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Insgesamt bewegen sich Krieg und Gewalt in Afghanistan auf unverändert hohem Niveau. Das Institute for Economics & Peace (IEP) in Sydney ordnet Afghanistan in seinem vor wenigen Tagen erschienenen Global Peace Index 2020 (s.S. 9) im zweiten Jahr in Folge als weltweit als „am wenigstens friedliches Land“ ein, also noch schlechter als Syrien. Seit 2014 erhöhten sich demzufolge sogar „Umfang und Intensität des Krieges“. Weltweit kommen in Afghanistan die meisten Menschen in einem Krieg um. Zudem habe es auch die drittgrößten ökonomischen Verluste in Folge des Krieges erlitten, nämlich im Wert von 51 Prozent seines Bruttoinlandprodukts (BIP, 2019). Beziffert wird der Verlust mit 56,5 Mrd US-Dollar. Mit 10,4 Prozent des BIP lag Afghanistan dem IEP zufolge hinter Nordkorea, Libyen und Syrien weltweit an vierter Stelle.

Die Gasse hinter dem Kausar-e Danesch-Zentrum in Kabul vor dem Anschlag (oben) und einige der Opfer des Anschlags. Quelle: afghanische Online-Medien.

Wieder Terror in Kabul

Der erneute Selbstmordangriff auf ein Bildungszentrum in Kabul am Samstagnachmittag hat ein weiteres Mal gezeigt, dass der Krieg in Afghanistan trotz Friedensgesprächen zwischen Regierung und Taleban in Katars Hauptstadt Doha nicht abflaut. Nach letzten vorliegenden Berichten wurden 31 Menschen getötet und 73 verletzt, als ein Mann in einer Gasse am Zentrum Kausar-e Danesch („Wissensquelle“) im Westkabuler Stadtteil Dascht-e Bartschi seinen Sprengstoffgürtel zündete (hier ein Video des Moments, von einer Überwachungskamera aufgezeichnet). Der Attentäter traf vor allem Studierende auf dem Weg zum Zentrum, die sich in dem Zentrum auf ihr Uni-Prüfungen vorbereiten. Nach afghanischen Medienberichten hatte er den Eingang des Zentrums nicht gefunden (siehe auch bei der ARD-Tagesschau). Im Inneren der Einrichtung sollen sich zum Zeitpunkt der Explosion bis zu 1000 Menschen befunden haben.

In Dascht-e Bartschi im Südwesten Kabuls leben vor allem von Angehörige der schiitischen Minderheit der Hasara. Im August 2018 hatte ein Selbstmordattentäter im selben Stadtteil 48 Menschen in einer ähnlichen Einrichtung umgebracht. Mitte Mai töteten als Polizisten verkleidete Angreifer dort in einem Mutter-und-Kind-Hospital Gebärende, Säuglinge und Krankenhauspersonal. Für die Überfälle auf die Bildungszentren übernahm der afghanische Ableger des Islamischen Staates (IS) die Verantwortung. Der Angriff auf das Krankenhaus war hingegen offenbar so übel, dass keine Gruppe sich dazu bekennen wollte. Aber auch dieser Anschlag entsprach dem anti-schiitischen Vorgehensmuster des IS. 

Der Anschlag am Samstag würde darauf hindeuten, dass der IS nach heftigen Verlusten in seinen ostafghanischen Hochburgen Ende 2019 (AAN-Hintergrund hier) und Anfang 2020 seine Fähigkeit zu blutigen Terroranschlägen in den Städten bewahrt hat.

Im Gegensatz dazu distanzierten sich die Taleban von allen drei Anschlägen, denn sie umwerben nach Rekrutierungserfolgen bei anderen ethnischen Minderheiten wie Usbeken, Tadschiken und der sunnitischen Minderheit unter den Hasaras derzeit auch die schiitischen Hasaras (ein Fallbeispiel bei AAN hier). Trotzdem glauben viele Afghan:innen, dass die Taleban hinter diesen Anschlägen stecken. Sie stehen deshalb den Gesprächen in Doha skeptisch bis strikt ablehnend gegenüber. Auch Vizepräsident Sarwar Danesch, selbst Hasara, machte die Taleban für die derzeitige Terrorwelle verantwortlich.

Während ein IS-Angriff eher eine Ausnahme darstellt (UNAMA stellte für das erste Halbjahr 2020 einen Rückgang der vom IS verursachten zivilen Opfer um ein Drittel fest, siehe hier), haben die Taleban seit dem Doha-Abkommen landesweit den militärischen Druck auf die Regierung hochgehalten, ohne auf spektakuläre Geländegewinne zu drängen. Das widerspricht nicht dem Buchstaben des Abkommens, denn darin verpflichten sie sich lediglich, nicht die US- und verbündeten westlichen Truppen – also auch die Bundeswehr, die immer noch etwa 1200 Soldat:innen in Afghanistan stationiert hat, die meisten in Kabul und etwa 140 in Kundus – sowie Provinzzentren oder die Hauptstadt Kabul anzugreifen. Angriffe auf die afghanischen Regierungskräfte hielten sie sich hingegen offen. Die US-Unterhändler hatten dem sehr zum Missfallen Kabuls zugestimmt, einzig auf ihren Abzug aus Afghanistan bedacht – ein Wahlversprechen Trumps von 2016 (hier der Text des Abkommens).

Taleban intensivieren kleinere Operationen

Hingegen fuhren die Taleban eine ganze Reihe kleinteiligerer Operationen hoch. Landesweit eroberten und zerstören sie systematisch Kontrollpunkte der Polizei und regierungsfreundlicher Milizen sowie Armeebasen und übernehmen die Kontrolle über Verbindungsstraßen dazwischen. Dabei setzen sie regelmäßig von den Regierungstruppen erbeutete Fahrzeuge ein, die sie in rollende Bomben verwandeln. Damit bauen sie Druck und Angriffspositionen für den Fall eines Scheiterns der Doha-Gespräche auf.

In der Provinz Wardak, gleich südlich von Kabul, kann das afghanische Militär die Sprengfallen der Taleban nicht mehr systematisch räumen. Oberst Hamidullah Kohdamani, Kommandeur der Armee-Brigade, die in Wardak für den 95 Kilometer langen Streckenabschnitte der Straße Kabul-Kandahar zuständig ist, sagte AAN, dass sie dort täglich fünf bis zehn solcher Bomben entschärft hätten. Einer seiner Untergebenen fügt hinterher hinzu, dass das inzwischen die Ausnahme sei, denn „oft werden wir dabei angegriffen“. Das beeinträchtige die Moral der Regierungskräfte. „Wir wissen, dass wenn wir eine Mine finden, sie in der folgenden Nacht eine andere dort verlegen werden.“ Inzwischen wurde berichtet, dass afghanische Soldaten in der dritten und vierten Oktober-Woche mehrere Kontrollposten entlang dieser Strecke geräumt hätten, weil sie keinen Nachschub mehr bekommen hätten. (Einen Bericht, welchen Widrigkeiten sich afghanische LKW-Fahrer auf dieser Strecke gegenübersehen, hier bei ToloNews.)

Provinz Kabul als neuer Taleban-Angriffsschwerpunkt

Die Taleban haben zunehmend auch die Hauptstadt Kabul sowie die zur gleichnamigen Provinz gehörenden 14 ländlichen Distrikte in deren Umfeld im Blick. In den südöstlichen Distrikten Chak-e Dschabbar, Musahi und vor allem Sarobi – an der Straße Kabul-Daschlalabad – sowie in Paghman im Westen sind sie bereits seit längerem präsent. Im Juli berichteten afghanische Journalisten von „wochenlangen Kämpfen“ in Sarobi und Chak-e Dschabbar. In Sarobi feuern Taleban immer wieder auf Konvois auf dieser Straße; der letzte Fall wurde am 26.10. gemeldet.

Diese Distrikte werden v.a. von Paschtunen bewohnt. Doch auch im gemischten oder sogar tadschikisch-dominierten Norden, in der Schimali-Ebene und in Kohdaman (den Distrikten an der Ostabdachung des Paghman-Gebirges) haben seit der zweiten Hälfte vorigen Jahres Nadelstich-Operationen sichtbar zugenommen. 

Vor allem aus dem Distrikt Qarabagh im Kohdaman wurden kleinere Angriffe und sogar vorübergehende Taleban-Kontrollposten gemeldet. Im August scheiterte dort ein Attentat auf den Distriktgouverneur. Ähnlich ging es Ende Juni dem Polizeichef von Nuristan bei der Durchfahrt durch Sarobi. Im Juli wurde dort bei einem Überfall auf seinen Konvoi der Vizepolizeichef der Nachbarprovinz Kapisa getötet. Aus auch Guldara – ebenfalls im Kohdaman – wurden kleinere Gefechte gemeldet.

Anfang Oktober überfielen im Nachbardistrikt Kalakan vier Bewaffnete eine Hochzeitsfeier, zwangen die Feiernden nach „Taleban-Tradition“, die Musik einzustellen und zerbrachen die Instrumente der Musiker. Der örtliche Gouverneur behauptete hinterher kontrafaktisch, in seinem Distrikt hätten die Aufständischen „keine aktive Präsenz“.

In diesen Gebieten bilden alte tadschikisch-paschtunische Feindschaften (also zwischen Anhängern der ehemaligen Nordallianz und der Taleban) sowie die Durchdringung durch mafiöse Banden, die mit örtlichen Nordallianz-Politikern verbunden sind und alte Rechnungen offen haben, das Substrat für Konflikte und das Wiedereindringen der Taleban. Auch scheint es, dass einige dieser kriminellen Netzwerke trotz ihrer politischen Vergangenheit als harte Taleban-Gegner inzwischen zeitweiliger Kooperation nicht abgeneigt sind (siehe auch dieser Bericht der New York Times). (Es gibt dort z.B. das sogenannte „nördliche Entführernetzwerk“, das Entführte auch schon an die Taleban verkauft hat.)

Ein neuer Schwerpinkt hat sich im paschtunisch-tadschikisch gemischten Distrikt Schakardara im Kohdaman herausgebildet. Dort ist die Familie des 2004 in Pakistan ermordeten Taleban-Kommandanten Anwar Dangar aktiv, eines Naser-Paschtunen. Er gehörte ursprünglich zur Dschamiat-e Islami, schloss sich nach 1996  aber den Taleban an. Seither gibt es eine Rivalität mit dem örtlichen (tadschikischen) Dschamiat-Kommandaten Amanullag Gusar. Seit 2018/19 soll Dangars Bruder Gul Dschan aus seinem Exil in Pakistan wieder in Schakardara aufgetaucht sein. In den vergangenen Monaten gab es in Schakardara mehrere kleinere bewaffnete Zwischenfälle, aber es ist nicht klar, ob der Dangar-Bruder darin verwickelt ist oder Taleban aus Paghman oder Wardak infiltiert sind. Mitte Oktober tauchten dort in Moscheen Flugblätter der „Taleban-Sicherheitskommission für Kohdaman“ auf, dass Angehörige der Regierungstruppen entweder ihre Jobs oder ihre Dörfer verlassen sollten, sonst würden sie getötet. Das gleiche gelte für Richter und Staatsanwälte. Den Ältesten sei es nicht mehr erlaubt, ohne Taleban-Zustimmung in andere Distrikte zu reisen. Der Bevölkerung wurde es untersagt, sich in Begleitung von Regierungsangestellten zu zeigen oder gemeinsam mit ihnen zu reisen. Zudem dürften die Einwohner ihre Häuser nach zehn Uhr nachts nicht mehr verlassen. Die Bewohner nehmen diese Drohungen ernst.

Eines der beiden Taleban-Flugblätter aus Schakardara. Quelle: AAN.

Die Taleban stoßen auch zunehmend in die Stadt Kabul selbst vor und intensivierten wie in anderen Großstädten ihre gezielten Mordanschläge auf Regierungsbeamte, Soldaten und Polizisten. In Kabul verwenden sie dabei vor allem Haftminen, die an Privat- oder Dienstfahrzeuge geklebt werden und oft auch Mitfahrer oder Passanten treffen. Fast täglich werden solche Vorfälle bekannt. Die letzten derartigen Fälle ereigneten sich Montag und Dienstag früh im Südwesten bzw. im Norden der Stadt (ein kurzes Video vom letztgenannten Vorfall hier). Drei Zivilisten in einem Fahrzeug des Handelsministeriums wurden dabei verletzt. Auch Pistolen mit Schalldämpfern kommen zum Einsatz. Ende August zählte die New York Times landesweit 17 solcher Vorfälle in einer Woche. Die afghanische Unabhängige Menschenrechtskommission registrierte für das erste Halbjahr 2020 landesweit 533 zivile Tote und 422 Verletzte von Mordanschlägen. Der neue UNAMA-Bericht für Januar-September 2020 verzeichnet 527 Tote und 621 Verletzte, fast eine Verdopplung gegenüber dem Vergleichszeitraum 2019.

Auch wenn sich die Taleban bei weitem nicht zu allen diesen Vorfällen bekennen und einige davon sicherlich Ausdruck anderer, örtlicher Konflikte sind, steht außer Frage, dass die Taleban hinter der Mehrzahl davon stecken. Sicherheitspersonal außer Dienst gelten als Zivilisten und Angriffe auf sie als Kriegsverbrechen.

Am 25. September errichteten Taleban-Kämpfer in einer spektakulären Aktion zum ersten Mal einen Kontrollpunkt innerhalb Kabuls. In Kala-je Haidar Chan am südwestlichen Stadtrand hielten sie Autofahrer an, fragten nach deren Fahrtroute und ihrer Meinung über die Taleban und stellten das Video davon ins Netz (siehe hier und hier). Zwar dauerte der Vorfall nur 15 Minuten, sorgte aber für Aufregung in der Stadtbevölkerung. Anfang Oktober verteilten sie in mehreren Stadtvierteln Flugblätter an Passanten, in denen sie anboten, „wie in anderen Gebieten unter unserer Kontrolle“ die überbordende Kriminalität zu bekämpfen, da die Regierung dazu „offensichtlich nicht in der Lage“ sei. In der Tat hatte eine weitere Zunahme von Gewaltverbrechen zu Protesten in der Bevölkerung und scharfer Kritik an der Regierung geführt.

Auch wenn bereits Ende August nach einem Taleban-Raketenangriff auf Kabul am Unabhängigkeitstag, der eine Rede von Präsident Aschraf Ghani unterbracht, der Polizeichef gefeuert wurde, reagierte die Regierung erst jetzt wirklich. Innenminister Massud Andarabi erteilte der Polizei Schießbefehl gegen bewaffnete Kriminelle, natürlich „im Rahmen des Gesetzes.“ Es kam zu ein paar spektakulären Razzien. Eine Woche später übernahm der Erste Vizepräsident und frühere Geheimdienstchef Amrullah Saleh „für einige Wochen“ die Verantwortung für die Sicherheit Kabuls und kündigte drastische Maßnahmen zur Bekämpfung von „Kriminalität und Terrorismus“ an. Dabei ging es auch gleich gegen Bettler und unlizensierte Verkaufsstände vor, die die Gehwege blockierten. Saleh ließ in der Stadt zudem Steckbriefe gesuchter Krimineller aufhängen.

Eskalation in den Provinzen

Gleichzeitig eskalierte seit September in mehreren Provinzen die Lage. Am 18. Oktober zündeten die Taleban eine Autobombe nahe dem Polizeihauptquartier in der westafghanischen Provinz Ghor. Dabei wurden 16 Menschen getötet und 150 verletzt, die meisten Zivilist:innen. Darunter waren 18 von 22 einer Klasse behinderter Kinder, die in einem nahegelegenen Gebäude saßen. Dem waren Angriffe in den Distrikten Schahrak und Daulatjar und ein zurückgeschlagener Angriff auf das Distriktzentrum von Saghar. Mitte August nahmen die Taleban den Hauptort des im Oktober 2019 neu geschaffenen Distrikt Murghab ein.

Bereits im August hatten die Taleban auch in der Provinzhauptstadt Farah eine Autobombe gezündet und dabei vier Menschen getötet. Auch dort unternahmen sie Vorstöße in die Vorstädte der Provinzhauptstadt. Im September wurde auch in den Vororten des ehemaligen Bundeswehrstandortes Kundus gekämpft. In beiden Fällen konnten die Taleban nur durch US-Luftschläge gestoppt werden, was darauf hindeutet, dass die Lage kritisch war. In der Provinz Kundus hatten die Taleban schon im August im Distrikt Imam Saheb eine Armeebasis zerstört; Mitte Oktober ging im Geheimdienst-Hauptquartier in der Provinzhauptstadt eine Bombe hoch. Mitte September kamen im Distrikt Chanabad bei Luftschlägen der Regierungstruppen über zehn Zivilisten ums Leben.

Ein solcher Vorfall wiederholte sich am 22. Oktober im Distrikt Baharak in der Nordostprovinz Tachar. Die Regierung sprach von einem Schlag gegen angreifende Taleban, getroffen wurde aber eine Koranschule, ein Dutzend Kinder wurden getötet, ähnlich wie bereits 2018 in Kundus. Die Regierung bestritt das, obwohl selbst afghanische Medien Bilder gesendet hatten, die diese Tatsache belegten, und auch die afghanische Unabhängige Menschenrechtskommission dies bestätigte. Vizepräsident Saleh sprach trotzdem von „fake news“ und ordnete die Verhaftung derjenigen an, die über die zivilen Opfer berichtet hatten.

Am 19. Oktober rückten die Taleban nach heftigen Kämpfen einen Vorort von Faisabad ein, Hauptstadt der Nordostprovinz Badachschan, siehe auch hier). Die Stadt war bis 2012 ein Bundeswehr-Standort.

Weitere Autobomben gingen vor den Polizeihauptquartieren der Hasara-dominierten Distrikten Dschalres (Maidan-Wardak) und Kedschran (Daikundi) hoch; töteten jeweils über ein Dutzend Menschen. Etwas geringer war die Opferzahl einer Autobombe im Distrikt Ghanichel (Provinz Nangrahar) am 5. Oktober. In Dschalres hatten die Taleban Ende August mehrere Polizeiposten nahe dem Distriktzentrum eingenommen und dieses damit eingekesselt.

In Spiegelung ihrer Kabuler Terror-Kampagne erschießen die Taleban in der südlichen Metropole Kandahar mit Vorliebe Polizisten und Militärs von vorbeifahrenden Motorrädern aus. Auch solche Vorfälle ereignen sich beinahe täglich. In den Straßen der dritten Großstadt Herat nimmt die Zahl improvisierter Sprengsätze zu. In Herat sprengten sie Mitte voriger Woche einen Strommast und legten die Elektrizitätsversorgung für die halbe Stadt lahm. Auch nahe dieser Stadt nehmen in mehreren Distrikten wie Paschtun Sarghun, Obeh, Kohsan, Gusara und Koschk-e Kohna Taleban-Angriffe zu. Mitte Oktober nahmen die Taleban kurzzeitig das Distriktzentrum von Karoch ein, Heimat des deutsch-afghanischen Politikers und früheren Außenminister Rangin Dadfar Spanta. Bei Kämpfen im Distrikt Tschahar Bolak, gleich hinter der Stadtgrenze von Masar-e Scharif, wurden Mitte Oktober Wohnhäuser und die Ernte vieler Familien zerstört. ToloNews berichtete auch von „präzedentloser Gewalt [Kämpfe] in den Distrikten Balch, Daulatabad, Scholgara, Tscharkent und Zari, alle in der Provinz Balch.

Aus Ghasni, südlich von Kabul, reiste im Oktober die letzte Gruppe der dortigen Sikhs, einer jahrhundertelang ansässigen religiösen Minderheit, nach Indien aus. Ihr Sprecher Dilip Singh begründete das mit der „zunehmenden Unsicherheit“. Im April 2020 hatte der IS die Verantwortung für einen Anschlag auf einen Sikh-Tempel in Kabul übernommen (mein Bericht hier). Dabei wurden fast 30 Menschen umgebracht. Aber auch Ghasni selbst ist dauerhaft umkämpft.

Am 11. Oktober sorgten die Taleban fast für einen Abbruch der Doha-Gespräche. Sie rückten in der Südprovinz Helmand massiv auf die Provinzhauptstadt Laschkargah vor und hatten schon die Vororte erreicht, bevor sie auch dort durch massive Luftschläge gestoppt wurden. Das US-Militär erklärte, er habe entsprechend der Doha-Vereinbarungen zum „Schutz der afghanischen Regierungskräfte“ eingegriffen. (Seit der Unterzeichnung des Doha-Abkommens im Februar bis Anfang Oktober – also vor den Kämpfen in Helmand – hatten die US-Streitkräfte insgesamt 40 Angriffe geflogen.) US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad eilte nach Doha, um die Taleban zum Einlenken zu bringen und vor allem zu verhindern, dass Washington Trumps Abzugsversprechen zurücknehmen muss.

Durch die Kämpfe in Helmand wurden nach UN-Angaben 5000 Familien (etwa 35.000 Menschen) vertrieben. Landesweit betrug die Zahl der durch den Krieg neu Vertriebenen bis Ende August nach UN-Angaben 158.000.

Vor den Kämpfen aus Babadschi (Bei Laschkargah) Flüchtende. Quelle: Bilal Sarwary/Twitter.

Ein von einem afghanischen Journalisten eingerichteter Monitoring-Dienst verzeichnete für den 26.10.2020 106 Meldungen über Kriegstote (12 Zivilisten, 8 ANSF-Angehörige, 86 Taleban) sowie 51 Verletzte (8 Zivilisten, 6 ANSF-Angehörige, 37 Taleban) in 19 Vorfällen in elf Provinzen.

Zusammenfassung 

Insgesamt bewegen sich Krieg und Gewalt in Afghanistan also auf unverändert hohem Niveau (siehe IEP-Angaben in der Einleitung). 

Allerdings haben sich einige Muster verschoben. Die von den Taleban beherrschten Gebiete sind im wesentlichen ruhig, da die afghanischen Regierungskräfte ihre Offensivhandlungen weitgehend eingestellt haben. Dies folgte v.a. aus der Verminderung der Konfliktbeteiligung des US-Militärs, ohne die die afghanischen Kräfte oft nicht mehr vollständig handlungsfähig sind. Es fehlt ihnen häufig US-Luftunterstützung, also Drohnen und Bomber, die gegen Taleban-Angriffe und –Konzentrationen zur Hilfe gerufen werden konnten. 

Allerdings führte der Ausbau der afghanischen Luftstreitkräfte mit finanzieller Unterstützung der USA und anderer westlicher Regierungen zu einer Zunahme der afghanischen Luftschläge. Ende September zitierte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im afghanischen Unterhaus, Arif Rahmani, eine afghanische Sicherheitsquelle, die ihm mitgeteilt habe, dass die Armee täglich „neun bis 13“ Luftangriffe fliege. Diese sind aber oft ungezielt (siehe das o.g. Beispiel aus Baharak, das kein Einzelfall ist). Regierungsquellen melden danach oft hohe Zahlen an Taleban-Opfern, doch in vielen Fällen muss angenommen werden, dass darunter auch zivile „Kollateral“opfer sind. Im heute (26.10.20) veröffentlichten neuen UN-Zivilopferbericht zu Afghanistan wird darüber Sorge zum Ausdruck gebracht, dass die zivilen Opfer solche Luftangriffe in den ersten neun Monaten 2020 (im Vergleich zum selben Zeitraum 2019) fast um 70 Prozent gestiegen sind. Laut UN-Bericht treffen die afghanischen Luftstreitkräfte bei Einsätzen “häufig zivile Behausungen” und verursachen durchschnittlich fünf zivile Opfer bei solchen Vorfällen. 

Hingegen wird in den schon zuvor umkämpften Gebieten weiter und augenscheinlich intensiver gekämpft. Für dort lebende Menschen bedeutet die Verteidigungshaltung der Regierungskräfte, dass Taleban-Angriffe gegen deren Positionen häufiger geworden sind, ebenso wie oft ungezielte Reaktionen der Regierungskräfte. Das Risiko für Zivilisten, ins Kreuzfeuer zu geraten, hat dort zugenommen.

In den formal von der Regierung beherrschten Gebieten ist, abgesehen von der geringeren Wahrscheinlichkeit, in größeren Städten von groß angelegten Terroranschlägen betroffen zu werden, die Gefahr Opfer von Kampfhandlungen zu werden ähnlich hoch wie vor Unterzeichnung des Doha-Abkommens. Dort hat sich die Frequenz gezielten Operationen der Taleban auf militärische und Regierungsziele erhöht, aber die Gefahr sogenannter „kollateraler“ Zivilopfer bleibt hoch.

Die vorübergehende Einstellung der US-Luftangriffe, die Schwächung der afghanischen IS-Anlegers sowie die Konzentration der Taleban-Angriffe auf die bewaffneten Kräfte der Regierung haben zu einem gewissen Rückgang der zivilen Opfer geführt. Der neue UN-Zivilopferbericht verzeichnete zwar insgesamt einen Rückgang der Zahl der zivilen Opfer in den ersten neun Monaten 2020 (im Vergleich zum selben Zeitraum 2019) um etwa 30 Prozent (2117 Tote und 3822 Verletzte), stellte aber fest, dies sei kein Effekt der Friedensgespräche in Doha.

Hingegen gibt es offenbar präzedenzlose Verluste bei den Regierungstruppen, deren Moral sinkt. Auch wenn Gesamtzahlen geheim gehalten werden, verdeutlichen einzelne Angaben doch immer wieder diesen Trend. Am 22. Juni etwa tweetete der damalige Sprecher des afghanischen Nationalen Sicherheitsrates, Jawed Faisal, dass die vorangegangene Woche „tödlichste der vergangenen 19 Jahre“ gewesen sei, mit 422 Taleban-Attacken in 32 Provinzen, wobei 291 ANSF-Mitglieder getötet und 550 weitere verwundet worden seien.” (Er weigerte sich dann, auf AAN-Anfrage Folgezahlen mitzuteilen.) 

Da die Taleban aber auch den administrativen Apparat der Regierung als legitimes Ziel betrachten und bei ihren Angriffen auf militärische Regierungsziele oft trotzdem meist Zivilisten die Opfer sind, bliebt die Zahl der Zivilopfer hoch und der Rückgang sollte nicht überinterpretiert werden. Dazu kommt, dass aufgrund der seit Jahren stetig verschlechterten Sicherheitslage sowie der ausgedünnten internationalen Präsenz anzunehmen ist, dass viele Fälle von zivilen Opfern entweder nicht bekannt werden oder nicht hinreichend untersucht werden können.

Zum Vergleich lesen Sie hier die gesamten vier Absätze des Abschnitts „Militärische Lage“ im Asyllagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16.7.2020: