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Nach Meldungen, dass afghanische Soldaten (und/oder Polizisten) in der Provinz Helmand zu den Taleban übergelaufen (siehe z.B. hier) sowie in der umkämpften Provinz erneut US-Soldaten stationiert worden sind (hier), um die afghanischen Truppen zu unterstützen, bat mich am Montag der englische Dienst des österreichischen Rundfunks um ein Interview zu der Lage dort und den Hintergründen der Desertionen.

Gebet am Abzweig nach Laschkargah, Helmand. Foto: Thomas Ruttig (2005).

Gebet am Abzweig nach Laschkargah, Helmand. Foto: Thomas Ruttig (2005).

 

Das Interview kann man im Audi-Format über diesen Link (im Suchfenster Afghanistan oder Ruttig eingeben, oder bei 13:27 Uhr nachsehen) nachhören. Unten folgt das deutsche Transkript.

Zudem verkündeten die Taleban gestern noch ihre diesjährige Frühjahrsoffensive, unter dem Namen „Omari“, in Gedenken an ihren früheren Anführer Mulla Muhammad Omar. Sie habe am Montag um 5 Uhr früh „in ganz Afghanistan“ begonnen – denn das sei das Datum gewesen, an dem „unter der Führerschaft des Kalifen Omar al-Faruq (auch: Omar ibn al-Khattab) in der Schlacht am Jarmuk muslimische Armeen die erste große westliche Ungläubigen-Armee bekämpft und vernichtet“ hätten. (Der Jarmuk ist ein Nebenfluss des Jordan, und dort schlug im Jahr 636 ein Heer unter dem General Khaled – Kalif Omar war Oberbefehlshaber, stand aber in Persien – eine byzantinische, also „westliche“ bzw „christliche“ Armee; im Resultat eroberten die Moslems Syrien. Quelle: Wikipedia.)

Das gleiche wird nun den „ausländischen Invasoren und ihren einheimischen Dienern“ vorausgesagt. Mit der Operation sollen die verbliebenen Gebiete von „Feindkontrolle und –präsenz“ gesäubert werden (man behauptet, das sei schon in 95 Prozent des Territoriums so). Dazu werden „großangelegte Angriffe auf Feindespositionen…, Selbstmord- („Märtyrer“-) und taktische Angriffe … sowie Ermordungen feindlicher Kommandeure in städtischen Zentren“ angekündigt. „Die gegenwärtige Operation wird alle Mittel anwenden, die uns zur Verfügung stehen, um den Feind in einem Auszehrungskrieg niederzuzwingen, der die Moral der ausländischen Invasoren und ihrer einheimischen Milizen senkt. … Gleichzeitig werden die Gelehrten, Ältesten und Anführer des Islamischen Emirats einen Dialog mit unseren Landsleuten in den Reihen des Feindes eröffnen, damit sie ihre Opposition zur Errichtung einer islamischen Regierung [wohlgemerkt: nicht eines „Emirats“] aufgeben“ und sich den Taleban anschließen. Die Kämpfer seien „eindeutig instruiert worden, Zivilisten und die zivile Infrastruktur zu schützen“. In allen vom „Islamischen Emirat“ beherrschten Gebieten werde „das Leben und das Eigentum der Einwohner geschützt“. (Das gesamte Statement kann auf Englisch hier lesen.)

Zeitgleich am Montag fuhr im Distrikt Surchrud in der Ostprovinz Nangrahar ein Selbstmordattentäter auf einem Motorrad in einem Bus, der Rekruten zu einer örtlichen Polizeiakademie (nach anderen Meldungen waren es Armeerekruten) fuhr. Mindestens zwölf Menschen starben, weitere wurden verletzt. Die Taliban sollen sich zu dem Anschlag bekannt haben (siehe taz-Meldung 12.4.).

 

Transkript des ORF-Interviews

Sprecher: Weniger als 18 Monate, nachdem NATO-Truppen die Sicherheitsverantwortung an die afghanische Regierung übergaben, machen die Taleban wieder bedeutende Gewinne, vor allem in der Provinz Helmand. Es gab sogar Berichte, dass US-ausgebildete afghanische Soldaten zu den Taleban desertiert seien. Hal Rock sprach mit Thomas Ruttig, Ko-Direktor beim Afghanistan Analysts Network.

Helmand ist eine sehr wichtige Provinz, sowohl für die Regierung als auch für die Taleban. In der Tat: In den vergangenen Monaten haben die Taleban dort ihren Einfluss erheblich ausgedehnt. Im Moment sieht es so aus, dass die Taleban dort große Teil der Provinz kontrollieren, und dass die Regierung in der Provinzhauptstadt Laschkargah und einigen verbliebenen Distriktzentren umzingelt ist. Das ist schon eine schlechte Situation.

US-ausgebildete afghanische Soldaten, die zu den Taleban desertieren – dass ist schon bedenklich, denn sie nehmen ja auch die Ausbildungserkenntnisse dorthin, nicht wahr?

Ja, das stimmt. Aber wir wissen auch nicht wirklich, was der Hintergrund dieser Desertionen ist. Aus den Berichten, die wir bekommen, kann man nicht unbedingt schlussfolgern, dass ideologische Gründe dahinter stehen – also dass sie die Taleban der Regierung vorziehen. Das mag zwar in einigen Fällen so sein. Aber meistens, denke ich, liegt das daran, dass afghanische Soldaten und Polizisten sich sehr oft in bestimmten Gebieten der Unterzahl finden [siehe unten] und oft keinen anderen Ausweg sehen, als sich den Taleban zu ergeben. Dass hat auch damit zu tun, dass die Taleban ihre Herangehensweise geändert haben. Früher haben sie solche Überläufer einfach umgebracht. Aber in den letzten Monaten, und besonders seit der Islamische Staat in Afghanistan auftauchte, der sich gegenüber jedermann, der ihm in die Hände fällt, sehr harsch benimmt, haben die Taleban versucht, sich davon abzusetzen und Regierungssoldaten und Polizisten besser behandelt. [Das bekommen die Regierungssoldaten mit] und deshalb sind das wohl Überläufer um des Überlebens willen. [Die Taleban teilen den Kämpfern auf angegriffenen Regierungsstützpunkten auch mit, dass Überläufer geschont werden, aber alle, die Widerstand leisten, mit dem Tod rechnen müssen.]

Sie erwähnen den IS, und ich wollte sie dazu fragen: Welche Rolle spielt der IS?

Es wird viel über den IS – oder Daesch, wie die Afghanen ihnen nennen – gesprochen, aber da wird viel übertrieben, fast schon bis zur Unkenntlichkeit. Daesch ist nicht sehr groß in Afghanistan, sondern ein Randphänomen. Es gab IS-bezogene Kämpfe in Nord-Helmand, aber das liegt schon über ein Jahr zurück und diese Gruppe wurde weitgehend eliminiert – von den Taleban im übrigen.

Wie beeinflusst das alles die US-Pläne, die Truppenstärke bis zum Ende nächsten Jahres [weiter] herunterzufahren?

Es hat sie schon beeinflusst. Diese Pläne wurden schon gestoppt. Die US-Kommandeure in Afghanistan haben diese Empfehlung an Präsident Obama gegeben. Wir haben auch gesehen, dass US-Soldaten wieder nach Helmand geschickt worden sind, um an der Seite der afghanischen Truppen zu kämpfen. ­ – Wir müssen auch etwas vorsichtig sein, wenn wir sagen, wer da kämpft: Es gibt zwei Missionen, die Trainings- und Unterstützungsmission der NATO, Resolute Support, du es gibt eine gesonderte US-Mission, die im wesentlichen aus Spezialtruppen besteht. Und diese kämpfen schon.

 

Zum Interview nachgetragen werden muss:

Die Probleme der afghanischen Regierungstruppen haben auch mit dem Phänomen der sogenannten Geistersoldaten und –polizisten zu tun, wie ich es in diesem früheren Helmand-Text schon beschrieb.

in Helmand sollen nur 11.200 der eigentlich gemeldeten 18.000 Soldaten, 4900 der 8000 Polizisten und 1200 der 2420 Angehörigen der milizähnlichen Afghanischen Lokalen Polizei (ALP) wirklich existieren. (In Kabul war aus anderen Quellen auch eine noch niedrigere Zahl zu hören.) Der Rest sind „Geistersoldaten“, denen Sold gezahlt wird, aber die natürlich – weil sie nicht existieren – nicht kämpfen können. Den Sold stecken sich in der Regel ihre Vorgesetzten ein (und wahrscheinlich auch Mitwisser in Kabul) – und die können dann natürlich nicht zugeben, dass sie zu wenig Personal haben. Auch das dürfte es den Taleban erleichtern, Erfolge zu erzielen.

(Es gibt z.B. auch Geisterlehrer, siehe dieser AAN-Bericht.)

Anfang des Jahres wurde die Situation in Helmand (erneut) auch in Mainstream-Medien publik. AP z.B. berichtete:

„An Checkposten, wo 20 Soldaten present sein sollten, gibt es nur acht oder zehn,“ sagt Karim Atal, Vorsitzender des Helmander Provinzrates. „Das ist so, weil einige Leute bezahlt warden, aber nicht ihren Job machen, weil sie mit jemand bedeutenden verbunden sind, etwa einem lokalen Warlord.“

In einigen Fällen, ist die Bezeichnung „Geist“ mehr wörtlich — tote Soldaten und Polizisten bleiben auf den Listen, und hohe Offiziere stecken ihren Sold ein, ohne sie zu ersetzen, sagt Atal.

Er schätzt, dass etwa 40 Prozent der registrierten Kräfte nicht existieren…

Schon im April 2015 stand in einem Bericht von John Sopko, dem Sondergeneralinspekteur für afghanischen Wiederaufbau (SIGAR):

„Weder die Vereinigten Staaten noch ihre afghanischen Verbündete wissen wirklich, wie viele afghanische Soldeten und Polizisten zum Dienst zur Verfügung stehen und, in Folge dessen, den wahren Zustand ihrer operationellen Fähigkeiten.

Anfang dieses Jahres kam es dann zu Umbesetzungen in den Streitkräften in Helmand. Der Armeekorps-Kommandeur und der Provinzgouverneur wurden ersetzt (siehe z.B. hier), und ein ziviler Sicherheitschef ernannt, dem alle Kräfte in der Provinz unterstehen. Dabei handelt es sich um einen Parlamentsabgeordneten aus Helmand namens Jabbar Qahraman („Held“), der Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre dort eine pro-kommunistische Miliz anführte und sich später mit den Mudschahedin zusammentat, um zu überleben (siehe z.B. hier).

Im Februar 2016 gab es die Empfehlung der örtlichen NATO-Mission (eigentlich wohl eher der US-Streitkräfte), Checkposts zu reduzieren. Reuters zitierte Brigadegeneral Wilson Shoffner, Sprecher der NATO-Trainingsmission Resolute Support:

Sie haben viel zu viele Soldaten Checkposten. Es gibt einen alten militärischen Spruch, dass, wenn man sich überall verteidige, man sich nirgendwo verteidige, und das trifft sehr auf sie [die afghanischen Regierungskräfte] zu. … Wenn man ein lokaler Polizeichef oder ein Dorfältester ist, will man so viele Checkposten um sein Dorf wie man bekommen kann. … Die Idee ist, Checkposten zu reduzieren und sich an bestimmten Schwerpunkten zu konsolidieren, so dass es an diesen Schwerpunkten nicht nur die Stärke hat sich zu verteidigen, sondern auch Manövrierfähigkeit.

Ende März bestätigte das afghanische Verteidigungsministerium, dass es diese „taktische Veränderung“ vorgenommen habe (siehe dieser Bericht von ToloNews). In „schwierigen“ Gebieten würden „lokale Kräfte“ (es dürfte sich sowohl um lokale Armee- und Polizeieinheiten sowie um die milizähnliche Afghan Local Police und sogenannte Anti-Taleban- oder –Daesch-Aufstandskräfte handeln, letztere werden oft auch als arbaki oder pazunian bezeichnet, siehe z.B. hier) weniger Zeit damit verbringen, Kontrollpunkte zu besetzen, und dafür für größer angelegte Offensivoperationen frei werden.

Damit gibt man indirekt aber bestimmte, als nicht prioritär eingestufte Gebiete den Taleban preis. Zum Beispiel ist das schon in Urusgan (Distrikt Schahid Hassas) und Helmand (Nausad und Musa Qala) (siehe mein Bericht hier), geschehen. In Helmand begründet der neue Armeekorpskommandeur damit, dass beide strategisch unwichtig seien.

Das wiederholt auch die Strategie der US- und ISAF-Truppen, sich aus den sogenannten „staubigen Distrikten“ zurückzuziehen, also jenen, die nicht direkt bei städtischen Zentren und entlang der strategisch wichtigen Ringstraße liegen. Aber genau dort haben sich die Taleban über die Jahre konsolidiert, und von dort führen sie einen Teil ihrer Offensivoperationen aus, die ihnen im letzten beträchtliche Gelände- oder zumindest Kontrollgewinnen gebracht haben. Deshalb wird dieser Schritt vor allem in Afghanistan nicht von allen Militärs und Politikern befürwortet.

 

Ein Text von mir zur Taleban-Frühjahrsoffensive und den (schlechten) Aussichten für Friedensgespräche erschien auch in der taz vom 13.4.16, hier auf der taz-Webseite.