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UPDATE AM ENDE DES TEXTES.

Der wohl doch afghanische Flüchtling, der am Montagabend in einem Zug bei Würzburg mehrere Menschen lebensgefährlich verletzte und vorher offenbar ein Ankündigungsvideo (s)einer Tat ins Netz gestellt (oder sogar an den IS geschickt) hatte, habe sich unter falschem Namen als Flüchtling angemeldet. Das verbreiteten mehrere Medien mit der Begründung, in dem IS-Video werde er als „Muhammad Riyad(h)“ vorgestellt, während er sich als Flüchtling als „Riaz Khan Ahmadzai“ habe registrieren lassen (siehe z.B. hier).

Sieht man sich an, wie afghanische Namen gebildet werden, dann ist zumindest das kein Widerspruch.

 

Zum afghanischen Personenerfassungswesen

Zuerst muss man sagen, dass es in Afghanistan nie eine Pflicht, sich (oder ein neugeborenes Kind) registrieren zu lassen, und deshalb auch kein zentrales Personenerfassungswesen gab. Das ist erst im Entstehen begriffen, seit viele staatliche Dienstleistungen wie die Ausstellung eines Reisepasses oder die Schulanmeldung eines Kindes nur funktionieren, wenn dabei eine nationale Identitätskarte (in Afghanistan taskera genannt) vorgelegt wird.

Aber auch eine taskera haben bisher bei weitem nicht alle Afghanen, vor allem nicht im ländlichen Raum und vor allem nicht viele Frauen.

Bisher wird diese taskera (wie bis vor kurzem auch Reisepässe) handschriftlich ausgestellt. Versuche, eine elektronische taskera einzuführen, befinden sich noch in den Kinderschuhen. Das hat zum Teil politische Gründe – einer davon ist, kurz gesagt, dass man aus einem vollständigen Personenregister auch ein eindeutiges Wahlregister ableiten könnte – und dass würde Wahlmanipulationen erheblich erschweren, in die seit 2004 ja immer auch zuvörderst die Regierungen involviert waren. (Eine AAN-Analyse zu diesem Thema findet sich hier.)

Aber es gibt auch die Hürde, dass viele traditionell gesonnene Afghanen nicht möchten, dass die Frauen „ihrer“ Familie registriert werden. (Dazu kommt das gleiche Problem, wenn es um Fotos geht.)

Eine taskera bekommt man in Kabul beim Innenministerium (MoI), beim Zentrum für Statistik und Bevölkerung (Markaz-e Ehsaiya wa Nufus). In den Provinzen ist dafür das Büro des jeweiligen Polizeichefs zuständig (untersteht damit auch dem MoI), in den Distrikten das Büro des Distriktgouverneurs (die bei Anträgen eine Identitätsbestätigung bei „Ältesten“ einholen).

In den Städten registrieren die Krankenhäuser neuerdings Neugeborene; aber viele (wohl die meisten) Frauen gebären zu Hause. In den örtlichen Moscheen erfolgt keine Registrierung; oft aber wird dies durch Eintrag im Familien-Koran vorgenommen.

So sah eine taskera in König Amanullahs Zeiten (1919-29) aus.

So sah eine taskera in König Amanullahs Zeiten (1919-29) aus.

... und so wird die neue e-tazkera aussehen. Foto: Pajhwok.

… und so wird die neue e-tazkera aussehen. Foto: Pajhwok.

 

Vornamen – oder einfach Namen

Aus o.g. Gründen gibt es in Afghanistan auch keine „regularisierten“, also bestimmten Regeln unterworfene Personennamensgebung, die sich etwa – wie bei uns – aus (einem oder mehreren) Vornamen und einem Familiennamen (der ja auch doppelt oder mehrfach sein kann, man denke an die ehemals bekannte Skiläuferin Simone Greiner-Petter-Memm) zusammensetzt.

In Afghanistan besteht der Name einer Person eigentlich nur aus – eben – dem oder den „Namen“ (Dari: nam; Pashto: nom). Der oder diese werden dem Kind (nach gewisser Zeit nach der Geburt) gegeben und kann mehrgliedrig sein – was, wie gesagt, auch bei uns möglich ist: siehe all die „Rolf-Dieters“ und „Anne-Maries“ und auch unseren Ex-Minister Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg. Gibt es mehrere Vornamen, muss bei uns unter diesen ein Rufname festgelegt werden.

In unserem Fall ist der Name des Täters von Würzburg wohl Muhammad Riaz. (Auf die unterschiedlichen Schreibweisen kommen wir noch.) Viele Afghanen tragen den Namen Muhammad oder Abdul – eigentlich Abd-ul- („Knecht von…“) – oder -ullah, kombiniert mit einem oder mehreren weiteren Namen. Also Muhammad Riaz oder Muhammad Ali oder Muhammad Salim oder – im Falle Abd-uls – mit einem der 99 Attribute Allahs kombiniert, z.B. Abd-ul-Rahman, Abd-ul-Awwal oder Abd-ul-Qaher, also „Knecht des Barmherzigen“ (Rahman), des Ersten (Awwal), des Zornigen (Qaher) usw. Die hundertste Form ist Abdullah (eigentl. Abd-ul-illah), also „Knecht Gottes“. Die 99 Attribute Gottes werden vom islamischen Rosenkranz, dem tasbih, symbolisiert, der aus 99 Kugeln besteht und den mancher Moslem im Alltag durch seine Finger gleiten lässt, eine Art stilles Gebet.

Außerdem gibt es Habibullahs und Najibullahs und Muhammadullahs und, zumindest theoretisch, vielleicht auch Riazullahs. (Ist mir aber noch nicht begegnet.)

Die 99 Attribute Allahs sind damit nicht (ausschließlich) afghanische Namen, sondern sie werden von allen Muslimen verwendet, ebenso Muhammad und andere. Es gibt aber auch spezifisch afghanische, v.a. paschtunische, (Vor-)Namen, z.B. Nangjalai (männl.) oder Gulalai (wiebl.). Nichtarabische persische Namen (etwa Siyawusch) könnten auch in Iran oder Tadschikistan austauchen, oder bei Paschtunen; umgekehrt ist das bei letzterem eher weniger der Fall.

Mit dem arabischen Ursprung haben auch die unterschiedlichen Schreibweisen von „Riyad(h)“ oder Riaz zu tun. (Riad wäre auch möglich, siehe die saudische Hauptstadt; das ist dasselbe Wort – رياض.) Das „dh“ steht für einen im lateinischen Alphabet nicht vorhandenen Konsonanten im arabischen Original (eine weiche Form des englischen „th“, wie in „the“; auch im Isländischen gibt es das, siehe den Fußballer Eiður Guðjohnsen.) Ähnlich verhält es sich mit der Schreibweise für den heiligen Fastenmonat Ramadhan bzw Ramadan oder Ramazan – was auch als Personenname verwendet wird.

Umgangssprachlich wird häufig der „allgemeine“ Name (Muhammad, Abd-ul- oder –ullah) zugunsten des spezifischeren weggelassen. Najib, Rahman oder Riaz wird dann zu einer Art Rufnamen. Den – sozusagen den Kern seines Namens – hat der Täter auch bei der Anmeldung in Deutschland verwendet.

Dem hat er zunächst ein „Khan“ beigefügt. Das ist eigentlich ein Titel. Ursprünglich bezeichnet das bei den Paschtunen – und um einen solchen handelt es sich bei Riaz Khan Ahmadzai wohl (es wurden ja Texte aus Pashto in seinem Notizblock gefunden, und auch in dem vom IS verbreiteten Video spricht er Pashto – einen Stammesführer oder reichen Landbesitzer, je nach konkretem Gebiet. Aber auch viele andere Paschtunen setzen häufig einen „Khan“ zu ihrem Namen, weil es dem etwas Glanz und Vornehmheit verleiht. So wird es auch der Täter von Würzburg gehalten haben.

Solche und ähnliche Titel werden bei Afghanen oft zu Namensbestandteilen – so ähnlich wie der „Freiherr“ bei Guttenberg. Dazu gehören auch Aqa/Agha, Beg/Bey (oder auch Bay oder Bai), religiöse Titel wie Pir, Khwaja (Chodscha), Mia oder Sayyed (Seyid) für Nachfahren des Propheten Muhammad (die nur in Familien dieses Hintergrunds verwendet werden), natürlich auch Haji (Hadschi), nach einer Pilgerfahrt nach Mekka.

 

Nach- oder Familennamen und tachallus

Als eine Art Nachnamen könnte man das „Ahmadzai“ im Namen des Würzburger Täters bezeichnen. Die Ahmadzai sind ein großer Paschtunenstamm, der im Südosten und Osten Afghanistans lebt (von Paktika im Süden bis Nangrahar im Norden) und sich in viele, auch große Unterstämme aufteilt.

Viele Afghanen, die einen oder mehrere (Vor-)Namen tragen, geben sich im Laufe ihres Lebens einen sogenannten tachallus (das kommt vom arabischen Wort für „besonders“, im Sinne von spezifisch). Ein tachallus sieht also aus wie ein Nachname, ist aber mehr als ein (selbstgewählter) Spitzname. Denn er kann auch wieder abgelegt oder geändert werden. Brüder können sich unterschiedliche tachallus geben, was in unseren Augen zur Verwirrung beiträgt. Die Besonderheit unserer (aber nur fast) gesamteuropäischen Regelung, dass Familiennamen an die Kinder weitergegeben werden, gibt es so in Afghanistan bisher nicht.

(Dass es auch andere Möglichkeiten als z.B. feste Familiennamen gibt, sieht man ja z.B. in Island, wo Mädchen den Vornamen des Vater mit der Endung –dottir (Tochter [von]) bekommen, während bei Jungen –son (Sohn [von] angehängt bekommen. Resultat: Nachnamen von Kindern und Eltern sind nicht unbedingt identisch.)

Als tachallus kommen verschiedene Kategorien von Attributen in Frage: Stammesnamen (wie Ahmadzai, Mangal, aber auch Tajik oder Aimaq oder Paschtun kommen vor), Ortsnamen (Kabuli oder Pandscheri), Berufsbezeichnungen (Khayyam, „Zeltmacher“, wie der persische Dichter, Hunarmand, „Künstler“, oder auch Indschenir oder, unter sozialistischem Einfluss, Kargar, „Arbeiter“ – also alles ehrenvolle Berufe). Afghanische Schneider, Schmidt (Schmied) oder Schlosser sind selten.

Dazu kommen verschiedene Formen vom Vatersnamen abgeleiterer tachallus, z.B. von Akram zu Akrami; im Dari von Najafi zu Najafizada oder von Sultan zu Sultanzoy – wobei -zada „geboren“ und –zoy „Sohn [von]“ heißt, so ähnlich wie bei nordischen Namen, Pettersson, Petersen etc. Auch die Endung –zai bezieht sich auf „Sohn von“, bezeichnet aber den Sohn eines mythischen Vorfahren und ist deshalb ein Stammes-, nicht ein „Vaters“name – also von Ahmad zu Ahmadzai. Es gibt auch Mullahzoy und viele Achundzada (Achunds sind ebenfalls Geistliche).

Oder einfach ein anderes Attribut. Da gibt unendliche Möglichkeiten, von Wafa (Treue) über Neknam (guten Namens/Rufes), Ufoq (Horizont), Nashenas („der Unbekannte“, Pseudonym eines bekannten Sängers der 1970er und 1980er) bis zu (politisch gemeint) Sayyaf (Schwerter), Mujahed oder Taleb, Karmal (Freund der Arbeit/er), Mazlumyar (Freund der Unterdrückten) oder Muslimdost (Freund der Muslime) – womit wir schon drei Dari- bzw Pashto-Wörter für „Freund“ hätten, die auch allein stehen können (yar, dost, mal). Auch (Vor-)Namen können zu tachallus werden; es gab mal einen Kabuler Unirektor namens Habibullah Habib.

Einer meiner Lieblingsnamen ist der eines ehemaligen Parlamentsabgeordneten, Mu’in Mrastyal – was so viel wie „Stellvertrete(nde)r (Minister), Stellvertreter“ heißt, bestehend aus den arabischen und Passhto-Versionen des Wortes.

Das schöne an diesen Namen ist, dass man sie immer „lesen“ kann. Häufig, aber nicht immer oder eineindeutig, geben sie Hinweise auf die Herkunft des Trägers oder der Trägerin.

 

Afghane oder Pakistani?

Das bringt uns zurück zu dem Täter von Würzburg. Ich glaube nicht, dass die Ahmadzai auch über Siedlungsgebiete in Pakistan verfügen. (Im Moment wird ja debattiert, ob der Täter Afghane oder Pakistani ist.) Aber natürlich sind viele Afghanen – und damit auch Ahmadzai – während der Kriege der letzten vier Jahrzehnte als Flüchtlinge nach Pakistan gegangen, so dass sich manche von ihnen dort dauerhaft angesiedelt haben können oder regelmäßig dorthin pendeln und auch die pakistanische Staatsbürgerschaft erworben haben. (Oder auf illegalem Wege ein pakistanisches Personaldokument.) Insofern lässt sich aus dem Namen (oder dem Dialekt) des Täters nicht mit Bestimmtheit ableiten, ob es sich um einen Afghanen oder Pakistani handelt. Selbst wenn er tatsächlich „pakistanisches“ Pashto oder Urdu-Worte verwendet (wie faudsch für Armee), bedeutet das noch nicht, dass er kein Afghane ist. Unter den politischen Umständen der letzten Jahrzehnte könnte er sogar sein ganzes Leben in Pakistan verbracht und dort örtliche Sprech- und sonstige Verhaltensweisen angenommen haben, aber immer noch Afghane bzw afghanischer Staatsbürger sein.

Sollte er aber eine pakistanische Staatsbürgerschaft innehaben, kann man davon ausgehen, dass entweder er selbst oder seine Vorfahren wohl ursprünglich aus Afghanistan stammen.

UPDATE 21.7.16:

Auf einer Pressekonferenz gestern sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), er sehe bisher keinen Anlass, an der afghanischen Nationalität des Attentäters von Würzburg zu zweifeln. Gegen die Annahme, dass es sich um einen Pakistaner handele, spreche der Hinweis, dass möglicherweise auslösendes Motiv für den Angriff am Montagabend auf Reisende der Tod eines Freundes in Afghanistan gewesen sein solle, sagte der Minister am Mittwoch in Berlin. Ferner – und das scheint mir noch stichhaltiger zu sein – habe der Täter einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt – und dieser beziehe sich auf Afghanistan und nicht Pakistan.

Wie diese Frage am Ende auch beantwortet werden wird, die Tat wird dadurch nicht ungeschehen, und man kann nur hoffen, dass alle Opfer überleben und wieder genesen.