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Insgesamt gibt es laut BKA (zitiert in der Zeit, hier) derzeit etwa 700 „islamistische Gefährder“. Mehr als die Hälfte davon hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Zahl der Gefährder “wachse, da Personen, die für die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) in Syrien und im Irak gekämpft haben, nach Deutschland zurückkehren.” Anfang Mai waren es 657, zur Innenministerkonferenz Mitte Juni 2017 waren es 680. 

Rund die Hälfte der Gefährder hält sich dem Zeit-Bericht zufolge in Deutschland auf, etwa hundert von ihnen sitzen in Haft. Zusätzlich gibt es 410 “relevante Personen” (siehe Definition unten).

Zudem säßen derzeit fast 300 Islamisten in deutschen Gefängnissen. Es ist nicht klar, ob es sich bei allen um „Gefährder“ oder gewaltbereite Personen handelt. Auch hier gibt es keine Angaben zu Staatsangehörigkeiten.

Zudem wird berichtet, dass deutschlandweit 351 Islamisten per Haftbefehle gesucht werden. Das berichtete der NDR unter Berufung auf eine Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag. Darunter seien 100 „Gefährder“ und sieben sogenannte „relevante Personen“ aus dem Umfeld von Gefährdern. Einige der Gesuchten hielten sich im Ausland auf. “Nur einem Teil der gesuchten Islamisten werden Taten mit terroristischem Hintergrund, wie die Bildung einer terroristischen Vereinigung oder die Vorbereitung einer staatsgefährdenden Straftat, vorgeworfen. Einem anderen Teil der Gesuchten werden keine politisch motivierten Taten, sondern Delikte wie gefährliche Körperverletzung, Drogenhandel oder Raub zur Last gelegt.“ Auch hier keine Angaben zu Staatsangehörigkeiten.

Mahnwache für die Opfer der Paris-Anschläge heute in Kabul. Fotos: Kawoon Khamoosh.

Mahnwache für die Opfer der Paris-Anschläge in Kabul im November 2015. Fotos: Kawoon Khamoosh/Twitter.

 

Was ist überhaupt ein „Gefährder“? Die BaWü-Landesregierung schreibt dazu (siehe oben):

Nach der bundeseinheitlichen polizeilichen Definition ist ein „Gefährder“ eine Person, zu der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des §100a StPO, begehen wird. Im Bereich der politisch motivierten Kriminalität, religiöse Ideologie, ist in Baden-Württemberg derzeit eine hohe zweistellige Zahl an Personen als „Gefährder“ eingestuft. Dabei handelt es sich überwiegend um Salafisten.

Die Zeit weist aber darauf hin, dass es eine eindeutige, gesetzlich festgelegte Definition des Begriffs überhaupt nicht gibt: 

Die Bundesregierung versteht Personen als Gefährder, bei denen „bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des Paragrafen 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen“ werden – dazu zählen schwere Straftaten. Wird jemand als Gefährder eingestuft, hat das zunächst keine rechtlichen Folgen. Stattdessen können die Behörden dann weitere Maßnahmen prüfen, etwa Telefonüberwachung. (…)

Die Polizeibehörden der Länder legen in Zusammenarbeit mit den Landesämtern für Verfassungsschutz fest, wen sie als Gefährder einstufen. Dabei wird zwischen Gefährdern und „anderen relevanten Personen“ – beispielsweise Kontaktleuten oder Unterstützern, die aber nicht selbst als akut gefährlich gelten – unterschieden. Die Daten werden mit ausländischen Behörden abgeglichen. Um Gefährder präziser und einheitlicher einzustufen, hat das Bundeskriminalamt (BKA) in den vergangenen zwei Jahren mit der Universität Konstanz einen Fragebogen entwickelt. RADAR-iTE besteht aus einer Tabelle mit rund 70 Fragen, etwa ob die Person Zugang zu Waffen hat, wie sie mit Behörden umgeht oder ob sie in einer persönlichen Krise steckt. Am Ende ergibt sich je nach Punktzahl für die Kategorien ein hohes, auffälliges oder moderates Risiko. Die Ergebnisse will das BKA zentral speichern und immer wieder überprüfen lassen.

Über deren Staatsangehörigkeit wissen wir noch weniger.

Aus der Antwort auf eine Anfrage im Landtag von Baden-Württemberg geht hervor, dass dort „derzeit eine hohe zweistellige Zahl an Personen als ‘Gefährder’ eingestuft” ist:

Bei der Mehrheit der aktuell als „Gefährder“ eingestuften Personen handelt es sich um ausländische Staatsangehörige. Über die Hälfte der ausländischen Staatsangehörigen verfügt über die syrische Staatsangehörigkeit. Hinzu kommen „Gefährder“ mit tunesischer, türkischer, pakistanischer, rumänischer, marokkanischer, libyscher, libanesischer, irakischer, gambischer, französischer, schweizerischer und bosnisch-herzegowinischer Staatsangehörigkeit.

Afghanen sind zumindest in BaWü also nicht darunter.

Bekannt ist aus den Medien nur ein afghanischer Fall, aus einem Bericht der Bild-Zeitung, der am 1.8.17 vom Focus übernommen wurde (dort nicht mehr online, aber bei mir im Archiv gespeichert), dass im Juni 2017 „ein Flugzeug (…) in Richtung Afghanistan starten“ sollte (was dann wieder abgesagt wurde), „um 72 abgelehnte afghanische Asylbewerber aus Deutschland in ihre Heimat abzuschieben“, darunter „39 Straftäter und ein Gefährder“ [meine Hervorhebung].

Anfang September hat das Bundesland Bremen erstmals einen sogenannten islamistischen Gefährder abgeschoben, so Informationen von Radio Bremen. Der Mann aus der russischen Teilrepublik Dagestan wurde von Frankfurt/Main nach Moskau ausgeflogen. Nach Angaben der Innenbehörde hat der junge Mann in Internet-Chats konkrete Anschlagziele in Bremen genannt. Auch Pläne zum Bombenbau wurden bei dem jungen Mann gefunden. Allerdings sei “unklar, was mit dem jungen Mann nach seiner Ankunft in Russland passiert ist. Seine Anwälte in Deutschland teilten mit, der Mann habe am Flughafen in Russland nicht wie geplant seinen russischen Anwalt getroffen.” Zudem erfolgte die Abschiebung, obwohl beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte noch die Entscheidung anhängig ist, ob die Rückführung des Mannes gegen Menschenrechte verstößt. In Russland wird in Gefängnissen. Für mich stellt sich die Frage, ob der Mann nach Aufdeckung seiner Anschlagspläne im Gefängnis noch gefährlich war und die Abschiebung wirklich notwendig war.

Rechtsprechung

Am 22.8.17 billigte das Bundesverwaltungsgericht in zwei Grundsatzentscheidungen die Abschiebung von Terrorverdächtigen aus Deutschland, schrieb der Tagesspiegel – und zwar nachdem die Abschiebungen (nach Algerien und Nigeria) schon vollzogen wurden:

Das Gericht in Leipzig wies am Dienstag die Klagen zweier mutmaßlicher islamistischer Gefährder gegen Abschiebungsanordnungen des niedersächsischen Innenministeriums ab. 

Es ist das erste Mal, dass das oberste deutsche Verwaltungsgericht über Abschiebungen auf Grundlage von Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes entschieden hat. Die Regelung besagt, dass „gegen einen Ausländer auf Grund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen“ werden kann.

Die taz schrieb vor dieser Entscheidung zur Abschiebepraxis und Präzedenzfällen:

Schon seit dem Jahr 2004 gibt es die Möglichkeit, gefährliche Ausländer sofort abzu­schieben, auch wenn sie eigentlich ein Aufenthaltsrecht haben. Erforderlich ist eine „terroristische Gefahr“, so Paragraf 58a des Aufenthaltsgesetzes. Von dieser Möglichkeit wurde aber wohl nie Gebrauch gemacht, da die Hürden für den Nachweis als unerreichbar hoch galten.

Erst der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) nutzte das Instrument offensiv. Im Februar erließ er zwei Abschiebungsanordnungen gegen Göttinger Islamisten [aus Bosnien-Herzegowina]. In einem Eilbeschluss billigte im März das Bundesverwaltungsgericht das Vorgehen und definierte die Schwelle der terroristischen Gefahr ziemlich niedrig. Es genüge ein „beachtliches Risiko“, dass der Ausländer einen terroristischen Anschlag verübt. Letztlich reichen eine islamistische Gesinnung plus eine vage Gewaltbereitschaft.

Die Richter rechtfertigen dies damit, dass sich ein Terroranschlag „ohne großen Vorbereitungsaufwand und mit allgemein verfügbaren Mitteln jederzeit und überall verwirklichen“ lasse. Wenn im Herkunftsstaat die Gefahr von Folter drohe, müsse allerdings eine Zusicherung der dortigen Regierung eingeholt werden, dass der Abgeschobene nicht unmenschlich behandelt wird.

Ist das im Falle des bereits von Bremen abgeschobenen Dagestaners, der i.Ü. laut taz “in Deutschland aufwuchs und fast sein gesamtes Leben hier verbrachte”, geschehen? Und wie viel ist eine russische Zusicherung wert? Wir viel wäre die Zusage afghanischer Behörden wert, wenn sie zusicherten, ein abgeschobener Afghane – Gefährder, Straftäter oder auch nicht – würde keine unmenschliche Behandlung zu erwarten haben?

Pro Asyl hatte zuvor zur Tatsache Stellung genommen, dass „nur Straftäter“ und Menschen aus ähnlichen Kategorien abgeschoben werden sollen:

Der Beschluss der Bundesregierung lässt viele Interpretationsspielräume für weitere Abschiebungen. Dehnbar ist zum Beispiel der Begriff der »Ausreisepflichtigen, die hartnäckig ihre Mitwirkung an der Identitätsfeststellung verweigern«. Schutzsuchenden ohne Pass kann das pauschal unterstellt werden [und laut Spiegel kann man schon diese Kategorie kommen, wenn man „Fristen versäumt“]. Der Fall des afghanischen Schülers aus Nürnberg zeigt, wie umstritten die Frage oft ist, ob jemand sich tatsächlich einer Mitwirkungspflicht entzogen hat. Trotz mehrfacher Vorsprache zur Passbeschaffung bei der afghanischen Botschaft wurde dem Betroffenen mangelnde Mitwirkung vorgeworfen. Auch die Begriffe »Straftäter« und »Gefährder« sind in höchstem Maße problematisch und werden zudem höchst unterschiedlich interpretiert. Auch für sie gelten die Menschenrechte.