Schlagwörter

, , , , , , , ,

Große mediale Wellen schlug diese Meldung vorige Woche außerhalb Afghanistans nicht – hätte sie aber zumindest beim Fachpublikum sollen: Taleban-Chef Hebatullah hat per Dekret einen neuen Ministerpräsidenten ernannt, nur „zeitweilig“, wie es hieß. Maulawi Abdul Kabir, der Vize für politische Angelegenheiten des bisherigen Amtsinhabers Mullah Muhammad Hassan Achund (meist als „Hassan“ bekannt) übernehme, da Hassan „unwohl“ sei und sich in Kandahar – der Quasi-Hauptstadt der Taleban – „ausruhe“, wie die Taleban-staatliche Nachrichtenagentur Bachtar am 17.5. 2023 bestätigte, und zwar so lange, bis Hassan wieder gesund sei. [Ergänzung 31. Mai 2023: Seine Position wird als „kafil“ (svw. Verwalter) beschrieben.]

Kabir ist damit ein doppelt zeitweiliger rais ul-wusara, wie das Amt mit arabischem Begriff auf Dari und Pashto heißt, denn die gesamte Regierung – samt Hassan ­– ist im Sprachgebrauch der Taleban ja zeitweilig, was auch immer das praktisch bedeuten soll; eine Zeitlang wurde das als Hinweis gedeutet, die Taleban könnten doch noch Politiker von jenseits ihrer eigenen Reihen in ihre Regierung aufnehmen. Das hat sich bisher nicht bewahrheitet.

Afghanische Exilmedien wie Amu TV hatten die Nachricht schon eher gebracht. Amu TV wollte sogar wissen, dass Kabir selbst sich an Hebatullah gewandt habe, um Klarheit über Hassans Zustand zu erhalten und dessen Rückkehr nach Kabul anzumahnen. Das lönnte Hebatullah in Zugzwang gebracht haben. Bei Amu TV hieß es auch, ein Regierungssprecher habe bestätigt, Hassan habe sich seit dem Id-Fest zu Ende des Ramadan (Ende April) in Kandahar aufgehalten und sei seither nicht mehr an seinen Dienstort Kabul zurück gekehrt.

Bachtar zitierte einen Satz des Taleban-Regierungssprechers, demzufolge das alles „Routine“ sei, die Leute „nicht besorgt sein“ sollten und Kabirs Amtsübernahme nur „sicherstellen“ solle, dass „die offiziellen Angelegenheiten nicht unterbrochen werden“, während Hassan unpässlich sei. Solch ein Satz in einer Diktatur sollte immer zu denken geben, denn er könnte dazu dienen, einen wichtigen Sachverhalt „tiefer zu hängen“.

Incoming als zeitweiliger Taleban-Ministerpräsident: Maulawi Abdul Kabir. Foto: Khaama.


Sehen wir uns also an, was sonst so von seriösen Medien dazu gemeldet, von Exilmedienkommentiert und unter den Taleban weiter aktiven unabhängigen Medien zwischen den Zeilen angedeutet wurde.

Die Exilnachrichtenagentur Khaama wusste zu berichten, dass „Quellen“ schon vorher berichtet hätten, dass Hassan „an einer Herzerkrankung leide“. Kann sein, muss nicht sein. Aber schon allein Hassans für afghanische Verhältnisse biblisches Alter ­– er soll 78 sein – könnte darauf hindeuten, dass mit seiner Rückkehr nicht zu rechnen ist. 

Hassan war seit der erneuten Machtübernahme der Taleban im August 2021 in diesem Amt und übte es bereits auch zu Beginn ihres ersten Regimes aus. Schon damals wurde er schnell als aufbrausend und für praktische Regierungsarbeit wenig geeignet bekannt – und bald abgelöst. Auch jetzt wieder war von ihm noch weniger politisch Substanzielles zu hören als von den anderen Talebanführern.

Kabir soll in Baghlan geboren sein; allerdings lägen die Wurzeln seiner Familie, die zum Stamm der Dsadran gehört (und er gehört nicht zum ebenfalls Dsadran-dominierten Haqqani-Netzwerk) im Distrikt Nika in Paktika. Nach einigen Angaben soll er 51, nach anderen um die 60 sein, und damit 20-30 Jahre jünger als Hassan. Und ein Vertrauter des inzwischen verstorbenen Taleban-Gründers Mulla Muhammad Omar soll er gewesen sein, was seinen Aufstieg vor 2001 (und seinen jetzigen Zugang zu Hebatullah) erklären könnte, denn Omar ist sozusagen der Taleban-Heilige.

Zudem könnte man Kabir ­zu den pragmatischeren Talebanführern rechnen. Amtserfahrung hat er, und auch „das Ausland“ (etwa die UN) kennt ihn, und umgekehrt. Während des ersten Taleban-Regimes war er zunächst Gouverneur von Logar, dann der wichtigeren Ostprovinz Nangrahar. Parallel zu letzterem Amt wurde er zum Vizeministerpräsidenten für wirtschaftliche Angelegenheiten ernannt (ein Amt, das er unmittelbar nach dem Machtwechsel August 2021 wieder innehatte) und erwies sich dabei als sachkundig und einer der pragmatischeren Talebanführer. (Ich war damals bei der UN in Kabul) Nach dem Fall des ersten Taleban-Regimes war er ab 2005 zwei Jahre lang Chef der Politischen Kommission der Taleban, also quasi ihr Außenminister, auch wenn es damals noch nicht viel zu tun gab, denn noch hieß es in Washington: No talks with the Taleban.

In dieser Zeit residierte Kabir relativ offen und komfortabel in Pakistan, wie z.B. der bekannte pakistanische Journalist und Autor Ahmed Rashid damals berichtete, obwohl die pakistanischen Regierungen steif und fest behaupteten, sie wüssten nichts vom Aufenthalt der Talebanführer.

Nach einigen Berichten (z.B. hier) war Kabir nach 2007 Taleban-Militärchef für Ost-Afghanistan und/oder Chef der für die Region zuständigen „Peschawar-Schura“ und in dieser Funktion für einen der schwersten Anschläge verantwortlich, bei dem 2007 in Baghlan bei der Besichtigung einer Zuckerfabrik über 100 Menschen – darunter sechs Parlamentsabgeordnete und fast 60 zu ihrer Begrüßung versammelte Schulkinder – ermordet wurden. Diese Angaben stehen auch in der UN-Sanktionsliste (hier unter TAi.003).

Nach verschiedenen Berichten soll Kabir 2005 und erneut(?) 2010 in Pakistan festgenommen worden sein. Unter welchen Umständen er dann frei kam, ist unklar. (Manche Talebanführer wurden später auf Wunsch der US- und/oder afghanischen Regierung ohne großes Aufsehen wieder auf freien Fuß gesetzt.)

Um 2009, mit Obama ante portas, wurde „Talking with the Taleban“ opportun, und ein NATO-Gipfel im darauffolgenden Jahr (in Lissabon) stellte die Weichen für die „Übergabe der Verantwortung“ an die afghanische Regierung als Voraussetzung für den Abzug des Westens (damals für 2014 geplant, auch wenn es dann noch sieben weitere Jahre dauerte und am Schluss nicht alles unter NATO-Kontrolle verlief). Damals jedenfalls kam auch Kabir wieder ins Spiel, als Mitglied des Taleban-Verbindungsbüros in Katar (Hintergrund hier, hier und hier), über das dann auch die Verhandlungen mit den USA liefen, die 2020 im Abzugsabkommen von Doha mündeten.

Daraus könnte man ableiten, dass es sich bei Kabirs zeitweiliger Ernennung doch um einen politisch bedeutsameren Schritt handelt, als man den Taleban allgemein zutrauen möchte und das geringe Medienecho und die Tiefstapelei der Taleban suggerieren könnten.

Annahmen einiger afghanischer Beobachter (etwa hier), dass Kabir in seiner neuen Funktion über keine Entscheidungsbefugnisse verfüge, scheinen nicht den Tatsachen zu entsprechen. Afghanische Medien berichten jedenfalls, dass er bereits erste Entscheidungen getroffen habe; Taleban-Medien zeigten ihn bei einem Treffen mit Stammesältesten, Bilder, die es so von Hassan nicht gegeben hatte. Dass es sich bei den ersten Entscheidungen um Angelegenheiten des Zivolluftfahrtministeriums handelte, ist nicht unerheblich, denn dieses generiert wichtige Einnahmen, und außerdem beginnt gerade die im islamischen Kalender wichtige Pilgersaison, und dieses Ministerium organisiert die Mekka-Flüge.

Eine wichtige Frage bleibt allerdings: Warum sollte der ultrakonservative Hebatullah nach seiner Verbotsorgie einen „Gemäßigten“ ernennen? Zeigte er Einsicht, dass das ein isoliertes Afghanistan endgültig in die Katastrophe führen könnte? Haben ihn Taleban-interne Kritiker beeinflusst? Oder hat der Kommentator einer Exil-Onlinezeitung Recht, der behauptet, dass Kabirs Ernennung nach den Treffen von Taleban-Außenminister Muttaqi in Pakistan und von Katars Premier und Außenminister in Kandahar erfolgte, und also ein Ergebnis der Bemühungen sein könnte, die Talebanführung über islamische Staaten zu beeinflussen, etwas vernünftigere politische Ansätze zu verfolgen? (Er vermerkt auch zu Recht, dass Kabir damit den ersten und zweiten Vizeministerpräsidenten Maulawi Hanafi – einen Usbeken – und Mulla Baradar – einen Durrani-Paschtunen – überholte, also nicht alles nach Protokoll ging. Was er damit begründete, dass Hebatullah möglicherweise aus stammesarithmetischen Gründen wieder einen Nicht-Durrani-Paschtunen – auch Hassan ihm zufolge soll keiner sein – in diesem Amt sehen wollte, und/oder Pakistan seinen Einfluss im Kabinett ausbauen wolle – in dieser Lesart wäre Kabir besonders Pakistan-nahe.)

Wenn aber mit Kabir bewusst ein Pragmatiker ernannt worden sein sollte (was all die anderen Gründe und Motive nicht ausschließt), könnte das endlich ein Silberstreifen am Horizont sein. Oder ist es doch eine weitere Taleban-Finte?

Outgoing: Mulla Hassan. Foto: Pajhwok.