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US-Präsident Joe Bidens Ankündigung eines endgültigen, vollständigen und bedingungslosen Truppenrückzugs aus Afghanistan (allerdings zu einem späteren Zeitpunkt als mit den Taleban vereinbart) sowie die darauf folgende Absage der Taleban, an einer von den USA auf den Weg gebrachten Friedenskonferenz in Istanbul teilzunehmen haben die Suche nach einer Verhandlungslösung erst einmal gebremst. Vor allem in Afghanistan war dieses Ansatz ohnehin mit Skepsis betrachtet worden, da er von US- – und nicht von afghanischen – Interessen dominiert war. Wie es jetzt weiter geht, ist unklar.

Vor einigen Tagen hatte ich schon auf einige meiner letzten Artikel zu diesem Thema verwiesen: einen zusammenfassender Beitrag sowie einen Kommentar in der taz (beide vom 14.4.2021) sowie ein aktualisierte Fassung des taz-Artikels für das nd vom 15.4.2021 – oder alle auf einen Blick hier.

Hier nun drei weitere Beiträge:

Erstens ein ausführliches, etwa 25 Minuten langes Interview mit dem SRF (Schweizer Rundfunk) aus der Sendung „Tagesgespräch“ am 16.4.2021 – hier anzuhören (alternativ hier). Zweitens ein kürzeres Interview mit dem Deuschlandfunk (DLF) einen Tag vorher, hier anzuhören.

Der DLF fasste das Gespräch wie folgt zusammen:

Der Afghanistan-Experte Ruttig warnt vor negativen Folgen eines Abzugs der Nato-Truppen aus dem Land. Er sagte im Deutschlandfunk, es sei fraglich, ob es nach dem Nato-Beschluss überhaupt noch Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban geben werde. Die Sicherheitslage im Land werde sich vermutlich weiter verschlechtern. Ruttig betonte, es wäre sinnvoller, mit Truppen in Afghanistan zu bleiben, wenn auch mit einem klar defensiven Mandat. Für die Freiheitsrechte und vor allem die Rechte der Frauen dürfte der Abzug negative Folgen haben, meinte der Co-Direktor des „Afghanistan Analysts Network“. Umso wichtiger sei es, dass die internationale Staatengemeinschaft weiterhin politisch ihren Einfluss geltend macht – etwa, indem sie finanzielle Zuwendungen mit der Einhaltung von Menschenrechten verknüpft.

Im Konferenzsaal von Doha, im Vordergrund die Taleban-Delegation. Foto: Killid, via Twitter

Desweiteren führte die Online-Redaktion der Wochenzeitung Die Zeit ein Interview mit mir, das dort am 17.4. erschien. Ich veröffentlich es hier:

Abzug aus Afghanistan: „Die Taliban regieren bereits große Teile des Landes“

Interview: Steffen Richter

ZEIT ONLINE: Herr Ruttig, Joe Biden will zum 11. September die US-Truppen aus Afghanistan abziehen. Bis dahin sollen sich die afghanische Regierung und die Taliban auf ein Friedensabkommen einigen. Die nächste Verhandlungsrunde soll am 24. April in Istanbul stattfinden. Wird sich dort nach der Biden-Ankündigung etwas bewegen?

Thomas Ruttig: Die Taliban haben die Konferenz inzwischen abgesagt. Die Konferenz stellte auch einen – von den USA – geplanten Neuansatz dar, der ursprünglich die innerafghanischen Gespräche ersetzen, dann ergänzen und beschleunigen sollte.

Jetzt hängt der Fortgang eins Friedensprozsses in erster Linie von ihnen ab, ob sie sich auch nach dem US-Abzug weiter weigern, mit der afghanischen Regierung zu reden. Präsident Aschraf Ghani und der Chef des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, haben ja eine Art repräsentative Gruppe zusammengestellt, in der auch Parlamentarier und Kabinettsmitglieder sind und die dann stellvertretend für Kabul spricht. Die dürfte nach wie vor zur Verfügung stehen.

ZEIT ONLINE: 3.500 US-Soldaten sind noch im Land – ziehen jetzt aber ab. Ohne diese drohe der Kabuler Regierung der Kontrollverlust, hat Afghanistans Innenminister Massoud Andarabi gewarnt. Ist das so? 

Ruttig: Ja, er hat das in einem Anfall von Ehrlichkeit zugegeben. Und das hat zwei Gründe: Der eine ist ein militärischer. Mit den abziehenden US-Soldaten gehen Funktionen verloren, die die afghanischen Streitkräfte alleine nicht ausführen können. Das betrifft vor allem die Luftunterstützung, also Bombenangriffe anzufordern, wenn die afghanischen Streitkräfte durch die Taliban in Bedrängnis geraten. Dazu gehört auch geheimdienstliche Aufklärung.

Das zweite ist ein Symbolischer: Der jetzt angekündigte Abzug der westlichen Truppen sieht das in den Augen vieler iwe ein Eingeständnis der Niederlage aus. Die Soldaten haben ja das anfangs erklärte Ziel nicht erreicht, die Taliban zu zerschlagen. Sie haben sie im Gegenteil eher aufgebaut. Jetzt laufen sie weg und lassen uns zurück – das ist der Eindruck, der sich dann in der Bevölkerung und in den politischen Kreisen Afghanistans breit macht. Das könnte viele afghanische Politiker, vor allem ehemalige Mudschahedin, dazu bringen, sich mit den Taliban zu verständigen. Das kann von innen zu einem Ende der Regierung Ghani führen .

ZEIT ONLINE: Viele fürchten: Wenn die ausländischen Soldaten erstmal raus sind, wird auch die internationale Aufmerksamkeit für Afghanistan rapide abnehmen. Würden Sie dem zustimmen?

Ruttig: Ja, das ist eine große Sorge in Afghanistan. Und wenn die Aufmerksamkeit schwindet, wird es auch weniger Geld geben. Das Land wird zu einem hohen Anteil – Schätzungen belaufen sich auf 70 bis 90 Prozent – von ausländischen Zuwendungen am Laufen gehalten. Wenn dieses Geld nicht mehr fließt, dann können beispielsweise Soldaten und Polizisten nicht mehr bezahlt werden. Die könnten sich dann andere Geldgeber suchen oder auf die Seit schlagen, von der angenommen wird, dass sie gewinnen wird. Dazu gibt es auch Parallelen in der jüngeren afghanischen Geschichte.

ZEIT ONLINE: Wie wahrscheinlich ist es, dass es eine Übereinkunft zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban geben wird, bevor die internationalen Soldaten abgezogen sind? 

Ruttig: Keine. Die Taliban haben jetzt erklärt, dass sie sich erst wieder an einer Friedenskonferenz beteiligen, wenn die Truppen vollständig abgezogen sind. Biden hat der Termin genannt: 11. September. Auch unter Joe Biden machen die Amerikaner also was sie wollen, nicht was Afghanistan braucht, und nehmen dabei keine Rücksicht auf die Regierung. Es besteht vielleicht eine vage Hoffung, dass es nach dem Abzug noch einmal zu innerafghanischen Friedensverhandlungen kommt. Der Abzug stärkt dafür natürlich noch einmal die starke Position, dir die Taliban ohnehin schon innehatten. Aber siewerden wohl auch nicht – wie vielfach befürchtet – so einfach in Kabul einmarschieren können. Jedenfalls so lang nicht, wie westliche Militär- und andere Hilfe weitergeht. Das sei ja angeblich zugesagt, sagte jedenfalls Präsident Ghani.

ZEIT ONLINE: Gesetzt den Fall, die Taliban würden wie nach den Bürgerkriegen in den Neunzigern tatsächlich wieder die Kontrolle über Afghanistan gewinnen: Wären sie heute noch in der Lage eine Art von Staatlichkeit auf die Beine zu stellen? 

Ruttig: Ja, das wären sie. Die Taliban regieren bereits große Teile des Landes. Die Schätzungen darüber schwanken, weil sich die Frontlinien immer wieder verschieben, aber mehr als die Hälfte des Territoriums sind unter ihrer überwiegenden Kontrolle, mit etwa 45 Prozent der afghanischen Bevölkerung. Dort gibt es natürlich eine rudimentäre Taliban-Verwaltung. Die besteht im Wesentlichen daraus, dass sie alles besteuern, was sich nach staatlichen und islamischen Vorgaben besteuern lässt, und damit ihre militärische Maschinerie am Laufen halten. Sie sehen sich ja als legitime Regierung.

ZEIT ONLINE: Was machen sie für die dort lebende Bevölkerung?

Ruttig: Für die Menschen tun sie nicht sehr viel, auch wenn sie versuchen, wie eine ganz normale Regierung zu wirken. Wir haben versucht, in Distrikte zu schauen, die ganz oder teilweise von den Taliban kontrolliert werden. Und da haben wir diese parallelen Regierungsstrukturen festgestellt. Die Bewohner dort haben keinen Freiraum, sich politisch zu betätigen oder sich politisch abweichend zu äußern. Sie dürfen allenfalls Petitionen eingeben.

ZEIT ONLINE: Die gewählte afghanische Regierung ist an solchen Orten nicht mehr präsent?

Ruttig: Doch, die Taliban lassen das Schul- und Gesundheitssystem normal weiterlaufen. Das Schulsystem wird weiterhin vom Bildungsministerium in Kabul finanziert. Das überweist die Gehälter und das Geld für Schulmaterial. Und die Taliban passen auf, dass die Lehrer zum Unterricht kommen und zwar sehr viel besser als die Regierung das getan hat. Es gibt und gab viele Geisterschulen in Afghanistan, für die Geld überwiesen wird, in denen aber kein Unterricht mehr stattfindet. Örtliche Machthaber stecken das in die eigene Tasche. Unter den Taliban gibt es sowas nicht, und das kommt bei den Leuten gut an. Das Gesundheitssystem hat die Regierung outgesourct an NGOs, die grundsätzliche medizinische Dienste anbieten. Da halten sich die Taliban weitgehend raus, die müssen ja auch ihre Leute und Familien medizinisch versorgen lassen.

ZEIT ONLINE: Regieren sie denn nicht ideologisch in die Schulen hinein?

Ruttig: Auf jeden Fall. Sie setzen im Bildungssystem auch eigene Leute auf die Gehaltslisten, und es gibt mit den Taliban sympathisierende Lehrer. Die sorgen auch dafür, dass bestimmte Fächer nicht mehr oder weniger gelehrt werden und dafür die Islamkunde stärker wird. Die NGOs müssen sich bei Taliban-Kommissionen registrieren lassen, sonst können sie vor Ort nicht arbeiten. Vieles wird über die Dorfältesten vermittelt, die den Taliban sagen, was die Bevölkerung möchte. Und die Taliban entscheiden dann, ob sie das auch wollen. Außerdem sind die Taliban ja selbst Teil der Bevölkerung mit ihren traditionellen Strukturen, die hat es in Afghanistan immer schon gegeben. Auf die greifen auch die Taliban zurück, zumindest, wenn es ihren Interessen entspricht.

ZEIT ONLINE: Lässt sich diese Art Lokalpolitik denn auf ganz Afghanistan übertragen?

Ruttig: Vielleicht. Heute gibt es zwar mehr Gegenwehr gegen die Taliban als in den neunziger Jahren. Aber wenn vom Staat irgendwann tatsächlich kein Geld mehr kommen sollte, dann laufen die Leute der staatlichen Seite weg. Bei den Taliban ist die Loyalität höher. Wenn die Taliban schlau sind, lassen sie sich auf eine Machtteilung ein und kooptieren dann, was an Staatsapparat da ist, an Beamten, an inzwischen gut gebildeten Leuten. Es ist ja auch nicht so, dass alle Gebildeten die Regierung toll finden und alle Ungebildeten bei den Taliban sind.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielen die lokalen Kriegsherren, die Warlords, die in einigen Gebieten Afghanistans dominieren?

Ruttig: Die Amerikaner haben die Warlords 2001 als Teilnehmer der Invasion mitgebracht, Leute wie den Milizenführer Rashid Dostum aus Nordafghanistan, und später, über einen separaten Friedensdeal, Gulbuddin Hekmatyar. Einige sind gestorben, andere von den Taliban in die Luft gesprengt worden. Aber wer noch da ist, spielt weiter eine große Rolle. Vertreter von Dostum, Hekmatyār, der taschikisch geprägten Jamiat oder von den Hazara-Parteien sind ja auch in der Delegation für die Verhandlungen mit den Taliban.

ZEIT ONLINE: Es werden immer mehr tödliche Anschläge auf Regierungsvertreter, auf zivile Kräfte, auf Frauen, die arbeiten gehen und auf Lehrer verübt. Sie werden fast alle den Taliban zugeschrieben. Macht sie das in der Bevölkerung nicht unbeliebt?

Ruttig: Bei einem Großteil diese Anschläge ist unklar, wer dahinter steckt. Sicherlich sind ob die Taliban für viele verantwortlich. Es gibt aber auch den Islamischen Staat, regierungstreue Milizen und einen sehr großen afghanischen Geheimdienstapparat. Man kann davon ausgehen, dass es zu dessen Methoden gehört, unliebsame Leute umzubringen und dann die Taliban zu beschuldigen. Aber natürlich haben die Taliban über viele Jahre schwere Anschläge in den Städten und auch in den Landgebieten verübt, fast immer gezielt auf Regierungseinrichtungen. Dabei sind immer auch viele unbeteiligte Passanten gestorben. Auch Mordanschläge haben sie durchgeführt.  Deswegen werden sie von vielen Afghan:innen abgelehnt, selbst unter den sehr konservativen Stammesangehörigen bei den Paschtunen im Süden. Aber eine gewissen Basis haben sie in der Bevölkerung, auch durch die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft im Krieg zwischen Taliban und US-Amerikanern.

ZEIT ONLINE: Die Taliban gehörten zu denen, die ab Ende der siebziger Jahre mit US-Unterstützung gegen die sowjetische Besatzung kämpften. Wie konnten sie werden, was sie heute sind? Wie haben sie es geschafft, sich landesweit zu organisieren? 

Ruttig: Die Taliban waren in den 80er Jahren ein noch unorganisierter Teil der Mudschaheddin-Bewegung gegen die Sowjets. Nach deren Abzug 1989 haben sie aufgehört zu kämpfen, während andere Fraktionen der Mudschaheddin im folgenden Bürgerkrieg weitermachten und dabei Gräueltaten verübt haben. So kam der frühere Taliban-Kommandeur Mullah Omar ins Spiel. Er sollte den Krieg beenden und hat das auch weitgehend geschafft. In der Folge wurden die Taliban zur eigenen Bewegung und vom pakistanischen Geheimdienst unterstützt. Sie rekrutierten über das landesweite Netz von Koranschulen, den Madrasas. Chefs von Madrasa hatben zum Beispiel ihre älteren Schüler zusammen genommen, sie mit Waffen versorgt und gesagt: Wir gehen jetzt kämpfen. 

ZEIT ONLINE: Wie muss man sich Afghanistan ohne internationale Truppen vorstellen?

Ruttig: Alles hängt davon ab, ob es ein Friedensabkommen gibt. Falls nicht, besteht die Gafhr, das weitergekämpft wird und der Alltag so aussieht, wie jetzt: Wenn die Menschen morgens das Haus verlassen, wissen sie nicht, ob sie abends lebend und unversehrt wieder heimkommen. Sollte es ein Abkommen geben, hängt vieles von den Verabredungen in den einzelnen Provinzen ab: Sind die Taliban bereit, pragmatisch mit den ehemaligen Regierungsvertretern zusammenzuarbeiten? Das wichtigste für Afghanistan ist aber, dass es in Kabul nicht erneut eine korrupte Regierung gibt, und dann noch mit den Taliban gemeinsame Sache macht.

ZEIT ONLINE: Zum Alltag gehört heute auch das Coronavirus. Wie stark hat es sich in Afghanistan ausgebreitet?

Ruttig: Die Pandemie hat natürlich auch Afghanistan getroffen, aber es ist schwer, wirklich verlässliche Zahlen zu bekommen. In den Städten sitzen die meisten in beengten Wohnverhältnisse dicht aufeinander. Hygiene ist schwer durchzuhalten. Viele sind arbeitslos und stehen buchstäblich jeden Tag an der Ecke, um einen Tagesjob zu kriegen. Da hat man keine Zeit, an eine Maske oder den Abstand zu denken. Wir wissen, dass es sehr viele Tote gegeben hat, die nie gezählt worden sind, was unterschiedliche Gründe hat. Die Leute vertrauen dem Gesundheitssystem oft nicht. Sie gehen nicht zum Arzt, weil sie arbeiten müssen oder sie hören auf Mullahs, die sagen Covid wäre nur eine Krankheit der Ungläubigen. Wir haben Friedhofsarbeiter und Sargtischler interviewt, die uns sagten: „Unser Business boomt.“

ZEIT ONLINE: Außer dem Virus gibt es ja auch andere gewichtige Einflussfaktoren von außen. Da sind die Inder, da ist Pakistans berüchtigter Geheimdienst, die Chinesen verfolgen rein wirtschaftliche Interessen, Russland hat sich als Verhandler ins Spiel gebracht: Wer von denen verfolgt die stärksten Interessen in Afghanistan?

Ruttig: Die Amerikaner wollten, sich selbst eingeschlossen, sechs Garantiemächte für das Friedensabkommen: Russland, Indien, Pakistan, Iran und China. Das ist alles andere als eine harmonische Runde. Selbst wenn sie zusammenkommen, bezweifle ich, ob die sich in erster Linie für Frieden in Afghanistan einsetzen wollen. Es geht um regionalen Einfluss, nun auf Kosten der USA.