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Drei Tage lang – von Freitag bis Sonntag (3.-5.5.2024) – haben Einwohner zweier Distrikte in Afghanistans nordöstlichster Provinz Badachschan gegen Taleban-Übergriffe während der Zerstörung illegaler Opiummohnfelder demonstriert. Es kam zu Zusammenstößen, bei denen lokalen Quellen zufolge mindestens zwei Menschen getötet und weitere verletzt wurden. [Aktualisierung 7.5.2024: Taleban-Sprecher Sabihullah Mudschahed bestätigte die beiden Todesfälle.]

Die Proteste ereigneten sich in den Distrikten Darajim und Argo. Beide Distrikte liegen nahe der Provinzhauptstadt Faisabad und wurden 2005 administrativ von diesem Distrikt abgetrennt.

Videos und Fotos in Medienberichten und in den sozialen Medien zeigten hunderte Teilnehmer (Frauen waren offensichtlich nicht darunter). Die Proteste waren die am längsten anhaltenden und größten seit der erneuten Taleban-Machtübernahme im August 2024. Dabei kommen in Badachschan auch latente ethnische Spannungen zum Ausdruck.

Am Montag (6.5.2024) schien sich die Lage – zumindest zeitweilig – beruhigt zu haben, nachdem die Taleban-Regierung eine Untersuchungskommission eingesetzt und nach Badachschan entsandt hatte. Nach letzten Meldungen von gestern (6.5.) abend sollen die Verhandlungen bisher aber ergebnislos geblieben sein. Neben der Auslieferung des/der Täter verlangen die Protestierenden eine Entschädigung in Höhe der Hälfte der Kosten, die sie für ihre zu zerstörenden Mohnfelder aufgewendet hätten, und dass Taleban aus Badachschan, und nicht Paschtunen, die Felder zerstören. Die Taleban beharren dem Bericht zufolge darauf, dass die Verantwortung für die Zerstörung der verbleibenden Opiummohnfelder bei den Einheimischen liege.

Aktualisierung 7.5.2024, 15:30 Uhr:

[Inzwischen sollen die Verhandlungen zwischen Taleban und Vertretern der Protestierenden zu einer Einigung geführt haben, berichtet jedenfalls heute (7.5.) die afghanische Online-Nachrichtenseite Taand. Dort heißt es, beide Seiten hätten „gegenseitig“ ihre Bedingungen angenommen. Konkret wird aber nur berichtet, dass man sich laut Taleban-Innenministerium „mit örtlichen Stammesführern und Weißbärten“ darauf geeinigt habe, „die zur Zerstörung von Mohnfeldern in die Distrikte Argo und Darajim entsandten [Taleban-]Truppen abzuziehen und stattdessen aus Badachschan stammenden Taleban diese Aufgabe zu übertragen.“ Zu anderen Bedingungen – Auslieferung oder Bestrafung derjenigen, die die beiden Protestierenden erschossen, wurde nichts bekannt. Eine offizielle oder inoffizielle (von anderer Seite) Bestätigung habe ich noch nicht gefunden.]

Protest gegen Taleban-Übergriffe in Badachschan (genauer Ort unklar). Foto: Amu TV.


Die Taleban waren bereits im Februar in der Ostprovinz Nangrahar und seit Mitte April in mehreren Distrikten Badachschans gegen trotz allgemeinen Verbots weiter betriebenen Opiummohnanbau vorgegangen. Es kam zu Verhaftungen; die meisten Verhafteten waren auf Betreiben von Dorfältesten wieder freigelassen worden – gegen die Versicherung, keinen Mohn mehr anzubauen.

Ablauf der Ereignisse

Die nachfolgenden Informationen dazu stammen zumeist von oppositionellen afghanischen Exilmedien, die sich auf lokale Quellen berufen. Die Taleban bestätigten die Proteste indirekt, in dem sie mitteilten, die besagte Untersuchungskommission in das Gebiet entsandt zu haben.

Die Proteste begannen demzufolge offenbar am 3. Mai. Ausgelöst wurden sie durch „eine Konfrontation“ im Dorf Qarluq in Darajim, als laut dem afghanischen Exilsender Amu TV Taleban-Sicherheitskräfte auf Dorfbewohner schossen, die sich der Zerstörung ihrer Mohnfelder widersetzten. Diese wehrten sich mit Steinen und Stöcken, berichtete Radio Azadi – der Afghanistan-Ableger des US-Senders Radio Free Europe/Radio Liberty – unter Berufung auf einen Augenzeugen. Laut AFP beschuldigten die Taleban die Protestierenden, sie hätten sogar versucht, Fahrzeuge ihrer Einheit in Brand zu setzen. Dabei sei ein älterer Mann namens Nisamuddin Bey getötet und weitere verletzt worden, so Amu TV. Radio Azadi sprach von drei Verletzten dort. Bei Nisamuddin habe es sich um einen älteren (afghanischen) Usbeken gehandelt.

Die Proteste hätten sich am Folgetag auf mehrere Dörfer in Argu ausgeweitet, so Amu TV weiter. Auch dort hätten die Taleban Schusswaffen eingesetzt und dabei einen anderen Menschen getötet und „mehrere“ verletzt. Laut Radio Azadi handele es sich bei dem Getöteten um einen 22-Jährigen. Den Namen des Toten gab Amu TV später mit Abdul Basit an. Die Online-Exilzeitung Ettelaat-e Rus sprach von fünf Verletzten in Argu. Sie berichtete auch, dass es sich bei den Taleban um deren „Anti-Drogen-Einheit“ – offenbar der Polizei – gehandelt habe.

Proteste fanden auch vor dem Verwaltungssitz des Distrikts Argu statt, wo laut Amu TV „Anti-Taleban-Slogans gerufen“ wurden.

Hascht-e Sobh, einer weiteren Online-Exilzeitung, zufolge seien die Proteste von der „Grausamkeit und der Verletzung der Privatsphäre“ von Protestierenden ausgelöst worden. Sie spricht von insgesamt 15 Verletzten.

Ähnlich berichtet auch Radio Azadi, einen Augenzeugen aus Darajim zitierend: Die Menschen würden „wegen des Opiums” geschlagen. Die Taleban seien “ohne Erlaubnis und mit Gewalt und Schlägen in die Häuser und Felder der Bauern” eingedrungen und zerstörten dabei “Mauern [von Grundstücke]. Laut der Online-Nachrichtenagentur Khaama seien dabei auch Frauen belästigt worden und laut Kabul Now ethnisch motivierte Beleidigungen gefallen. Zudem seien Felder mit anderen Kulturen zerstört worden. Dies sei “ein Ausdruck der Zerstörung unserer Würde und Ehre.” Radio Azadi spricht wie Amu TV von Anti-Taleban-Parolen, zitiert aber den ersten Augenzeuge mit den Worten: „Wir sprechen nicht gegen das System. Wir haben uns gegen grausame Menschen gestellt, die unsere Ehre und Würde zerstört haben.“

Der Persisch-Dienst der BBC berichtete, aus einem der Videos würde klar, dass die Anklagen wegen der Übergriffe von einem örtlichen Geistlichen stammten.

Talebanbehörden in Badachschan erklärten gegenüber Radio Azadi, die Protestierenden hätten ihre Kräfte mit Steinen beworfen und diese hätten sich mit den Schüssen gewehrt. Der Sprecher ihres Innenministeriums wies die Vorwürfe über gewaltsames Eindringen zurück.

Reaktion der Taleban

Laut Radio Azadi seien nach den Protesten sechs Abgeordnete aus Darajim zu Verhandlungen mit den Taleban ins Distriktzentrum gegangen. Örtliche Quellen hätten erklärt, sie seien „in Gewahrsam“ und ihr Schicksal sei „unbekannt“. Es wurde auch behauptet, die Taleban hätten sie als Geiseln festgesetzt. Die Taleban dementierten gegenüber dem Sender eine Festnahme.

Die Talebanführung reagierte mit einer Mischung aus Verhandlungsbereitschaft und Drohungen. Sie benannte unterdessen eine Delegation, die nach Badachschan reisen und die Vorgänge untersuchen soll. Sie wird der afghanischen Nachrichtenagentur Ariana zufolge vom Stabschef der Taleban-Armee, Qari Fasihuddin Fetrat, geleitet. Fetrat ist einer der wenigen hochrangigen Tadschiken im Taleban-Regime. Der Delegation gehörten außerdem Schamsuddin Schariati, Chef der einflussreichen Kommission zur Überwachung der Umsetzung der Direktiven der Taleban-Führung; Mulla Abdul Haq, Vizeminister für Drogenkontrolle; Mulla Rahmatullah Nadschib, Vizechef des Geheimdienstes; und Abdul Momin, Vorsitzender des Rates der Geistlichkeit von Badachschan an. Laut Amu TV ist auch Schariati ein Tadschike und stammt aus dem Distrikt Keschm in Badachschan.

Die Taleban-Delegation sei wegen widriger Wetterumstände am Sonntag noch nicht vorort eingetroffen. Einem afghanischen Analysten zufolge saß die Anti-Drogen-Einheit der Polizei in den Distriktverwaltungsgebäude von Darajim und Argu fest und konnte sie nicht verlassen. Eine Taleban-Militäreinheit sei in die Divisionsbasis in Badachschans Provinzhauptstadt Faisabad verlegt worden. Fitrat habe in einer Audiobotschaft an die Protestierenden gefordert, die Proteste einzustellen. Bei einer weiteren Eskalation würden die verlegten Militäreinheiten sie niederschlagen. (Die Echtheit dieser Botschaft war dem Analysten zufolge aber nicht verifiziert.) [Aktualisierung: Am 7.5. berichtete Hascht-e Sobh nachträglich, dass die Protestierenden es zunächst abgelehnt hätten, mit Muhammad Amin Tajjeb, dem Taleban-Vizeprovinzgouverneur Badachschan zu verhandeln, der nach Darajim und Argo gekommen sei, um die Vorfälle zu untersuchen und die Forderungen der Protestierenden anzuhören.]

In Argu hätten die Protestierenden inzwischen eine Resolution verlesen, so Amu TV am 5. Mai. Darin forderten sie demzufolge, dass ihnen die Verantwortlichen für den Tod der beiden Protestierenden übergeben und jene Taleban, die die örtlichen Sprachen nicht sprechen, abgezogen würden. Ein Protestteilnehmer aus Argo habe erklärt: “Diejenigen, die aus anderen Provinzen gekommen sind, die wir aufgrund der Sprachunterschiede nicht ganz verstehen und die in unsere Häuser eingedrungen sind, die wollen wir hier nicht mehr haben.” Laut einer anderen Quelle wird gefordert, die Taleban sollten “in diesem Distrikt Personen [als Autorität] ernennen, die die Sprache des Volkes verstehen und seine Kultur respektieren.” Sollten die Taliban dieser Forderung nicht nachkommen, würden sie Proteste fortgesetzt.

[Aktualisierung: Am 7.5. berichtete Hascht-e Sobh, dass Taleban-Kämpfer „mit Gewalt“ 38 Protestierende nach Faisabad gebracht hätten, damit sie mit Fetrat sprechen.]

Beide Distrikte werden überwiegend von Tadschiken bewohnt; die Taleban sind überwiegend Paschtunen (mehr dazu weiter unten).

Am Montag (6.5.) erklärte Taleban-Sprecher Sabihullah Mudschahed in Kabul der pakistanischen Tageszeitung Dawn zufolge, dass die Delegation in Badachschan eingetroffen und die Lage dort “unter Kontrolle” sei. Fetrat habe den Opferfamilien inzwischen finanzielle Entschädigung angeboten.

Drogenverbot, aber Ausnahme Badachschan

Die Taleban hatten im April 2022 per Dekret von Talebanchef Maulawi Hebatullah Achundsada den Anbau von Opiummohn „im ganzen Land strikt verboten”. Das gelte auch für „die Verwendung, den Transport, Handel, Export und Import aller Arten berauschender Substanzen wie Alkohol, Heroin, Crystal Meth, K-Tabletten, Haschisch“ und Fabriken zur Drogenherstellung. Zuwiderhandlung würde nach islamischem Recht bestraft. Das Verbot zogen sie auch tatsächlich durch (siehe meine Bericht damals, hier, hier und hier).

Auch damals schickten die Taleban Bewaffnete gegen Bauern, die ­­zunächst Widerstand leisteten, aber nachgaben, als die Taleban einige Pflanzer töteten (siehe auch hier).

Allerdings gab es eine inoffizielle zeitweilige Ausnahme bei der Umsetzung des Verbots: Badachschan. David Mansfield, einer der führenden Drogenexperten zu Afghanistan, berichtete damals, dort habe es „kaum Anstrengungen“ gegeben, „die Pflanzung überhaupt zu verhindern“, und der Anbau „möglicherweise sogar zugenommen.“ Mansfield erklärt das mit möglicherweise sozial-ökonomischen Erwägungen der Taleban: In Badachschan gebe es nicht dieselben „wirtschaftlichen Vorteile“ wie ausgedehntes bewässerte Land wie im Süden und Südwesten Afghanistans, wo die Opiumbauern Opiumvorräte anlegen und mit ihner Hilfe finanziell die erste Zeit nach dem Verbot überbrücken konnten. Im Osten (Nangrahar) und Nordosten (Badachschan) sei es hingegen „schwierig, einen Bauern zu finden, der mehr als einen Hektar Land bewirtschaftet“ – und Mohn sei dabei meist nur ein Teil. Er verwies auch darauf, dass es bereits im Mai 2023 in Darajim „gewaltsamen Widerstand“ gab (ein Medienbericht hier), „der die Behörden dazu veranlasste, ihre ohnehin begrenzten Ausrottungsbemühungen in der Provinz einzuschränken.“

Dabei spielten offenbar auch ethno-politische Erwägungen eine Rolle: Den Taleban ist bewusst, dass ihre Kontrolle über Badachschan – das während ihrer ersten Herrschaft 1996-2001 weitgehend außerhalb ihrer Kontrolle geblieben war – nicht gefestigt ist, Teile der Bevölkerung mit anderen politischen Kräften sympathisieren und es Potenzial für Widerstand gibt, der sich auch entlang ethnischer Grenzen manifestieren könnte.

In Badachschan existieren latente ethnische Spannungen zwischen der lokalen Bevölkerung und den dort stationierten Taleban-Kämpfern als auch in den Reihen der Taleban. (Es gibt auch latente ethnische Spannungen innerhalb der örtlichen Bevölkerung.) Die Tadschiken fühlen sich – ähnlich wie Hasara oder Usbeken – in der zentralen wie örtlichen Führung der Taleban unterrepräsentiert.

Nach Angaben der afghanischen Statistikbehörde NSIA vom April 2021 (siehe Tabelle hier) wird der Distrikt Argo mit seinen 101 Dörfern und knapp 90.000 Einwohner*innen ausschließlich von (afghanischen) Tadschiken bewohnt, in Darajim mit 145 Dörfern und knapp 70.000 Einwohner*innen gibt es neben ihnen noch eine Minderheit von Turkmenen. In jetzigen Medienberichten ist auch von Usbeken die Rede.

Jetzt allerdings wollen die Taleban das Verbot auch in Badachschan durchsetzen. Taleban-Sprecher Mudschahed machte laut Ariana klar, dass das Opiumverbot „ausnahmslos für alle Regionen des Landes“ gelte. Fetrat bekräftigte, dass nichts die Taleban von diesem Ziel abhalten könne, den Mohnanbau in Afghanistan auzumerzen. Er habe die örtlichen Beamten in Badachschan aufgefordert, seine Botschaft über die Lautsprecher der Moscheen zu verbreiten oder Versammlungen zu organisieren, um die Botschaft den Menschen in den betroffenen Bezirken zu übermitteln.

Die lokalen Behörden in Badachschan betonten, die Bauern seien bereits „vor Monaten“ informiert worden, kein Mohn mehr anzubauen.

Soziale und wirtschaftliche Folgen des Verbots

Die Weltbank teilte jüngst in einem Bericht mit, dass das Opiumanbauverbot das Einkommen der afghanischen Bauern insgesamt um 1,3 Mrd US-Dollar vermindere. Das entspreche 8 Prozent des Bruttoinlandprodukts, das sich über die vergangenen zwei Jahre um 26 Prozent vermindert habe.

Schlussfolgerung

Bei den Protesten in Badachschan geht es vor allem um einen sozio-ökonomischen Aspekt der Taleban-Politik, d.h. das Verbot des Opiummohnanbaus bzw. Übergriffen bei dessen Umsetzung. Dahinter können sich andere – ethnische/politische – Konflikte verbergen, die die örtliche Bevölkerung nicht offen artikulieren kann. Eine generelle Ablehnung der Taleban-Herrschaft in der sehr religiös-konservativen Provinz lässt sich daraus nicht ableiten, wie es verschiedene oppositionelle Exilkräfte derzeit versuchen, die u.a. von einem „Aufstand gegen die Taleban“ und dem „Anfang des Endes“ von deren Regime sprechen (siehe z.B. hier und hier). Die örtliche Bevölkerung sei auch nicht grundsätzlich gegen die Beseitigung des Opiumanbaus.

Tödliche Blüten: Opiummohmfeld in der Provinz Paktia. Quelle: US-PRT Gardez.
Opiummohnfeld in der Provinz Paktia. Quelle: US-PRT Gardez.