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In Afghanistan ist die Zahl der gemeldeten positiven Covid19-Fälle am 21. April auf über 1000 gestiegen. Heute lag sie der Regierung zufolge bei 1143 (UN: 1111), die Zahl der gemeldeten Todesopfer bei 41. Bisher melden 31 der 34 Provinzen Erkrankungsfälle.

Karte: Ettilaat-e Rus (Kabul)

 

Die UNO schrieb jetzt: „Es wird erwartet, dass die Zahl der Fälle in den nächsten Wochen rapide zunehmen wird, da die Ansteckung in den Gemeinschaften (community transmission) eskaliert, was schwere Folgen für Afghanistans Wirtschaft und Volkswohl erzeugen wird.“

Ein afghanischer Analyst schrieb:

Eine humanitäre Katastrophe wird sich in Afghanistan entwickeln, wenn nicht sofort angemessene Maßnahmen ergriffen werden. … Inadäquate Infrastruktur, ineffektive Koordination und Kommunikation [sowie] der vollumfängliche Krieg mit den Taleban ohne wirkliche Friedensaussichten und die anhaltende politische Sackgasseal in Kabul [der Machtkampf Ghani-Abdullah] … machen es für Kabul noch schwerer zu reagieren. …

Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass Afghanistans Institutionen immer noch abhängig von [ausländischer] Hilfe und logistisch zu schwach sind, um große Hilfslieferungen zu handhaben, in normalen und Ausnahmesituationen. … Eine landesweite Hilfsoperation, um COVID-19 zu begegnen, braucht breitere Koordinations- und Umsetzungsmechanismen, die jenseits der Fähigkeiten der Regierung liegen. 

 

Fälle, Maßnahmen, Dunkelziffer…

Nach UN-Angaben waren mit 68% die meisten der Todesopfer Männer in der Altersgruppe von 40-69 Jahren; 35 von 41 Todesopfern hatten Vorerkrankungen (v.a. Diabetes und Herz-Kreislauf).

Inzwischen hat bei den Fallzahlen Kabul mit 413 die Provinz Herat (337) überholt. Herat war durch viele Rückkehrer aus dem Nachbarland Iran, das frühzeitig stark von der Erkrankung betroffen war, zu einem ersten Ansteckungszentrum geworden. Deshalb liegt die dünnbesiedelte Provinz Nimrus (auch mit einem offiziellen Grenzübergang mir Iran; siehe Karte) mit 35 Fällen auch vergleichsweise hoch.

Auch im Kabuler Präsidentenpalast seien 40 Mitarbeiter:innen positiv getestet worden; Präsident Aschraf Ghani und seine Frau seien nicht darunter.

Andererseits seien landesweit 166 Menschen als geheilt entlassen worden.

Nach UN-Angaben gibt es acht Testlabore im Land, von dem jedes 100-150 Tests pro Tag durchführen können. Zusätzliche Labore würden in Bamian und Badachschan eingerichtet. Testmaterialien seien insgesamt knapp, WHO bemühe sich um Hilfe, werde aber durch die weltweite Knappheit.

Die Fall- und Todeszahlen sind im internationalen Vergleich immer noch niedrig. Vielerseits wird vermutet, dass es hohe Dunkelziffern gebe.

Aus dem Distrikt Sarobi, in der Provinz Kabul östlich der Hauptstadt gelegen, berlchtete diese Woche ein früherer Parlamentsabgeordneter, dass dort 40 Menschen an Covid19 gestorben seien. Die Regierung schickte eine Kommission, sagte hinterher, man könne die hohe Zahl nicht bestätigen. Gleichzeitig hieß es aber, es seien Proben von Verwandten von Toten genommen worden, was auf eine Anzahl von Corona-Opfern hindeuten könnte. Zudem wurde dort eine 20-Betten-Gesundheitsstation neu eingerichtet.

Mitarbeiter in Kabul berichten von einigen Todesfällen in ihrer Nachbarschaft, die von den Behörden ignoriert oder möglicherweise vertuscht würden. In einem Fall sei nach einem verdächtigen Todesfall ein Apartment versiegelt worden und die betroffene Familie „verschwunden“.

20 Provinzen haben laut UNO teilweise Ausgangssperren (lockdown) verhängt.

Corona-bedingte Sperre einer Straße in der Provinz Kunar. Foto: Reporterly

Kandahar unter Corona-Lockdown.

Inzwischen wurde die Schließung aller Universitäten bis zum 9. Mai verlängert. Bis zum gleichen Zeitpunkt sind auch die Regierungsangestellten weiter im Zwangsurlaub oder auf Heimarbeit und gelten die Ausgangsbeschränkungen in Kabul, von Notbesatzungen abgesehen. Am 10. April wurde die Straße zwischen Kabul und Dschalalabad für den Verkehr gesperrt, eine der Hauptverkehrsverbindungen des Landes.

Aus Herat wurde am 19.4. gemeldet, dass es dort an Corona-Testmaterialien mangelt. In Kabul soll in einem der für die Bekämpfung der Erkrankung vorgesehenen Krankenhaus nur einer von 10 Beatmungsgeräten funktionieren. Das Gesundheitsministerium gab am selben Tag bekannt, dass mächtige Politiker in mehreren Provinzen ihr Personal gezwungen hätten, deren Angehörige bevorzugt zu testen. Dabei wurde der Name des Senatspräsidenten Fasel Hadi Muslimjar genannt.

Am 15. April feuerte Präsident Ghani alle drei Vize-Gesundheitsminister.

Die Taleban wiesen inzwischen darauf hin, dass auch gläubige Moslems vom Virus angesteckt werden könnten. (In der Region kursieren Gerüchte, der Virus würd nur „Ungläubige“ betreffen.)

 

Soziale Effekte

Medien verweisen auf mehrere besorgniserregende soziale Nebeneffekte.

Laut Arbeitsministerium hätten zwei Millionen Menschen aufgrund der Coronakrise ihre Arbeit verloren.

Der Guardian berichtete aus Herat, dass dort aufgrund der Coronavirus-Krise Hilfsangebote für Frauen, die unter häuslicher Gewalt leiden, dicht machen mussten. Internationale Organisationen wiesen daraufhin, dass solche Fälle unter Bedingungen der Isolation weltweit ansteigen.

AFP berichtete aus Kabul über eine afghanische Unternehmerin, die begonnen hatte, Toilettenpapier(!) auch für den internationalen Markt zu produzieren, nun wegen Mangels an Rohstoffen (Altpapier) vor dem Aus steht. Sie berichtete, dass Krankenhäuser selbst Tauschangebote von Gesichtsmasken abgelehnt hätten.

Die afghanische Nachrichtenagentur Wadsam berichtete, dass 83% von 110 interviewten afghanischen Unternehmerinnen sagen, ihre Investitionsprojekte  seien durch die Coronakrise gestoppt worden.

RFE/RL berichtete aus Chost und Paktika, dass die Lage tausender lebender Flüchtlinge aus Pakistan besonders schwierig sei, da durch die Coronakrise die Hilfslieferungen an sie zurück gegangen seien.

 

Corona stoppt den Krieg nicht

Gleichzeitig wird landesweit weiter gekämpft. Die Regierung beschuldigte die Taleban am 19.4., in der Woche bis dahin landesweit 24 Zivilisten getötet zu haben. Diese wiesen einige Anschuldigungen zurück und erklärten, die zivilen Opfer seien von Regierungstruppen verursacht worden. Zudem erlitten beide Seiten schwere Verluste bei zahlreichen Gefechten (einzelne Vorfälle hier).

Die afghanische Menschenrechtskommission (AIHRC) sprach am 15.4. von 83 getöteten und 119 verletzten Zivilisten seit dem US-Taleban-Abkommen vom 29.2.2020.Die Hälfte wird den Taleban, der Rest dem IS und „nicht identifizierten Gruppen“ angelastet. (Allerdings hatte die Kommission seither auch Fälle von den Regierungs- und US-Truppen verursachter Zivilopfer berichtet. Es ist nicht klar, warum sie in dieser Statistik nicht auftauchen.) In der Woche von 12.-18.4. seien laut AIHRC 17 Zivilisten getötet und acht weitere verletzt worden.