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Der folgende Artikel ist die stark erweiterte Version eines Artikels, der morgen in der taz stehen wird.

Taleban-Flagge an der Traffic-Kreuzung von Kunduz am 29.9. Foto: über: @AhMukhtar auf Twitter

Taleban-Flagge an der Traffic-Kreuzung von Kunduz am 29.9. Foto über: @AhMukhtar auf Twitter

 

Bei einem US-Bombenangriff sind Samstagnacht kurz nach 2 Uhr zwölf Mitarbeiter sowie zehn Patienten einer Klinik in der umkämpften nordafghanischen Provinzhauptstadt Kunduz getötet worden; 37 weitere Menschen wurden dabei verletzt. Mehrere Patienten – darunter drei Kinder – verbrannten in ihren Betten, da sie nicht in der Lage waren, sich in Sicherheit zu bringen. Siehe auch hier.

Das Hauptgebäude der Klinik wurde so schwer beschädigt, dass der Betreiber, die internationale humanitäre Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), die Einrichtung schließen musste. Überlebendes Personal arbeite jetzt in anderen Kliniken der Stadt mit, teilte MSF mit. Die MSF-Klink war das größte in Kunduz noch funktionsfähige Krankenhaus. Das staatliche Krankenhaus liegt im nach wie vor von den Taleban kontrollierten Nordwesten der Stadt. Dessen Personal erscheint zumeist nicht mehr zu Arbeit.

Ein Sprecher der NATO-geführten internationalen Militärmission in Afghanistan bestätigte noch am gleichen Tag, dass es „in der Umgebung“ der MSF-Klinik einen Luftangriff gegeben habe, und ein Sprecher der US-Truppen in Afghanistan räumte ein, dabei könnte „Kollateralschaden“ an der Klinik verursacht worden sein. US-Präsident Barack Obama erklärte den Opfern sein „tiefes Mitgefühl“. Laut US-Verteidigungsminister Ashton Carter ist eine Untersuchung bereits im Gange. Der britische Telegraph berichtete, afghanische Regierungsvertreter hätten bestätigt, dass es sich um einen US-Angriff gehandelt habe, aber Washington sich weigere, die volle Verantwortung dafür zu übernehmen.

NATO und USA argumentieren, man habe Taleban-Stellungen angegriffen und dabei sei die Klinik getroffen worden. Die Taleban hätten US-Militärpersonal angegriffen; nur unter dieser Bedingung werden solche Luftschläge gemäß Abmachungen zwischen Washington und Kabul genehmigt. Das bedeutete aber auch, dass US-Soldaten direkt an Kämpfen in der Nähe der Klinik teilgenommen hätten. Bisher war nur bekannt, dass sie am außerhalb gelegenen Flugplatz von Kunduz Operationen mit den Regierungstruppen koordinierten. (Schon am 30. September hatte der afghanische TV-Privatkanal ein Foto von kämpfenden US-Soldaten gezeigt, das aber nicht genau lokalisiert war.)

Es gab auch Berichte, nachdem sich Taleban-Kämpfer in die Klinik geflüchtet und von dort aus geschossen hätten. Sie stammten vom (amtierenden) Provinzgouverneur von Kunduz, Hamdullah Haschemi, und den Sprechern des afghanischen Verteidigungs- und Innenministeriums (MoI). Dem widersprach MSF entschieden. „Die Tore des Krankenhausgeländes waren über Nacht verschlossen, so dass niemand, der nicht zum Personal gehört, Patient oder Wächter ist, innerhalb des Krankenhauses war, als der Angriff geschah“, hieß es in einer Erklärung am Sonntag. Und niemand von ihrem Personal habe vor dem Angriff von irgendwelchen Kämpfen innerhalb des Geländes berichtet.

Hier kann ich nur einem Afghanistan-Beobachterkollegen zustimmen, der auf Twitter (als Kommentar zu einer Feststellung, die offiziellen Stellungnahme würden keinen Sinn ergeben) schrieb: „Mache eine Google-Suche nach MoI-Statements der letzten paar Jahre und das Problem wird vielleicht etwas weniger komplex.“ (Man kann auch gleich noch nach NATO/ISAF-Statements suchen… Dazu übrigens hier eine schon ältere AAN-Untersuchung.) Die in Kabul arbeitende Journalisten und Filmemacherin Courtney Body schreibt dazu: „Ich habe mit eigenen Augen gesehen und habe [weitere] Quellen, wie das MoI instruiert wurde, zu lügen und Zahlen niedrig zu halten.“

Der Spiegel berichtete inzwischen, dass bei dem Angriff ein Flugzeug vom Typ AC-130 zum Einsatz gekommen sei und Schrapnells von dessen Munition die MSF-Klinik getroffen hätten. Allersing fragt man sich, wie man Munition solch einer Streubreite einsetzen kann, wenn man weiß, nebenan befindet sich eine stark belegte Klinik.

Die Schilderung von Heman Nagarathnam, MSF-Programmchef für Nord-Afghanistan, der sich im Hospital aufhielt, widerspricht der Version vom Kollateralschaden. “Die Bomben schlugen ein und dann hörten wir das Flugzeug kreisen. Dann gab es eine Pause, und dann schlugen mehr Bomben. Das geschah wieder und wieder. Bart Janssens vom Brüsseler MSF-Büro sprach von „vier oder fünf“ solchen Angriffen. In einem Fernsehinterview, das am Samstag unter anderem von der BBC und CNN ausgestrahlt wurde, fügte er hinzu, dass seine Organisation „allen Seiten“ – afghanischen und US-Truppen sowie den Taleban – die Position der Klinik übermittelt habe. Zudem war sie aus den Medien bekannt: Seit dem Beginn des Taleban-Angriffs auf Kunduz am vergangenen Montag wurden dort fast 400 Verletzte der Kämpfe behandelt.

Aus dem Janssens-Interview ging auch hervor, dass nur das Hauptgebäude auf dem vier Fußballfelder großen Gelände getroffen worden sei. Mitarbeiter, die sich in Schutzräumen in anderen Gebäuden aufhielten, überlebten. Hier der vollständige Bericht eines überlebenden MSF-Mitarbeiters auf der Webseite der Organisation (auf Englisch hier).

Meinie Nicolai, Präsidentin von MSF Belgien, sprach deshalb von einer „schweren Verletzung des internationalen humanitären Rechts“. Im Kriegsfall dürfen Krankenhäuser auch dann nicht angegriffen werden, wenn sich darin feindliche Kämpfer sowie Patienten und Personal aufhalten. UN-Menschenrechtschef sagte sogar, es handle sich um ein Kriegsverbrechen, „wenn ein Gericht herausfindet, dass der Angriff absichtlich war“.

Zum Schluss dieses Abschnitts noch, was Blogger Gary Owen (aka El Snarkistany und gelegentlicher AAN-Gastautor) dazu zu sagen hat:

Whatever happened at the MSF hospital, a whole lot of things went wrong, many of them years before this lastest push by the Taliban to take a city in Afghanistan. And no matter what any “investigation” finds, someone needs to be held accountable. Because it’s not supposed to be like this. Because at some point someone has to pay. And it should be us. Because we’re the good guys.

 

Zur Gesamtsituation

Die Situation in Kunduz bleibt derweil unübersichtlich. Das Kabuler Verteidigungsministerium gratulierte den Einwohnern der Stadt am Sonntag schon zum Sieg. Die Armee habe die Nationalflagge auf der zentralen Straßenkreuzung gehisst, verteile jetzt, wie auch die Polizei, Nahrungsmittel an die Bevölkerung und schaffe Verletzte in die Krankenhäuser. Auch der unabhängige afghanische Sender Tolonews sprach davon, dass das Leben in Kunduz sich normalisiere und die Bevölkerung nach und nach aus ihren Schutzräumen herauskomme. Die Menschen hatten zum Teil Tage in ihren Kellern zugebracht. Wasser, Strom und Telefon waren (oder sind noch immer) abgestellt. Nahrungsmittel wurden knapp oder sehr teuer bzw beides.

Doch die Erfolgsmeldungen scheinen erneut übereilt zu sein. (Schon am Donnerstag, dem 1.10, hatten der Armeegeneralsstabchef und der Polizeichef von Kunduz die völlige „Befreiung“ der Stadt verkündet und Präsident Ghani hatte das wiederholt.)

Reuters zitiert heute einen NATO-Militär, demzufolge „das gesamte Gebiet noch umkämpft“ sei. Ein lokaler afghanischer Journalist twitterte um 15 Uhr Ortszeit, die Taleban hätten die Hauptkreuzung von Kunduz wieder unter Kontrolle, die Nationalfahne wieder entfernt und ihre eigene gehisst (schonmal am 29.9.). Das scheint sich langsam zu einem Prestigeduell auszuweiten.

Nach AAN-Informationen ist die Stadt zweigeteilt (hier bei der BBC eine Karte), das Umland aber fast vollständig unter Taleban-Kontrolle. Die Regierungstruppen hielten die Gegend an der zentralen Kreuzung mit den Hauptquartieren der Polizei und des Geheimdienstes NDS (das die Taleban besetzt und wobei sie wohl die NDS-Akten erbeutet haben), das Zentralgefängnis sowie die nach Süden zum außerhalb liegenden Flughafen führende Hauptstraße, über die auch viele NGO-, UN- und Regierungsmitarbeiter sowie Zivilisten evakuiert wurden bzw sich selbst durchgeschlagen haben, sowie den Flughafen selbst. Dort ist auch die Koordinationsstelle zwischen den afghanischen und den US/NATO/Mission Resolute Support (RS)-Streitkräften. (Die US-Special Forces gehören ja nicht zu RS.) Auch die Straße in den südöstliche gelegenen Distrikt Khanabad ist nur teilweise unter Regierungskontrolle.

Die Taleban halten den Westen und Nordwesten der Stadt, mit dem staatlichen sog. 200-Betten-Hospital, dem Hauptsitz des Spinzar-Scherkets, der traditionsreichen Baumwollgesellschaft sowie das Wohnhaus des größten Milizenführers der Region, Mir Alam, sowie allen vorgelagerten Dörfern bis nach Gortepe. Mir Alams Haus sei ebenso niedergebrannt worden wie verschiedene Regierungsgebäude. Er selbst soll sich vor einigen Tagen aus Kunduz ausfliegen haben lassen (hier, auch wenn der Name nicht genannt wird); zur Zeit soll er sich in Scher Khan Bandar, dem Flusshafen an der Grenze zu Tadschikistan aufhalten, der von Kunduz abgeschnitten ist.

Nachdem zuerst die Taleban Hausdurchsuchungen gemacht hatten – wohl anhand der NDS-Akten und auch mit Personallisten, die ihnen in UN- und NGO-Büros in die Hände gefallen waren (hier ein Foto mit Taleban in einem beim Internationalen Roten Kreuz erbeuteten Fahrzeug), tun das nachts nun wohl die Regierungskräfte, evtl mit Hilfe von US-Special Forces. Tagsüber wurden bisher Bombenangriffe geflogen. Diese sollen zumindest US-seitig (auch die Afghanen haben ja, wenn auch kleine, Luftstreitkräfte) nach einer Meldung von heute nachmittag allerdings nach der Zerstörung der MSF-Klinik eingestellt worden sein.

Inzwischen haben die Taleban per Video afghanische Regierungsmitarbeiter in Kunduz aufgefordert, sich bei ihnen zu melden und einen Schutzbrief zu holen, wenn sie in der Stadt bleiben wollen. Bei den Hausdurchsuchungen wandten sie sich nach AAN-Informationen an die Ältesten in den jeweiligen Wohnvierteln, die über die jeweiligen Einwohner Auskunft geben mussten.

Ein weiterer Tolo-Bericht bestätigt jedenfalls „schwere Kämpfe zwischen den Sicherheitskräften und den Taleban in zivilen Wohngegenden… Taleban verbergen sich in Wohnhäusern, aber die Sicherheitskräfte tun ihr bestes, Zivilisten zu schützen“. Andererseits war aus Kunduz zu hören, dass einige Zivilisten, die mit ihren Autos in der unübersichtlichen Lage mit ihrem unklaren Frontverlauf die Stadt zu verlassen suchten, von Luftschlägen getroffen wurden. Offenbar wurden sie mit Taleban verwechselt, die ebenfalls in der Stadt herumfahren. Sie hätten dabei – entgegen anderen Informationen – keine Übergriffe begangen. Aber das kann je nach Gegend unterschiedlich sein. (Über diese Anschuldigungen demnächst mehr.)

Außerhalb der Stadt kontrollieren die Taleban drei der sechs ländlichen Distrikte der Provinz Kunduz. Das folgende sind AAN-Informationen: Tschahrdara (von dort aus sollen die Regierungstruppen/ANSF nach Cholm im benachbarten Balch geflohen sein); Qala-ye Zal (ANSF und Milizen unter Nabi Getschi halten noch ein entlegenes Gebiet in der Nachbarschaft von Cholm); Dascht-e Artschi seit zwei Monaten. In Imam Saheb halten die ANSF noch das Distriktzentrum, aber es gibt es gibt anhaltende Gefechte gleich außerhalb. Khanabad and Aliabad sind größtenteils unter ANSF-Kontrolle.

Auch anderswo in der Region, und nicht weit weg, wird intensiv gekämpft. Am 1. Oktober meldeten afghanische Agenturen, die Taleban hätten die Hauptorte der Distrikte Tala wa Barfak (Nord-Baghlan), Khwadscha Ghar (Takhar) und – erneut – Wardudsch eingenommen. (Wardudsch hatte in den vergangenen Jahren schon öfter den Besitzer gewechselt; dasselbe gilt für Dascht-e Artschi und Kohistanat, s.u..) Am 29. September waren auch schon Yangi und Eschkamesch gefallen. Eschkamesch wurde von den ANSF aber schnell wieder zurückerobert. Am 3. Oktober fiel das Zentrum von Kohistanat (Sarepul). U.a. in Dushi (Takhar) und Nord-Baghlan blockieren die Taliban zudem Straßen, um Nachschub für Kunduz und andere umkämpfte Gebiete zu verhindern. (Am 2./3.10. hatten die Taleban auch kurzzeitig Baharak in Badachschan eingenommen.)

Damit kontrollieren die Taleban im Augenblick nun mindestens 17 von etwa 400 Distrikten; Anfang September waren es hingegen nur elf (siehe auch hier) – auch wenn sich das schnell wieder ändern kann. Aber die Tendenz scheint steigend zu sein.

 

Neue Milizen?

Trotz des teilweisen Desasters mit den lokalen Milizen bestehen frühere Warlords und Mudschahedin-Kommandeure u.a. aus den Provinzen Parwan, Panjschir und Kapisa darauf, weitere Milizen nach Kunduz in Marsch zu setzen. Das kam bei einem Treffen am 1. Oktober in Parwan heraus, an dem u.a. Ex-Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi, Ing. Asim, Gouverneur von Parwan, Mohammad Zahed Almas, Außenminister und Jamiats Interim-Chef Salahuddin Rabbani, der Jamiat-Chefideologe und Abgeordnete Hafiz Mansour. Sie forderten die Regierung auf, „jene, die freiwillig kommen, um die nationale Würde zu verteidigen, zu unterstützen“ und auch sog. Aufstandskräfte, eine weitere Form von Milizen. Rabbani schlug zudem die Schaffung eines Mudschahedin-Rates mit Branchen in allen Landesteilen vor, um sofort auf „Angelegenheiten nationaler Tragweite“ reagieren zu können.

Gesondert meldete sich Muhammad Mohaqqeq zu Wort, der Stellvertreter von Quasi-Premier Abdullah sowie Führer einer der Wahdat-Nachfolgeparteien ist und erklärte: „Der Ärger in Kunduz passierte, weil das Hauptelements des Dschihad dort als ‚illegale bewaffnete Gruppen, Mudschahedin oder Milizen’ an den Rand gedrängt wurden.“ Die Mudschahedin-Führer machen damit eine neue Front der Kritik an Präsident Ghani auf. Das hört sich schon nach Mudschahedin-Parallelstrukturen wenn nicht –regierung an.

Ebenfalls gesondert bot auch der berüchtigte Kandaharer Polizeichef Abdul Razeq seine Hilfe an. Er beschuldigte jene, „die den Namen des Dschihad ausnutzen und einen Anteil an allem Wollen“ – wohl eine Anspielung auf das Abdullah-Lager, zu dem auch die o.g. Kommandeure gehören – für den Fall schuldig zu sein. Razeq hatte mit brutalen Methoden schon Kandahar und Teilen von Nachbarprovinzen für „Ordnung“ gesorgt.