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Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hat kürzlich die Broschüre „Am Hindukusch – und weiter? Die Bundeswehr im Auslandseinsatz: Erfahrungen, Bilanzen, Ausblicke“, hrsg. von (General) Rainer L. Glatz und Rolf Tophoven veröffentlicht. Nach vielen Einzelveröffentlichungen zu Afghanistan liegt damit erstmalig ein Sammelband vor, der aus den verschiedenen Perspektiven von zwanzig Praktikern, Verantwortlichen aller Ebenen und engen Begleitern eine erfahrungsreiche und (selbst)kritische Bilanzierung des Einsatzes leistet, schreibt Winfried Nachtwei, ex-MdB der Grünen, der selber einer der Autoren ist.

Im Kontext mit den jüngsten Kämpfen in Kunduz, dem ehemaligen Hauptstandort der Bundeswehr in Afghanistan, veröffentlichte ich hier auszugsweise seinen Beitrag – „Die Politik und Afghanistan: persönliche Bilanz und Ausblick eines politischen Auftraggebers“ – mit Genehmigung des Autors. Ich habe ihn um den Teil „Ausblick“ gekürzt, weil es hier um den Ursachenforschung für die – teilweise erfolgreiche – Taleban-Offensive in Kunduz geht. Kürzungen sind durch […] gekennzeichnet.

A Kunduz graffiti. Foto: Thomas Ruttig (2007).

A Kunduz graffiti. Foto: Thomas Ruttig (2007).

 

Die Politik und Afghanistan: Persönliche Bilanz […] eines parlamentarischen Mitauftraggebers

Noch nie zuvor war ein Parlament in Deutschland maßgeblich an einem so intensiven Einsatz seiner bewaffneten Streitkräfte beteiligt wie im Fall des Afghanistaneinsatzes. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 müssen Einsätze bewaffneter Streitkräfte vom Bundestag genehmigt werden. Als Mitglied des Bundestages und des Verteidigungsausschusses war ich von 1994 bis 2009 an 70 Entscheidungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr in insgesamt 13 Krisengebieten (davon 20 zu Afghanistan) sowie an der parlamentarischen Einsatzkontrolle beteiligt. Ich trage somit politische Mitverantwortung für die von mit mitgetragenen Einsätze und für die entsandten Frauen und Männer. Mein Beitrag soll auch ein Beitrag zu kritischen parlamentarischen Selbstüberprüfung sein.

[…]

 

Startphase des AFG-Einsatzes

Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 war die Lage extrem ungewiss. Verantwortliche befürchteten weitere Anschläge mit unabsehbaren Folgen. Erstmalig sahen wir mitregierende Grüne uns in Mitverantwortung für den Schutz der eigenen Bürger und der offenen Gesellschaft vor entgrenzter, terroristischer Gewalt.

Unausweichlich erschien uns der Solidaritätsdruck gegenüber den angegriffenen USA, der sich vor allem in der Teilnahme an der US-geführten Antiterror Operation Enduring Freedom (OEF) niederschlug. Dass die proklamierte „uneingeschränkte Solidarität“ realiter nur zurückhaltend umgesetzt wurde (bis 100 Spezialsoldaten „vorne“ in Afghanistan, ansonsten überwiegend Unterstützungskräfte für andere Regionen), minderte nicht die Umstrittenheit der OEF-Entscheidung, die Bundeskanzler Schröder am 16. November 2001 in der rot-grünen Koalition nur mit Hilfe der Vertrauensabstimmung durchsetzen konnte. Somit fehlte diesem Einsatz auf Seiten der Koalition von Anfang an die verlässliche Unterstützung aus Überzeugung. Das innenpolitische Interesse am Koalitionserhalt trug wesentlich zur Billigung des OEF-Einsatzes bei.

Fünf Wochen später sah das bei der Entscheidung über die Bundeswehrbeteiligung an der UN-mandatierten ISAF-Mission für Kabul erheblich anders aus: Sie war wenig kontrovers und geschah binnen zwei Tagen mit relativ wenig Beratungsaufwand. Externe Sachverständige hatten zuvor in Beratungsgesprächen vor Machbarkeitsillusionen gewarnt, zu bescheidenen Erwartungen und Zielen gemahnt, aber auch „einen der bisher schwierigsten Friedenseinsätze“ in Aussicht gestellt, bei dem es „einen ´quick fix` noch weniger als auf dem Balkan geben“ werde.[1] Solche weitsichtige Stimmen drangen nur wenig durch. In der Öffentlichkeit dominierte die Militärfrage, die Legitimität und Einhegung eigener militärischer Gewalt, die Begrenzung von Eskalationsrisiken. Eine geringe Rolle spielte demgegenüber eine genaue Konfliktanalyse, die Frage des bestmöglichen Schutzes vor terroristischen Anschlägen, die Wirksamkeitsorientierung. Wenig Aufmerksamkeit fand der Begleitbeschluss der Koalition zur OEF-Entscheidung, in dem die politischen Komponenten einer umfassenden Terrorbekämpfung betont und faktisch eine Distanzierung vom reinen Antiterrorkrieg formuliert wurden.[2]

Die anfängliche Afghanistan-Wahrnehmung war ambivalent: Grundsätzlich bewusst war, dass mit Großbritannien und der Sowjetunion mächtige Interventen verheerend in Afghanistan gescheitert waren. Die Konsequenz war: Vorsicht, Betonung von Unterstützungsansatz und light footprint. Zugleich gab es in der deutschen Politik über ein UN-Pflichtbewusstsein hinaus wenig eigenes Interesse an Afghanistan. Außenminister Fischer sprach von einem UN-Mandat über maximal zwei Jahre. Es bestehe nicht die Absicht, wie im Kosovo länger zu bleiben. Deutschlands Schwerpunkte seien Bildung, Erziehung, Frauen.[3] Angesprochen, aber kaum beherzigt, wurden die Empfehlungen des UN-Brahimi-Reports zu Friedensmissionen aus dem Jahr 2000.[4]

Im ersten Einsatzjahr bestätigten sich die anfänglichen Warnungen und Befürchtungen nicht. Deutschland geriet nicht in einen Afghanistan-Krieg. Wer bei ersten Kabul-Reisen Aufbaumaßnahmen wie den zügigen Aufbau der Polizeiakademie und die sehr freundlichen Reaktionen der Bevölkerungen erlebte, nahm das als Hoffnungszeichen – und konnte einer falschen Beruhigung verfallen. Ein Bewusstsein des faktischen Strategiemangels bestand kaum. Dass die Bundesregierung erst am 1. September 2003 ihr erstes Afghanistan-Konzept vorlegte, wurde nicht weiter bemängelt. Als das Deutsch-Niederländische Korps aus Münster von Februar bis August 2003 ISAF mit 5.370 Soldaten aus 29 Nationen führte, waren die USA und Großbritannien praktisch nicht dabei. Unter der Bush-Administration hatte der Irakkrieg Vorrang. Dass sich diese strategischen Dissense und Mängel später bitter rächen würden, war auch mir nicht bewusst.

 

Wetterleuchten im Jahr 2006: Stabilisierung auf der Kippe?

Das fünfte Jahr des internationalen Afghanistaneinsatzes brachte beunruhigende Entwicklungen: Mit der Süd-Erweiterung von ISAF gerieten britische und kanadische Truppen in den Provinzen Helmand und Kandahar in einen intensiven Guerilla- und Terrorkrieg, der für die Briten bis zu ihrem Rückzug im Jahr 2014 andauerte.[5]

Im deutschen Verantwortungsbereich im Norden wirkten Provincial Reconstruction Teams (PRT) von ISAF bisher erfolgreich als „Puffermacht“ in einem konfliktreichen Umfeld lokaler Machthaber und Waffenträger. Sie sollten „Zeit kaufen“ für die Förderung von Staatlichkeit und selbsttragender Sicherheit, für Aufbau und Entwicklung. Bei einem Besuch in Mazar-e Sharif im Juli 2006 warnten jedoch hohe Bundeswehroffiziere eindringlich vor einer Verschärfung der Sicherheitslage. In Kabul war zu erfahren, dass Deutschland seine Führungsrolle beim Polizeiaufbau mit 40 Beamten und 12 Mio. Euro wahrnahm. Die USA hingegen stockten ihre Polizeihilfe in 2006 von 200 Mio. auf 1,6 Mrd. US-$ und 600 Berater auf.

Aus verschiedenen Studien[6] und aus Berichten von deutschen Soldaten und Zivilisten in Afghanistan verdichtete sich der Eindruck, dass die Art und Weise der Operationsführung von OEF und des Auftretens von Soldaten bestimmter Verbündeter nicht unwesentlich zum Anwachsen der Militanten beitrugen. Wiederholte Forderungen aus der Opposition an die Bundesregierung, die deutsche Stabilisierungs- und Aufbauunterstützung wie auch OEF kritisch zu überprüfen und zu bilanzieren, verhallten ungehört.[7] Die Forderung nach einem regelmäßigen Afghanistan-Report erfüllte sich erst ab Dezember 2010 mit dem halbjährlichen „Fortschrittsbericht Afghanistan“ der Bundesregierung. Angesichts der in meinen Augen unzureichenden Unterrichtungen der Bundesregierung zur Sicherheits- und Aufbaulage veröffentlichte ich ab Sommer 2007 „Materialien zur Sicherheitslage Afghanistans“ sowie „Better News statt Bad News aus Afghanistan“.[8]

Als im Jahr 2006 überraschend zwei neue, zunächst sehr umstrittene Einsätze – in der Demokratischen Republik Kongo zur Absicherung der Wahlen und die Marinekomponente der neuen UN Interim Force in Lebanon (UNIFIL) nach dem Libanonkrieg – auf die Agenda deutscher und europäischer Sicherheitspolitik kamen, minderte das die Aufmerksamkeit für den Afghanistaneinsatz und die dort aufziehenden Gewitterwolken.

[…]

 

Früh vertane Chancen

Wie konnte es zum Wegrutschen des internationalen Afghanistaneinsatzes kommen, der als Stabilisierungsunterstützung hoffnungsvoll begonnen hatte, ab 2006/2008 aber zu kriegerischer Aufstandsbekämpfung eskalierte?

Kaum bewusst war in New York, Brüssel, Washington, Berlin und anderen Hauptstädten, dass man sich in Afghanistan auf das größte und komplexeste Projekt internationaler Friedenskonsolidierung und Terrorbekämpfung eingelassen hatte – in einem Land, das von 23 Jahren Krieg verheert war. Viel zu wenig und zu spät wurde erkannt, dass schwere strategische Fehler von vorneherein viele richtig Absichten konterkarierten:

– Die Internationale Gemeinschaft agierte auf der Basis allgemein gehaltener UN-Mandate ohne gemeinsame Strategie, ja mit konträren strategischen Ansätzen. Der strategische Dissens zwischen Gegnerfokussierung, Statebuilding-Verachtung, Vorrang des Irak-Krieges auf Seiten der Bush-Administration und eher Bevölkerungsorientierung, Statebuilding-Unterstützung auf Seiten der UN, Bundesrepublik und anderer wurde über Jahre auf der politischen Ebene des Bündnisses nicht ausgetragen. Viel zu lange vernachlässigt wurde die regionale Dimension, insbesondere die Rolle Pakistans als „sicherer Hafen“ und Förderer der Aufständischen in Afghanistan.

– Die Gruppe der „Peacebuilder-Nationen“ vermied wohl die Großfehler des größten Verbündeten, der bei seinem entgrenzten Antiterrorkrieg millionenfach Köpfe und Herzen beleidigte und verlor. Die selbst verantworten Fehler waren aber schlimm genug. Es dominierte die naive Einstellung, mit „Billig-Peacekeeping und -Statebuilding“ Afghanistan von Kabul aus binnen weniger Jahre stabilisieren zu können. Überhöhten Erwartungen stand eine extreme Unterausstattung vor allem der Aufbauinvestitionen und –kapazitäten gegenüber. Exemplarisch zeigte sich das in der personellen Unterausstattung der deutsche Führungsrolle beim Polizeiaufbau oder der lange Zeit äußerst mageren operativen Komponente des Auswärtige Amtes im Norden, dessen wenige Vertreter mit der Unterstützung von Staatsaufbau in den Provinzen völlig überfordert waren. Noch im September 2009 bestand die Position des Political Adviser beim ISAF Regional Commander North, dem politischen Ansprechpartner für neun Gouverneure, aus einer Person, ohne Vertreter und Mitarbeiter; bei Heimaturlaub war seine Stelle vakant. (ab 2010 Senior Civilian Representative) Die deutsche Botschaft in Kabul verfügte über drei Referenten des Höheren Dienstes und sollte damit laut Ressortzuständigkeit die Federführung des AA für den ganzen AFG-Einsatz umsetzen. (Die britische Botschaft mit ihren ca. 800 Angehörigen hatte allein drei Referenten für afghanische Innenpolitik.)

Die von führenden Militärs genannte Faustformel, dass 80% eines Einsatzerfolges an den politischen und zivilen Anstrengungen hänge, wurde beim Afghanistaneinsatz über Jahre ignoriert. Für die Medien, die schnell über Mängelanzeigen des Wehrbeauftragten berichten, war diese zivile Schwäche fast nie ein Thema.

Die grundsätzlich notwendige Vernetzung der staatlichen Akteure („vernetzte Sicherheit“) litt in der Realität unter einem Mangel an ressortgemeinsamer Planung, Vorbereitung, Führung und Auswertung des Gesamtengagements. Auf internationaler Ebene potenzierte sich die Inkohärenz des Engagements zwischen NATO, UN Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und UN-Sonderorganisationen, zwischen Geberstaaten, internationalen Organisationen, Nichtregierungs- und Hilfsorganisationen und ihren jeweiligen Zielen, Interessen, Vorbehalten, verschiedenen entwicklungspolitischen und PRT-Ansätzen. Die forcierte Aufbauhilfe für die afghanische Polizei begann von deutscher Seite erst 2008.

– Fixiert auf Zentralstaatlichkeit wurde zu lange der Primat des Lokalen in diesem fragmentierten Land ignoriert. Der sinnvolle Ansatz des von Deutschland seit 2003 unterstützten Tribal Liaison Office war eine positive Ausnahme von einer anderen Regel.

Die frühen Kumpaneien von Verbündeten mit alten Warlords öffneten diesen die Türen zu Einfluss, Macht und Pfründen – auf Kosten innerafghanischer Reformkräfte und der Legitimität der neuen afghanischen „Demokratie“ insgesamt.

– Die Startfehler konnten sich so lang halten, weil sich Deutschland wie die meisten anderen Staaten im Multilateralismus versteckten. Jeder leistete seinen Beitrag – die Bundesrepublik mit besonderer Verlässlichkeit – und kümmerte sich in nationaler Nabelschau fast nur um ihn. Kaum einer nahm die Erfahrungen anderer Verbündeter wie der Briten in Helmand und der Niederländer in Uruzgan auf, machte sich Gedanken um eine tragfähige gemeinsame Strategie. Hinzu kamen Mechanismen und Mentalitäten von Schönrednerei, die zusammen mit dem Primat innenpolitischer Interessen in Berlin und anderen Hauptstädten eine unheilige Allianz bildeten. Das Ergebnis waren strukturelle Unehrlichkeit, Selbsttäuschung und Realitätsverlust. In Erinnerung sind mir wiederholte Erklärungen bei Besuchen in Kabul, man stehe noch vor erheblichen Herausforderungen, sei aber auf einem guten Weg – auch zu Zeiten, als der Weg unübersehbar abwärts ging. Bis heute wurde eine systematische und unabhängige Wirksamkeitsanalyse des deutschen Gesamtengagements verweigert.[9] Über unmittelbare Einsatzauswertung hinaus fand institutionalisiertes Lernen nicht statt.

-.Nicht nur in Deutschland tat sich mit der Zeit immer mehr eine Schere auf: Zwischen den Soldaten, aber auch Polizisten und Zivilexperten, die ihre Aufgaben mit höchstem Einsatz – bis zum Einsatz von Leben und Gesundheit – erfüllten, und einem Primat der Politik, die diesen nur halbherzig ausfüllte. Symptomatisch war, dass in Deutschland nie ein Spitzenpolitiker sichtbar für den umfassenden Afghanistaneinsatz stand. Der Knackpunkt des abgedrifteten Einsatzes war ein kollektives politisches Führungsversagen.

– Wo die Parlamentsbeteiligung bei Auslandseinsätzen so weit geht wie in Deutschland, trägt dafür der Bundestag mit seinen Fachausschüssen erhebliche Mitverantwortung. Über die Neigung zur Mikrokontrolle, über zweifellos auch wichtige Ausrüstungsfragen gerieten die strategischen Fragen des Einsatzes, der Kohärenz der staatlichen Akteure und der Unausgewogenheit der Mittel aus dem Blick. Die erste Bundestagsdebatte zur deutschen Polizeiaufbauhilfe Afghanistan fand am 9. November 2007 statt. Wo die weitere deutsche Beteiligung an ISAF aus Bündnisloyalität feststand, trat das Interesse an ungeschminkter Wirksamkeitsanalyse immer wieder hinter dem Primärinteresse an Selbstlegitimation zurück. Zwei Untersuchungsausschüsse des Verteidigungsausschusses (2007/2008 zu Murnat Kurnaz, 2010 zum Luftangriff bei Kunduz am 4. September 2009) banden überdies so viel an Kräften, dass darüber die sorgfältige Einsatzbegleitung zu kurz kam. Nicht die Schlüsselfrage, warum die frühere Hoffnungsprovinz Kunduz so abgestürzt war und wie das zu ändern sei, stand 2009/2010 im Vordergrund, sondern die stark parteipolitisch aufgeladene Frage nach der Informationspolitik der Bundesregierung. Gefangen in ihrer Koalitionsloyalität fanden verschiedene Koalitionsmehrheiten nicht die Kraft, Fehlentwicklungen im Einsatz zu identifizieren und auf Abhilfe zu drängen. Zahlreiche Afghanistandebatten konnten nicht verhindern, dass die anfängliche Zustimmung zum Einsatz in der Bevölkerung im Laufe der Jahre kippte.

Auf das Schicksal der seelisch verwundeten Einsatzsoldaten wurden die Fachpolitiker des Bundestages 2007 erst auf Initiative des Deutschen Bundeswehrverbandes aufmerksam. Seitdem machte sich der Bundestag fraktionsübergreifend und erfolgreich dafür stark, dass der staatliche Dienstherr seiner Fürsorgepflicht gegenüber Verwundeten wie Angehörigen und Hinterbliebenen verlässlich und zügig nachkommt.

[…]

Als stellvertretender Fraktionsvorsitzender von 2002 bis 2005 hatte ich eine Schlüsselrolle bei der Afghanistan-Startentscheidung. Anfangs fürchtete ich, wir könnten in Afghanistan in ein „rot-grünes Vietnam“ geraten. Vor der ersten OEF-Entscheidung erwog ich die Rückgabe des Bundestagsmandats. Jahrelang war der Afghanistaneinsatz insbesondere bei den Grünen heiß umkämpft und für die Befürworter oftmals ein politisch-existenzielles Risiko. Ich konnte diese Auseinandersetzungen nur durchhalten, indem ich mich so intensiv einarbeitete wie in kein anderes Thema, das Land bis heute 17 Mal besuchte und nach der Devise „Genauer Hinsehen“ umfassend und differenziert berichtete und Stellung nahm.[10] Über Begegnungen mit Hunderten von Frauen und Männern im und nach dem Einsatz und in Aufbauprojekten, mit der Teilnahme an fast allen Trauerfeiern für in Afghanistan Gefallene verschob sich meine Afghanistan-Motivation, trat die persönlich-menschliche Verbundenheit und Verpflichtung in den Vordergrund. Rückblickend muss ich feststellen, dass ich mitverantwortlich bin für die unter Rot-Grün gemachten strategischen Fehler der ersten Jahre und mit meinen relativ frühen Kritiken an den Defiziten der deutschen Afghanistanpolitik zu wenig durchdrang und wirkte.

 

[1] Winrich Kühne: Nach dem Petersberg – schwieriger Friedenseinsatz mit Beteiligung der Bundeswehr?, Stiftung Wissenschaft und Politik 3.12.2001

[2] Entschließungsantrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen, Bundestagsdrucksache 14/7513 vom 16.11.2001.

[3] Winfried Nachtwei: 11. September bis 22. Dezember 2001 – Von New York nach Afghanistan aus Berliner Sicht, Persönliche Aufzeichnungen, zusammengestellt im August 2011.

[4]Nach den Erfahrungen mit UN-Missionen (vgl. Brahimi-Report) kommt es entscheidend auf folgende Punkte an: Klares und eindeutiges Mandat, klare Kommandostrukturen, keine Vermischung verschiedener Operationen (abschreckendes Beispiel Somalia);Robustheit von Auftrag und Befugnissen (…), was sich in Umfang und Ausrüstung der Truppe angesichts zu erwartender Risiken niederschlagen muss; ausgewogene zivil-militärische Fähigkeiten (gut ausgebildete und schnell verfügbare Polizeikräfte und zivile Experten; zivil-militärische Kooperation);Zeitfaktor: Die ersten Wochen einer Friedensmission sind entscheidend für ihre Akzeptanz und Autorität. Deshalb kommt es auf den schnellen Einsatz kompetenter Kräfte an. (…) Der Zeithorizont muss realistisch sein! Gerade bei so riskanten und unwägbaren Einsätzen wie einem in Afghanistan müssen Exit-Strategien klar und vereinbart sein: Wann würde die Truppe abgezogen?Winfried Nachtwei: Anforderungen an eine Kabul-Schutztruppe, Beratungspapier 21.12.2001.

[5] Leo Docherty: Desert of Death, London 2007; Mike Martin: An Initimate War, London 2014. Vgl. Rückblende Helmand vor acht Jahren, in: Winfried Nachtwei: Truppen ziehen ab, der Krieg brennt weiter.

[6] The Senlis Council: Field Notes: Afghanistan Insurgency Assessment – The Signs of an escalating Crisis. Insurgency in the Provinces of Helmand, Kandahar und Nangarhar, London April 2006; ders.: Helmand at War: The Changing Nature of the Insurgency in Southern Afghanistan and its Effects on the future of the country, London June 2006

[7] Winfried Nachtwei: Dringende Fragen: Afghanistan auf der Kippe? Stellungnahme Juli 2006; Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei: Schreiben an die Minister Frank-Walter Steinmeier (Auswärtiges), Franz-Josef Jung (Verteidigung), Wieczoreck-Zeul (Entwicklung) und Schäuble (Inneres), 5. September 2006; Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Antrag der Bundesregierung zur weiteren ISAF-Beteiligung vom 27.9.2006, Bundestagsdrucksache 16/2778

[8] Letzte Ausgabe: Sicherheitsvorfälle AFG-Nord und landesweit 2012 (bis Mai).

[9] Winfried Nachtwei: Bilanzierung und Evaluation deutscher Auslandseinsätze, in: Thomas Hoppe (Hg.): Verantwortung zu schützen. Interventionspolitik seit 1990 – eine friedensethische Bilanz – Analysen und Empfehlungen, vorgelegt von der Arbeitsgruppe Gerechter Friede der Deutschen Kommission Justitia et Pax, Berlin 2014

[10] 16 Reiseberichte, 27 Beratungspapiere, meistens veröffentlicht hier.