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Mein Gastbeitrag für die Zeit online (hier zur Originalseite):

 

Afghanistan: Was nach dem Krieg kommt

Die USA verhandeln über ihren Abzug aus Afghanistan. Was würde eine Rückkehr der Taliban an die Macht für die Menschen im Land bedeuten?

Von Thomas Ruttig

  1. März 2019

Im Golfemirat Katar treten die Gespräche auf der Stelle: Es geht darum, den fast 18 Jahre andauernden und sich dabei weiter verschärfenden Krieg zwischen den USA und den afghanischen Taliban zu beenden. Doch der Teufel liegt im Detail, und in der Reihenfolge dessen, was eigentlich gemeinsames Hauptziel beider Seiten ist: ein Abzug der ausländischen Truppen. Abzug zuerst, Einbeziehung der bisher ausgeschlossenen Kabuler Regierung und Garantie von Verfassungsrechten später? Oder alles im Paket?

US-Präsident Donald Trump jedenfalls will den Einsatz für in seinen Augen undankbare Leute so bald wie möglich beenden. Schon im Wahlkampf twitterte er: „Wir vergeuden dort Milliarden. Wir bauen Straßen und Schulen für Leute, die uns hassen.“ Die Taliban wollen den Abzug, um ohne internationale Aufmerksamkeit – die mit einem Truppenabzug weiter sinken würde – ihre immer noch rückwärtsgewandten Gesellschaftsvorstellungen umsetzen zu können.

Was das genau für Afghaninnen und Afghanen bedeuten würde, ist eine unter Beobachtern derzeit heftig diskutierte Frage. In der Tat haben die Taliban, seit sie 2001 von der Macht vertrieben wurden, ihre Positionen gemäßigt, von der Mädchenbildung bis zur Zulassung ausländischer Hilfsorganisationen. Nach Gesprächen mit Vertretern afghanischer Fraktionen (aber nicht der afghanischen Regierung) in Moskau im Februar stimmten sie einer gemeinsamen Erklärung zu, dass sie in einem künftigen Afghanistan explizit auch die „sozialen, ökonomischen, politischen und Bildungsrechte der afghanischen Frauen“ schützen wollten. Sie erklärten, Frauen dürften ihre Ehepartner selbst bestimmen und auch hohe politische Ämter bekleiden, außer die des Präsidenten und des Obersten Richters. Immer aber setzen sie hinzu, dies müsse „in Übereinstimmung mit islamischen Prinzipien“ geschehen.

Untersuchungen meiner und anderer Organisationen ergaben, dass die Taliban in vielen Bereichen über kohärente Politikrichtlinien verfügen und diese auch umsetzen können. Als sie über islamische Feiertage im vorigen Juni eine dreitägige Waffenruhe einhielten, ohne dass sie einmal verletzt wurde, wunderten sich viele. Sie hatten vorher nicht glauben wollen, dass die Taliban so diszipliniert seien können.

Verbrüderung zwischen Taleban und Polizisten in Zabul während des Id-Waffenstillstands im Juni 2018. Foto: Tolo

Es geht weniger um Theologie als um Macht

Die Betonung liegt auf „können“. Während die Taliban etwa in einem von ihnen eroberten Distrikt in der Nordostprovinz Kundus gestatten, dass die Schülerinnen in Ruhe ihre Abschlussprüfungen nach Klasse zwölf beenden, ist landesweit Mädchenbildung nur bis Klasse sechs Taliban-Standard. In einem von Taliban beherrschten Distrikt der Provinz Wardak sind Mädchenschulen sogar ganz geschlossen.

Auch die anderen Teilnehmer der Moskau-Gespräche, darunter Ex-Präsident Hamid Karsai, unterschrieben den Islam-Vorbehalt für die Freiheitsrechte der Afghanen. Dieser Vorbehalt steht sowieso bereits in der gegenwärtigen Verfassung, die von den Taliban aber abgelehnt wird. Es geht hier also weniger um Theologie, sondern darum, wie die Macht in einem Postabzugsafghanistan verteilt sein wird und was andere politische Kräfte in einer Koalitionsregierung mit den Taliban zulassen werden.

Hier liegt ein anderes Problem: Viele der potenziellen Bündnispartner sind zwar Teil des gegenwärtigen Systems, aber größtenteils ebenfalls religiöse Konservative oder Islamisten. Als einige von ihnen in den Neunzigerjahren an der Macht waren, schränkten sie – Jahre vor den Taliban – die Freiheiten nicht nur von Frauen ein. Ihre gegenwärtige Parlamentsmehrheit verhinderte zahlreiche Gesetze zum Schutz der Medien oder von Frauen vor Gewalt. Im Moment sorgt internationale Präsenz, auch von Truppen, dafür, dass Schlimmeres verhindert wird. Aber afghanische Freiheitsrechte stehen nicht sehr weit oben auf der US-Agenda für die Taliban-Gespräche; dieses Thema sei, so hieß es wiederholt, eine „innerafghanische Angelegenheit“.

Die Ausgangsfrage hat zudem eine weit weniger diskutierte Kehrseite, die der weitgehenden Behandlung der Afghanistan-Frage in einem Gut/Böse-Schema – Taliban böse, Regierung gut – geschuldet ist: Was bedeutet es für die Menschen Afghanistans, wenn die derzeitige Regierung so weiter macht wie bisher? In anderen Worten: Wie weit ist sie wirklich eine Alternative zu den Taliban?

Kinderarbeit ist weiter weit verbreitet. Foto: Thomas Ruttig

Die soziale Bilanz ist katastrophal

Präsident Aschraf Ghani, der sich selbst als Reformer präsentiert, hat seit 2014 höchstens an einigen Stellen an der Oberfläche gekratzt. Die systemische Korruption in Regierung und Verwaltung hat er nicht durchbrechen können. Überzentralisierung und Intransparenz haben seinen Präsidialapparat zu einer Blackbox gemacht, paschtunisch-ethnozentristische Tendenzen haben viele, die ihn 2014 wählten, vergrault.

Die soziale Bilanz seit dem Sturz der Taliban ist katastrophal. Über die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt wieder unter der Armutsgrenze. Das ist derselbe Stand wie 2003, kurz nach Ende der Taliban-Herrschaft, bevor Geldtransfers und die von den ausländischen Truppen verursachte Blase im Bau- und Sicherheitsgeschäft die makroökonomischen Daten nach oben trieben. Nun sind viele derjenigen, die seit damals über die Armutsgrenze kletterten, wieder unter sie zurückgefallen. Diese Frage hat zudem eine Gender-Dimension: Frauen sind aufgrund der verschlechterten Sicherheit bereits wieder stärker benachteiligt als Männer, was Zugang zu Bildung und ärztlicher Betreuung betrifft. Sie werden besonders zu leiden haben, wenn eine Machtteilung mit den Taliban zu weiteren Rückschlägen führt.

Gleichzeitig beobachten die Afghanen, wie sich große Teile ihrer Eliten schamlos am Krieg bereichern. In ihren abgeschotteten Wohn- und Amtssitzen können oder wollen diese die Armut der Mehrheit nicht mehr wahrnehmen und monopolisieren gleichzeitig mit überdimensionierten Stäben von Leibwachen und ganzen abgesperrten Straßenzügen Sicherheit für sich. Wie aus unveröffentlichten Zahlen der Regierung hervorgeht, flossen seit 2001 bisher 80 Milliarden US-Dollar durch Korruption ab.

Besonders leiden die Menschen in den umkämpften ländlichen Gebieten. Dort ist es zu gefährlich für kontinuierliche humanitäre Hilfe und breitere Entwicklungsprogramme. Das wird der Regierung negativ angerechnet. Denn während sie sich dort, wo sie noch vertreten ist, oft korrupt und unfähig zeigt, sammeln die Taliban in den von ihnen stabil beherrschten Gebieten Pluspunkte. Dort sind sie es, die die Aktivitäten von Hilfswerken und sogar das staatlichen Bildungs- und Gesundheitswesen regulieren. Kabul zahlt zwar die Gehälter, aber die Taliban sorgen dafür, dass Lehrer und Ärzte tatsächlich ihren Dienst versehen. Auch ihre Gerichte gelten als verlässlicher – nicht weil sie mit brutalen Körperstrafen agieren (was auch vorkommt), sondern weil sie effizient in Land- und anderen Streitigkeiten vermitteln.

Hätten sie eine freie Wahl, würden die meisten Afghaninnen und Afghanen wohl trotzdem nicht die Taliban wählen. Sie hängen an den Freiheiten, die sie seit 2001 genießen, auch wenn sie oft nur auf dem Papier stehen. Einer Verfassungsänderung, wie sie die Taliban anstreben, könnten auch diese Rechte zum Opfer fallen.

Eine eindeutige Antwort darauf, wie von den Taliban beeinflusste afghanische Politik nach einem Truppenabzug und einer Machtteilung aussehen würde, gibt es noch nicht. Ihre Mäßigung in vielen Fragen könnte taktisch darauf gemünzt sein, einen Abzug zu ermöglichen. Danach könnten rigidere Vorstellungen wieder die Hegemonie gewinnen. Andererseits haben die Taliban gelernt, dass sie nicht gegen die Bevölkerung regieren können, und sie erweisen sich als beeinflussbar.

Das große Dilemma: Ohne eine Machtbeteiligung der Taliban gibt es kein Ende des Krieges.

Junge Frauen tragen als öffentlichen Protest den Sarg eines der Opfer des Anschlags auf ein Bildungszentrum in Kabul Mitte August 2018 durch die Straßen. Foto: Khalil Noori auf Twitter.