der ersten neun Monate 2017).

Das Costs-of-War-Projekt der Brown-Universität in den USA schätzte in einem im August 2016 veröffentlichten Bericht allein die Zahl der zivilen Todesopfer in Afghanistan seit 2001 auf über 31.000.

Die Gesamtzahl stieg laut UN fast Jahr für Jahr an, mit Ausnahme einer leichten Verminderung von 2011 (7842) auf 2012 (7590). Zwischen 2012 und 2014 wuchs sie kräftig um ein Viertel, danach jeweils um knapp 5 Prozent pro Jahr. Für 2016 (der letzte bisher verfügbare Datensatz für eine gesamtes Jahr) lagen die Zahlen bei 11.418 Opfern, davon 3498 Tote und 7920 Verletzte.

Der jüngste Quartalsbericht der UN-Afghanistan-Mission UNAMA meldet erstmals eine leichte Verbesserung. Die Zahl habe sich in der ersten neun Monaten des laufenden Jahres 2017 gegenüber dem Vergleichszeitraum 2016 um sechs Prozent vermindert (auf 8019, d.h. 2640 Getötete und 5379 Verletzte). Aber: Dieses Absinken kommt nach einem weiteren „Rekordjahr“ und maskiert einen einprozentigen Anstieg der zivilen Todesopfer (zivile Opfer generell umfassen auch die Verwundeten). Die Zahl der zivilen Opfer liegt damit immer noch auf höchsten Niveau.

Zudem hebt die UNO in ihren Berichten hervor, dass ihre Zahlen „konservativ“ seien; die Organisation verwendet nur Fälle, die drei voneinander unabhängige Quellen bestätigen. Deshalb ist mit einer wahrscheinlich erheblichen Dunkelziffer an zivilen Kriegsopfern zu rechnen.

(Alle UNAMA-Berichte über zivile Opfer in Afghanistan finden sich hier.)

Afghanische zivile Konfliktopfer 2009-16, Quelle: UNAMA

Afghanische zivile Konfliktopfer 2001-15, teilw. Schätzung, Quelle: Brown University

Binnenvertriebene

Ein weiterer Indikator ist die Zahl der konfliktbedingt Binnenvertriebenen (IDPs), die nach UN-Angaben nach einem absoluter Rekordzuwachs 2016 (Zunahme um 660.000) im laufenden Jahr erneut kräftig um 293.889 (Stand 16.10.17) zunahm. In 30 von 34 Provinzen wurden Menschen vertrieben; alle 34 Provinzen nahmen Binnenvertriebene auf.

Zwischen 2013 und 2016 hatte sich die Zahl der IDPs verdreifacht. Zwischen 2012 and 2014 lag die jährliche Zahl unter 200.000 (2012: 102.715; 2013: 122.815; 2014: 196.154; 2015: ca. 470.000; siehe hier). Die UNO hebt hervor, dass „viele Vertriebenen-Gemeinschaften in einer zunehmend prekärer Situation“ leben, „mit keiner unmittelbaren Aussicht auf Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete“.

Auch bei den IDPs muss angemerkt werden, dass es für die Jahre von 2001 bis 2009 keine vollständigen Daten gibt (Hintergrund siehe hier).

Binnenvertriebene in Afghanistan (Stand Okt. 2017), Quelle: UNOCHA

Verluste der afghanischen Streitkräfte

2016 wurden nach afghanischen Regierungsangaben 6785 Armee- und Polizeiangehörige getötet und 11.777 weitere verwundet (Angaben für 1.1.-12.11.16; zitiert in einem SIGAR-Bericht). Der AA-Zwischenbericht gibt für 2016 4612 getötete afghanische Soldaten und 3534 getötete afghanische Polizisten (zusammen: 8146) sowie 7742 verwundete afghanische Soldaten und 6536 verwundete afghanische Polizisten (zusammen: 14.278). Dazu kamen nach letzten vorliegenden SIGAR-Angaben zwischen dem 1.1.17 und dem 8.5.17 noch einmal 2531 Tote und 4238 Verletzte.

Das ist ein von Schnitt 61 Gesamtverlusten pro Tag und liegt deutlich über der Zahl der zivilen Opfer.

Der SIGAR nannte die Verluste „schockierend hoch“, „nie dagewesen“ und „nicht nachhaltig“, weist aber auch darauf hin, dass die Zahlen „inakkurat“ (d.h. wohl untertrieben) sein könnten. Zudem hat die Afghanische Nationalarmee die Verlustraten jetzt als „geheim“ eingestuft, wie die New York Times berichtete.

(Alle SIGAR-Vierteljahresberichte finden sich hier.)

Mangels anderer Quellen findet sich bei Wikipedia eine Zusammenstellung von Verlusten der afghanischen Polizei und Armee zwischen 2002 und 2014 auf der Grundlage von Medienberichten.

Alle Verluste der internationalen und afghanischen Streitkräfte (2001-15), Quelle: Brown University

Alle Toten und Verletzten in Afghanistan 2011-16, Quelle: Brown University

Territoriale Kontrolle

Hierbei haben die Taleban die größten Fortschritte zwischen Ende 2015 und Ende 2016 erzielt. In diesem Zeitraum verlor die Regierung nach SIGAR-Angaben (aus dem Jahresbericht 2016) 11 Prozent des von ihr kontrollierten Territoriums und 3,4 Millionen Menschen an die Taleban. Diese dehnten damit ihre territoriale Kontrolle um ein Viertel aus; sie kontrollieren damit nun über 8,4 Millionen Menschen, ein Viertel der afghanischen Gesamtbevölkerung.

Im Februar 2017 kontrollierten die Aufständischen laut SIGAR demzufolge 11 von 407 Distrikten vollständig und 34 teilweise; gleichzeitig hätte auch die Regierung mehr Territorium unter Kontrolle genommen (die Zahl der sogenannten umstrittenen Distrikte – in denen beide Seiten etwa gleich stark seien – habe abgenommen). Die afghanische Regierung kontrollierte 97 Distrikte vollständig und 146 überwiegend (60%). 29 Prozent der Distrikte (119) seien “umstritten”. Diese Werte hätten sich im folgenden Quartal (bis Mai 2017) nicht geändert. (Es gibt andere Zähl- und Bewertungsweisen, etwa beim Terrorismus-Blog The Long War Journal, genauere Karte hier, oder beim Londoner Institute for the Study of War; verschiedene Karten im Vergleich finden sich bei der sehr guten, immer aktuellen Nachrichten-Zusammefassung Afghan Hindsight hier).

Auch wenn die Taleban 2017 bisher keine Provinzhauptstadt einnehmen konnten, üben sie laut UNO aber weiterhin Druck Farah (dessen Hauptstadt stand 2017 gleich dreimal vor dem Fall, siehe auch hier im Guardian), Kunduz, Lashkargah (Helmand) und Tirinkot (Uruzgan) sowie, nach offiziellen afghanischen Angaben, auf Ghazni und nach AAN-Erkenntnissen auch auf Sarepul und Maimana (Faryab) aus.

Kontrolle über Distrikte in Afghanistan (Regierung, Taleban, umkämpft; Nov. 2015-Feb 2017). Quelle: SIGAR

 

Jüngste Zunahme an Kämpfen und Anschlägen

Gleichzeitig hat aber seit Ende September 2017 die Kampftätigkeit wieder deutlich zugenommen und es kam erneut zu mehreren großen Terroranschlägen. Fast alle dieser Aktivitäten gehen auf das Konto der Taleban.

Ende September zogen die Taleban Kämpfer aus drei Provinzen zusammen, setzten sich im Tal von Fundukistan fest – einem Seitental Ghorband in der Provinz Parwan ziemlich nahe bei Kabul (das für seine archäologischen Fundstätten aus buddhistischen Periode bekannt ist) – und versuchten, auf das Distriktzentrum von Siahgerd zu marschieren. Erst Verstärkungen der Regierungskräfte konnten sie nach tagelangen Kämpfen wieder zurückdrängen. Fast gleichzeitig starteten sie einen größeren Angriff auf eine afghanische Armeebasis im Distrikt Bala Boluk in Farah.

Innerhalb von vier Tagen, zwischen dem 16 und 19 Oktober, starteten sie drei Großangriffe auf Militäreinrichtungen und -konvois der afghanischen Regierungskräfte in drei wichtigen Provinzes, Ghasni, Paktia und Kandahar.

Am 16. Oktober griffen sie das Distriktzentrum von Andar an, gleich außerhalb der Provinzhauptstadt Ghasni. Sie griffen das dortige Verwaltungszentrum sowie Polizeiposten mit Autobomben an und legten einen Belagerungsring. Ein erster Konvoi mit Verstärkungen der Regierung fuhr in einen opferreichen Hinterhalt. Erst nach drei Tagen konnten die Taleban mit Hilfe von US-Luftangriffen zurückgeworfen werden. Mindestens 28 Angehörige der Streitkräfte wurden getötet und 18 verletzt, so Provinzpolizeichef General Muhammad Zaman Khosti. Es war nicht klar, ob diese Zahken auch die sieben Polizisten des Konvois mitumfassten. Auch mindestens 5 Zivilisten wurden getötet. Khosti behauptete, 69 Taleban seien ebenfalls getötet und 17 verletzt worden.

Am gleichen Tag stürmten sie das Distriktzentrum von Schebkoh (auch als Qala-ye Kah bekannt) in Farah, wurden einen Tag später aber wieder hinausgedrängt.

Am nächsten Tag, am 17. Oktober, stürmten Taleban-Kämpfer und Selbstmordattentäter das Polizeitrainingszentrum in Gardes in der Provinz Paktia, das auch die regionalen Hauptquartiere von Polizei und Armee beherbergte. Auch hier wurden am Anfang wieder Autobomben eingesetzt, darunter von den Regierungstruppen erbaute gepanzerte Humvees aus US-Produktion. Die Einrichtung, die schon einmal Mitte Juni 2017 gestürmt worden war wurde vollständig zerstört. Die Regierungstruppen verloren über 40 Tote. Die Gesamtzahl der Toten, einschließlich Angreifer und Zivilisten, belief sich auf über 80, mit 200 Verletzten.

Ebenfalls mit zwei zu Autobomben umgebauten erbeuteten Humvees überrannten die Taleban in der Nacht vom 18. zum 19. Oktober die Militärbasis Tschaschmo, gleich außerhalb der Stadt Kandahar im Distrikt Maiwand. Zudem trugen die Angreifer Uniformen der Regierungstruppen. Sie überrannten und zerstörten auch diesen Stützpunkt vollständig. Von den 60 Mann Besatzung wurden 43 getötet, 9 verletzt; die 6 anderen wurden entweder gefangen genommen oder desertierten.

Am selben Tag und mit ähnlichen Methoden griffen Taleban das Distriktzentrum von Dschaghatu, in der Provinz Maidan-Wardak an, wurden aber nach stundenlangen Kämpfen zurückgeschlagen. Schon bis Mitte September hatten die Taleban dort schon drei aufeinander folgende Distriktpolizeichefs mit Bombenanschlägen umgebracht.

Am 20. Oktober folgte ein Anschlag auf die Imam-Saman-Moschee im überwiegend von Schiiten/Hasaras bewohnten Westkabuler Stadtteil Dascht-e Bartschi. Ein Mann stürmte die Moschee während des Freitagsgebets, schoss um sich und detonierte dann einen Sprengstoffgürtel. Insgesamt wurden 56 Menschen getötet. Für diesen Anschlag nahm der Islamische Staat/Chorassan- Provinz (ISKP) die Verantwortung. Er reihte sich in eine ganze Reihe ähnlicher Anschläge 2016/17 ein (siehe bei AAN hier und hier.)

Am gleichen Tag stürmten Bewaffnete eine sunnitische Moschee im Distrikt Dolaina in Ghor, töteten bis zu 30 Menschen und verletzten “Dutzende” (siehe auch hier). Unter den Toten befand sich der Kommandant einer regierungsfreundlichen Miliz, der wohl das eigentliche Ziel dieser Attacke gewesen. Niemand übernahem die Verantwortung für diesen Angriff, aber Ghor ist bekannt für seine verwirrende Konfliktlage mit Aufständischen und vielen Milizen, die auch untereinander zerstritten sind (dazu schon früher AAN hier).

Am 21. Oktober sprengte sich ein Selbstmordattentäter zu Fuß an einem Minibus im Nordwesten Kabuls (an der Straße nach Kargha) in die Luft, der Kadetten der Marschall-Fahim-Militärakademie vom Daud-Khan-Militärhospital an Bord hatte. 15 Kadetten wurden getötet, andere verletzt (siehe hier und hier).

 

Kein Patt

Der Begriff des Patt, auf die Situation in Afghanistan angewandt, ist schon etymologisch falsch. Im Schach bezeichnet er zwar eine Position in einer Partie, bei dem eine Seite nicht verloren, die andere nicht gewonnen hat und beide nicht mehr weiter – d.h. keinen „gültigen“ (d.h. regelkonformen) mehr Zug machen – können, was als Unentschieden gewertet wird. Nur handelt es sich dort um eine Endposition. Der Krieg in Afghanistan hingegen geht weiter, und alle Seiten haben gezeigt, dass sie sich, wenn sie es für notwendig erachten, auch nicht an die Regeln halten, also weiterhin in der Lage sind, Züge auf dem „Schachbrett“ vorzunehmen. In Afghanistan herrscht also kein militärisches Patt, höchstens eine verfahrene Situation.

Eine Endsituation, in der keine Seite mehr ziehen kann, besteht in Afghanistan nicht.

Dies jüngste Angriffswelle demonstrierte, dass die Taleban immer noch in der Lage sind, große Zahlen von Kämpfern zu mobilisieren, auch über Provinzgrenze hinweg, und simultan große Angriffe in mehreren Provinzen auszuführen. In den letzten Wochen scheint es, als ob selbst massive US- und afghanische Luftangriffe sie nicht davon abhalten können. (Nach US-Quellen war die Zahl der US-Luftangriffe im September 2017 um die Hälfte höher als im August 2017; in absoluten Zahlen war sie die höchste seit der Sclacht von Sangin in Helmand 2010; siehe hier). Der zweimalige erzwungene Führungswechsel bei den Taleban in die vergangenen 27 Monaten (durch den Tod von Mullah Omar, siehe bei AAN hier) und durch den Tod Mullah Mansurs durch einen Drohnenangriff; siehe AAN-Analyse hier) könnte zeitweilig das Niveauihrer Koordination beeinflusst haben, hat aber ihre militärischen Operationen, was ihre Zahl und die geografische Ausdehnung betrifft, nicht entscheidend beeinflusst.

Die USA haben bereits ihre Luftangriffe ausgedehnt und sind dabei, mehr eigene Truppen zu schicken, afghanische Spezialkräfte und Milizen personell auszubauen und die militärischen Aktivitäten der CIA auszudehnen, die mit den Milizen kooperiert. Auch das deutet zunächst einmal auf eine weitere Eskalation mit weiter erhöhtem Gewaltniveau hin.

Wenn auch ein Sieg einer der beteiligten Seiten nicht in Sicht ist, hat sich die Situation jedoch seit Ende der ISAF-Mission 2014 zugunsten der Taleban verändert. Wenn die oben zusammengetragenen Kennziffern ein „Patt“ repräsentieren, dann ein höchst dynamisches, wenn man Afghanistan als ganzes und statistische Einheit betrachtet, aber ein sehr explosives, wenn man die der Situation innewohnende Dynamik betrachtet, mit einer steigenden Zahl an Gefechten und einer gestiegenen, wenn jetzt auch (seit einigen Monaten) stagnierenden Zahl an Kriegsopfern und territorialem Vormarsch der Taleban.

Die gegenwärtige, von manchen Beobachtern als „Patt“ bezeichnete Sicherheitssituation sowie die erklärte Absicht aller Seiten, einen militärischen Sieg anzustreben, lässt Kämpfe auf ähnlichem Niveau für mindestens das, wenn nicht mehrere folgende Jahre erwarten. Es ist nicht zu erwarten, dass die Taleban und der neue, örtliche Ableger des Islamischen Staates kampflos beigeben – zumal, wie der UN-Sondergesandte im März feststellte, es „keine erkennbaren Fortschritte bei Friedensgesprächen zwischen der Regierung und den Taleban“ gibt.

Im übrigen fügt auch Cordesman vom CSIS seiner „Patt“-Einschätzung hinzu, dass dies ein Patt ist, “das die Aufständischen begünstigt” – die ja auch laut AA-Einschätzung die Initiative haben.