Schlagwörter

, , , , , ,

Afghanistans Doppelspitze Ghani/Abdullah auf Antrittsbesuch in Brüssel, London und Berlin

(stark erweiterte Version eines am 5. Dezember 2014 in der taz – bisher nur im Print – veröffentlichten Artikels; ein Vorbericht zur London-Konferenz hier)

 

Nachdem er bereits Saudi-Arabien, China, Pakistan und, aus Anlass eines Südasiengipfels Nepal besucht hatte, stellt sich der neue afghanische Staatspräsident Ashraf Ghani nun auch seinen Hauptsponsoren im Westen vor. (Bei einer Zwischenlandung besprach er noch mit Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew den Plan einer Gaspipeline vom Kaspischen Meer durch Afghanistan nach Südasien.

Am Mittwoch drückten Ghani und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Brüssel gemeinsam ihr Siegel auf das Truppenstatusabkommen (SOFA) mit dem Nordatlantikpakt, der auch nach Ende der ISAF-Mission, wenn auch mit weniger Soldaten (geplant sind 12.000), militärisch in dem zentralasiatischen Land vertreten sein wird. Ghanis Vorgänger Hamed Karzai hatte sich trotz massiven Drucks vor allem aus den USA, die sogar mit einem Totalabzug drohten (was einen Stopp der Finanzhilfe nach sich gezogen hätte), lange geweigert, dieses sowie ein gleich geartetes bilaterales Sicherheitsabkommen mit den USA zu unterzeichnen. Karzai hatte dabei selbst einen mit großer Mehrheit gefassten Beschluss einer von ihm selbst einberufenen Beratenden Loya Jirga (ein paradoxer, von ihm eingeführter Begriff – eine Loya Jirga trifft normalerweise bindende Beschlüsse) ignoriert.

Ghani holte das gleich am zweiten Tag seiner Amtszeit Ende September nach. Beide Häuser des Parlaments haben ebenfalls zugestimmt. Dabei war der Widerstand einer kleinen Opposition verbal schärfer, als die Abstimmungsergebnisse es auswiesen

Am gleichen Abend flog Ghani nach London, zur zwölften internationalen Afghanistan-Konferenz in 13 Jahren Nach-Taliban-Afghanistan. Dort nahm er zunächst an einem Vortreffen mit Vertretern der Privatwirtschaft teil. Investitionen für sein Land einzuwerben ist ein besonderes Anliegen Ghanis, eines ehemaliger Weltbankers und Finanzministers unter Karsai. Mit neuen Geldspritzen der Regierungen wird aber nicht gerechnet. (Kanada und China zum Beispiel wiederholten frühere Finanzzusagen.) Die internationale Gemeinschaft hatte 2012 in Tokio Kabul insgesamt 16 Milliarden Dollar bis 2016 (und teilweise, je nach Land, bis 2017) zugesagt.

Die Besonderheit: Ghani reist nicht allein, sondern mit seinem Partner, Quasi-Ministerpräsident Abdullah Abdullah, als Teil der neuen afghanischen Doppelspitze. Sie ist eigentlich nicht verfassungskonform, denn in Afghanistan ist der Präsident nicht nur Staats-, sondern eigentlich auch Regierungschef. Allerdings war Afghanistans alte Regierung bei der diesjährigen Präsidentenwahl wegen erneut massiven Wahlbetrugs sowie gravierender institutioneller Fehlleistungen auch nach sechsmonatigem Audit und, wie die UNO sagte, der größten Neuauszählung, die je in einem Land veranstaltet wurde, nicht in der Lage, ein unumstrittenes Ergebnis zu produzieren. Die USA vermittelten, mit dem Ergebnis, Ghani und Abdullah irgendwie zu Siegern zu machen; ein Endergebnis mit Zahlen wurde nie offiziell veröffentlicht. Deshalb sprach Abdullah gestern auch in Vertretung der afghanischen Regierung London zur Konferenzeröffnung.

Ghani, währenddessen, hatte seinen Auftritt zum Abschluss der Konferenz, als er sein Reformprogramm unter dem Titel “Realizing Self-Reliance – Commitments to Reform and Renewed Partnership” präsentierte. Nach einem AAN bekannt gewordenen Entwurf sieht es unter anderem vor, eine unabhängige Anti-Korruptionsbehörde mit zeitweiligen Strafverfolgungsrechten einzusetzen. Auf dem gerade veröffentlichten Korruptionsindex von Transparency International hat Afghanistan zwar den weltweit letzten Platz verlassen, aber eben nur gerade (jetzt 172 unter 175 Ländern). Weiterhin will Ghani die Supreme Audit Agency reformieren, eine nationale Beschaffungsbehörde zum Management aller Verträge größeren Umfangs schaffen und die Aufgaben der Ministerien auf „Strategien, Policy und Monitoring” beschränken sowie die Umsetzung physischer Aufbauvorhaben in eine nationale Aufbauagentur auslagern. Die beiden letzteren Pläne laufen auf eine Schwächung der Ministerien hinaus, deren Bürokratie in ihrer Mehrzahl korrupt oder ineffektiv (oder beides) sind. Allerdings könnten so auch Parallelinstitutionen entstehen, die sich der Kontrolle durch das Parlament und andere gewählte Gremien entziehen könnten.

Ghanis später Auftritt hatte auch den Vorteil, dass er ein hochrangigeres Publikum vorfand. Am Vormittag, zur Eröffnung, waren viele wichtige Minister der Geberländer noch in Basel, wo ein OSZE-Treffen zum (offenbar wichtigeren) Thema Ukraine stattfand – ein weiteres Zeichen, dass Afghanistan kein Spitzenthema mehr ist. (Deutschland war in London überhaupt nicht auf Ministerebene vertreten.)

Eigentlich sollten Ghani und Abdullah mit den ersten neuen Ministern nach Europa kommen, als Zeichen, dass ihr Reformprogramm nicht nur auf dem Papier steht. Ghani hatte versprochen, dass es im Kabinett nur neue Gesichter geben werde. Aber das ist gescheitert, die Regierungsbildung verzögert sich weiter. Viele politische Verbündete Ghanis und Abdullahs, die von der Korruption unter Karsai profitiert hatten, drängen in wichtige Ämter, stemmen sich aber gegen Änderungen. Andererseits hat Ghani schon erste Zeichen gesetzt: Sein neuer Kabinettschef, ein mächtiges Amt, ist Abdul Salam Rahimi, ein integrer Medienunternehmer und Verfechter der Pressefreiheit. Angesehene Nichtregierungsaktivisten und Menschenrechtler sind für sensible Ämter wie des Bergbauministers und Generalstaatsanwalts im Gespräch. Wegen der Verspätung der Regierungsbildung als Resultat des langen Wahlprozesses musste auch die in London vorgesehene Bewertung der ersten Monate der neuen Regierung – auf der Basis des 2012 in Tokio beschlossenen (und von Karzai immer wieder unterlaufenen) Tokyo Mutual Accountability Framework – jedoch auf Sommer 2015 verschoben werden. Dann soll eine neue internationale Ministerkonferenz zu Afghanistan stattfinden.

Die Verzögerung führte auch zu Bedenken über die Verfassungsmäßigkeit des geschäftsführend weiter amtierenden Karzai-Kabinetts. Einige Parlamentarier sind der Auffassung, das Gesetz verbiete, dass Minister länger als zwei Monate ohne Parlamentsvotum amtieren dürfen; die Gesetzeslage ist jedoch, wie so oft, uneindeutig. Doch Ghani zog vorsichtshalber die Reißleine und bestimmte, noch vor seiner Abreise, am 1. Dezember per Dekret die höchstrangigen Vizeminister zu amtierenden Ressortchefs. Damit sind mächtige Minister wie Bismillah (Verteidigung), Omar Daudzai (Inneres) und Faruq Wardak (Erziehung) erst einmal aus dem Rennen; Daudzai nutze seine Entlassung gleich zu einer öffentlichen Kritik an Ghanis Pakistan-Politik. Allerdings gibt es auch hier wieder Ausnahmen: Ghani beließ wichtige Mitglieder seiner Europareisegruppe vorläufig im Amt. Dazu gehören der nicht sehr kompetente Außenminister Zarar Moqbel Osmani (Gerüchten zufolge maßregelte Ghani ihn vor seiner China-Reise, nachdem Moqbel sich nicht zu einem Stehgreif-Briefing über die Politik des Ziellandes in der Lage gesehen hatte), die blasse Frauenministerin Husn Banu Ghazanfar sowie den umstrittenen und von Korruptionsvorwürfen belasteten Finanzminister Omar Zakhilwal.

Muhammad Omar Safi, neuer Provinzgouverneur on Kunduz. Foto: Pajhwok News Agency.

Muhammad Omar Safi, neuer Provinzgouverneur on Kunduz. Foto: Pajhwok News Agency.

 

Schließlich hat Ghani begonnen, die zivilen und militärischen Behörden in fünf besonders unsicheren Provinzen auszutauschen: Helmand, Kunduz (hier und hier), Ghazni, Badghis und Nangrahar. Darunter ist der ehemalige Bundeswehrstandort Kunduz, der schon einen neuen Gouverneur erhielt. Zudem löste er nach der jüngsten Gewaltwelle in Kabul mit zwölf Selbstmordanschlägen in drei Wochen auch dort den Polizeichef ab.

Abdul Rahman Rahimi, neuer Kabuler Polizeichef. Foto: Pajhwok.

Abdul Rahman Rahimi, neuer Kabuler Polizeichef. Foto: Pajhwok.

 

Letzte Station auf Ghanis Reise wird heute Deutschland sein, nach den USA und Japan drittgrößter bilateraler Geber für sein Land, das in den letzten Monaten mehrmals vor der Zahlungsunfähigkeit stand. Im Dezember steht auch die Bundestagsabstimmung zum Mandat der neuen NATO-Militärmission Resolute Support an.

 

Mehr zur Londoner Konferenz hier (in Englisch) und eine deutsche Zusammenfassung in dieser Übersicht.