Wie hier berichtet, hat die Bundesregierung einen neuen Afghanistan-„Stand- und Perspektivbericht“ vorgelegt, der zur Unterrichtung des Bundestags dienen soll, aber am 6.3.2018 von der ARD in Auszügen bekannt gemacht wurde. Darin hieß es, der Bericht zeichne

…ein düsteres Bild von der Lage im Lande: Die sei geprägt durch „unzureichende Effektivität der staatlichen Verwaltung und Sicherheitskräfte, verstärkte Angriffe der Taliban sowie von IS-Gruppen, Korruption, Armut und Arbeitslosigkeit, Flucht und Migration.“ Dass sich zwischen der afghanischen Armee und den Taliban zuletzt ein „strategisches Patt“ gebildet habe, wird bereits als Fortschritt verzeichnet. (…)

Dabei habe es seit 2001 deutliche Erfolge gegeben, etwa in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Versorgung mit Wasser und Strom. Diese positive Entwicklung habe sich seit 2013 allerdings „deutlich verlangsamt und teils auch wieder umgekehrt.“ (…) Auch die Rahmenbedingungen für das zivile Engagement Deutschlands hätten sich in den vergangenen Jahren deutlich verschlechtert: „Kampfhandlungen, Anschläge und Entführungsgefahr erlauben Investitionen und Beratungsleistungen nur noch unter strengen Sicherheitsvorkehrungen.“ (…)

Ein vorzeitiger Abbruch des militärischen oder zivilen Engagements „könnte [aber] eine Kettenreaktion mit unkalkulierbaren Folgen für die innere wie regionale Stabilität auslösen.“

Dem Tagesspiegel zufolge heißt es im Perspektivbericht weiter, dass sichauch

… die Bedrohungslage auch im Verantwortungsbereich der Bundeswehr im Norden Afghanistans weiter verschärft.

Laut Spiegel heißt es weiter, Afghanistan benötige

… auf absehbare Zeit eine konsequente und adäquate Präsenz“ der Nato, um die lokale Armee zu stärken. Wie lange diese „absehbare Zeit“ sein wird, bleibt völlig offen, wolkig ist von einer „Generationenaufgabe“ die Rede. An anderer Stelle heißt es, Deutschland müsse „strategische Geduld“ beweisen. Starre Fristen – gemeint ist der 2014 erfolgte Abzug der internationalen Kampftruppen – hätten sich in der Nachschau als „kontraproduktiv“ erwiesen.

Die Deutsche Welle berichtete:

Aufschluss über Deutschlands Blick auf den afghanischen Staat bietet dieser Satz: Der Schutz der Menschenrechte werde „durch einen allgemeinen Scharia-Vorbehalt, eine fehlende Instanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung und ein allgemein schwaches Gerichtswesen beeinträchtigt“.

Dass die afghanische Regierung intern sehr zerstritten sei, thematisiere der Bericht der Bundesregierung allerdings nicht.

 

Unten nun zum Dagegenlesen mein aktualisiertes „Konfliktporträt Afghanistan“, das ich für Bundeszentrale für Politische Bildung schrieb und am 18.12.17 auf deren Webseite erschien – hier zur bpb-Webseite.

Zum Vergleich hier zur vorhergehenden Version des Konfliktporträts von Ende 2015.

Eine aktuelle Fassung in englischer Sprache, die aber nicht völlig mit der neuen deutschen Fassung identisch und ein paar Wochen älter ist, findet sich hier auf der Webseite des norwegischen Friedensforschungsinstituts PRIO.

Der Kabuler Flughafen nach einem Raketenangriff am 3.7.2014. Foto: ToloNews.

 

Thomas Ruttig

18.12.2017

Der bewaffnete Konflikt hält bei hoher Intensität an. Die USA verstärken unter Präsident Trump wieder ihre militärischen Anstrengungen, doch die Taliban haben weiterhin die Initiative. Ein Durchbruch zu Gesprächen über eine politische Lösung gelang nicht. Gleichzeitig wachsen Armut und Ungleichheit.

Aktuelle Konfliktsituation

Der bewaffnete Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und ihren internationalen Verbündeten sowie bewaffneten radikal-islamistischen Aufständischen hielt auch 2017 auf hohem Niveau an. Zentrale Indikatoren belegen, dass sich der Konflikt seit 2015 weiter verschärfte. Die UNO registrierte 2016 die bisher höchste Anzahl (23.712) sogenannter sicherheitsrelevanter Zwischenfälle. Auch wenn die Taliban weiterhin die militärische Initiative haben, scheint aus heutiger Sicht ein Sieg unwahrscheinlich. Doch die Situation wird immer fragiler. Die UNO spricht in ihrem August-Bericht 2017 an den Sicherheitsrat von einem „erodierenden Patt“.[1]

Die Zahl der zivilen Opfer stieg 2016 mit 11.418 (davon 3498 Tote und 7920 Verletzte) erneut auf ein Rekordniveau. Bis Ende September 2017 waren es bereits 2.640 Tote und 5.379 Verletzte. Einen großen Anteil daran hatten die Anschläge des afghanisch-pakistanischen Ablegers des sogenannten Islamischen Staates, der sich „IS Khorasan-Provinz“ (ISKP) nennt. Sie richteten sich besonders gegen die schiitische Minderheit.

Nach dem Rekordzuwachs 2016 (um 660.000) wuchs 2017 auch die Zahl der konfliktbedingt Binnenvertriebenen noch einmal kräftig um 293.889 an (Stand 16.10.17). In 30 von 34 Provinzen wurden Menschen vertrieben; alle 34 Provinzen nahmen Binnenvertriebene auf. Auch die afghanischen Regierungstruppen erlitten 2016 nie dagewesene Verluste, die doppelt so hoch lagen wie bei Zivilisten: über 8.100 Tote und über 14.000 Verletzte. Auch hier ist für 2017 nach zwei Wellen gezielter Taliban-Angriffe von Mai bis Juli und im Oktober mit einer weiteren Steigerung zu rechnen.

Die Taliban bleiben unter den Aufständischen mit Abstand die stärkste Kraft. Sie nutzten die Reduzierung der westlichen Truppen und die Beendigung ihrer Kampfmission sowie die mangelhafte Konsolidierung der afghanischen Streitkräfte zu weiteren Geländegewinnen. Zwischen Ende 2015 und Ende 2016 büßte die afghanische Regierung die Kontrolle über 15 Prozent ihres bisherigen Territoriums an die Taliban ein. Diese dehnten nach einer kurzen Konsolidierung im ersten Halbjahr 2017 ihren Einflussbereich weiter leicht aus. Mehrere Provinzzentren (z.B. Kundus, Laschkargah/Provinz Helmand, Tirinkot/Urusgan und Ghasni) stehen unter hohem Druck oder verzeichnen anhaltende Kämpfe in ihrer unmittelbaren Umgebung. Der ISKP kontrolliert dagegen lediglich Teile weniger Distrikte, vor allem in Ost-Afghanistan, und verlor 2017 durch Luftschläge nacheinander drei seiner Anführer.

Die amerikanische „Mutter aller Bomben“ wurde im April 2017 im Mamand-Tal in der Ostprovinz Nangrahar auf IS-Kämpfer abgeworfen. Foto: AAN-Archiv.

Abwurf in einer Luftaufnahme des US-Militärs. Foto: Bildschirmfoto.

Die USA beabsichtigen, 3.800 zusätzliche Soldaten nach Afghanistan zu entsenden, allerdings nur 2.800 davon im Rahmen der US-geführten NATO-Mission „Resolute Support“ (RS). Andere NATO-Mitgliedsstaaten wollen bisher 700 weitere Soldaten bereitstellen. Die RS-Truppenstärke würde damit auf knapp 16.000 (ca. 12.000 Amerikaner und 4.000 andere, davon maximal 960 Bundeswehr-Angehörige) anwachsen. Der Bundesregierung liegen Anfragen aus Washington vor, sich an der Aufstockung zu beteiligen; die Entscheidung wurde auf März 2018 vertagt. RS hat vor allem die Aufgabe, die afghanischen Streitkräfte (ANSF) weiter auszubilden, zu beraten und logistisch zu unterstützen. Dazu kommen die parallele, aus US-Spezialeinheiten bestehende Mission „Freedom’s Sentinel“ sowie 23.600 zivile Kontraktoren, die für das US-Militär arbeiten (Stand Oktober 2017), von denen aber nur ein Fünftel bewaffnet ist. Zudem dehnten die USA ihre Luftangriffe aus, forcieren den Auf- und Ausbau afghanischer Spezialkräfte und kündigten an, die paramilitärischen Aktivitäten der CIA in Kooperation mit Milizen zu erweitern. Alles deutet auf eine weitere militärische Eskalation hin.

Chief Executive Dr Abdullah (links) und Präsident Aschraf Ghani (r.). Foto: Pajhwok

Die oppositionelle Ankara-Koalition (v.l.n.r.): Muhammad Nateqi (Vizechef der Wahdat-Partei von Vize-„Premier“ Mohaqqeq), Dostum, Gouverneur Atta, Mohaqqeq selbst, Ghanis Außenminister Rabbani. Foto: Attas Facebook-Seite

Nicht ganz in der Opposition: Stabilitätsrat unter Sajjaf mit (2.v.l.), auderdem Dschamiat-Chefs Bismillah, Qanuni, Ismail Chan (v.l.n.r.). Foto: Afghanistan Times

Wandelt ebenfalls auf Oppositonspfaden: Ex-Präsident Hamed Karsai, mit seinem Berater Rangin Spanta (l.). Photo: NATO.

 

Die nach der Präsidentenwahl 2014 nach US-Intervention zustande gekommene „Nationale Einheitsregierung“ (NUG) unter Präsident Aschraf Ghani und De-facto-Kabinettschef Abdullah Abdullah[2] ist intern zerstritten und ineffektiv. Im Streit zwischen beiden Lagern nahmen die ethnischen Spannungen zwischen Paschtunen – der größten ethnischen Gruppe im Land – und Nicht-Paschtunen zu. Die verfassungsmäßig für 2015 vorgesehenen Parlaments- und Distriktratswahlen sind nun für Juli 2018 geplant. Aber selbst dieser Termin ist unwahrscheinlich, da notwendige Vorbereitungen und vereinbarte Reformen stocken. Die hauptsächlich aus früheren Mudschaheddin-Parteien und Anhängern von Ex-Präsident Hamed Karsai bestehende politische Opposition drängt auf die Bildung einer neuen Wahlkommission und einer Übergangsregierung, die die Wahlen vorbereiten soll.

Das Parlament arbeitet auf der Grundlage umstrittener Präsidialdekrete weiter; einige Abgeordnete haben sich wegen fehlender Legitimität zurückgezogen. Es ist wegen eines Verbots parteiengestützter Fraktionen fragmentiert. Damit fehlt eine wichtige Institution im verfassungsmäßigen demokratischen System. Die Gewaltenteilung ist ausgehebelt, die Macht des Präsidentenapparats ist auf Kosten der Legislative und auch des Kabinetts gewachsen.

Die politische Blockade verzögert auch die Reformen, die Afghanistan aus seiner Wirtschaftskrise herausführen sollen. Sie sind Kernstück der von Präsident Ghani ausgerufenen zehnjährigen Transformationsphase (2014-24), an deren Ende Afghanistan ein „normales Entwicklungsland“ mit stark reduzierter Abhängigkeit von externen Finanzressourcen sein soll. Das Wirtschaftswachstum – von 2002 bis 2012 durchschnittlich ca. 9% – fiel 2013 drastisch und bewegt sich seither um die 2% (2016: 2,2%). Laut Weltbank stieg die Armutsrate (auf 39,1%, letzte verfügbare Werte 2013/14) und damit auch die soziale Ungleichheit. Im UN-Index für menschliche Entwicklung HDI nahm Afghanistan 2016 Platz 169 (von 188 Ländern) ein. Es gehört weiterhin zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt (LLDC).

Tödliche Blüten: Opiummohmfeld in der Provinz Paktia. Quelle: US-PRT Gardez.

Tödliche Blüten: Opiummohmfeld in der Provinz Paktia. Quelle: US-PRT Gardez.

Nach einem Rückgang 2015 stieg die Opiumproduktion nach UN-Schätzungen 2016 und 2017 deutlich an. Auf das Land entfielen knapp 90% der Weltproduktion an Opiaten. Der Gesamtwert verdoppelte sich 2016 und entspricht 16% des Bruttoinlandsprodukts. Auf beiden Seiten des Konflikts profitieren Akteure von den Einnahmen, allerdings in ungleichem Maße. Nach UN-Angaben nahmen die Taliban 2016 160 Mio. US-Dollar aus der Besteuerung der Drogenwirtschaft ein; das sind lediglich 5,4% des Gesamtwertes von 3 Mrd. US-Dollar.

2015/16 kamen etwa 250.000 Afghanen als Flüchtlinge nach Europa, davon mehr als die Hälfte nach Deutschland. Laut Statistischen Bundesamt lebten Ende 2016 hier 191.000 „schutzsuchende“ Afghanen (vor 2015 Angekommene eingeschlossen). Die Schließung der EU-Außengrenzen, verstärkte Kontrollen an Binnengrenzen und das EU-Türkei-Abkommen verringerten 2017 die Ankunft afghanischer Flüchtlinge in Europa drastisch. Die Zahl ihrer Asylanträge lag bis August 2017 bei 12.262; dazu kamen ca. 7.500 asylsuchende Neuankömmlinge.

König Amanullah (reg. 1919-29) mit Königen Soraya. Foto: Archiv.

Als er Reformen versuchte, begannen die Modernisierungskonflikte: König Amanullah (reg. 1919-29) mit Königen Soraya in Berlin 1928. Foto: Archiv.

 

Ursachen und Hintergründe

Die Ursachen für die heutigen Konflikte in Afghanistan liegen in Auseinandersetzungen zwischen Modernisierungsbefürwortern und -gegnern. Sie zogen sich durch das gesamte 20. Jahrhundert und internationalisierten sich Kontext des Kalten Krieges. Die seit der Reformperiode unter König Amanullah (1919-29) entstehenden gebildeten Schichten wurden nicht in den stagnierenden, renten-orientierten Staat integriert. Die US-geführte Intervention westlicher Staaten ab 2001 hat diesen Grundkonflikt nicht gelöst, sondern nur noch weiter verstärkt. In ihrem Ergebnis gelangten islamisch-konservative und islamistische Kräfte in Schlüsselpositionen in Regierung, Parlament, Justiz, Sicherheitskräften und der islamischen Geistlichkeit.

Im Land dominiert ein unter dem ehemaligen Präsidenten Karzai (2001-14) geschaffenes Patronage-System. Rechtsstaatliche Strukturen werden von Gewalt und Korruption untergraben. Politische Netzwerke konkurrieren um wirtschaftlichen Einfluss und knapper werdende Ressourcen. Sie bilden dabei oft mafiöse Züge aus, vor allem wenn sie mit der Drogenökonomie verbunden sind. Das Parlament ist wegen des Verbots parteigestützter Fraktionen zersplittert. Konservative und Islamisten leisten Widerstand gegen als „westlich“ denunzierte Reformen, etwa bei den Menschenrechten. Ex-Mudschaheddin, Ex-Taliban und Ex-Kommunisten im Parlament haben 2008 eine Selbstamnestie für Kriegsverbrechen der Vergangenheit beschlossen. Für demokratische Kräfte bleibt so wenig Raum. Die Aufstandsbewegung ist mehr Symptom denn Ursache dieser Grundkonflikte. Die Justiz gilt als korruptester Bereich der Staatsinstitutionen.

Ein zentraler Konfliktkatalysator ist der Grenzkonflikt mit dem Nachbarland Pakistan. Afghanistan erkennt die koloniale Grenzziehung nicht an, die das Siedlungsgebiet der Paschtunen durchtrennt, das historisch zu Afghanistan gehörte. Seit der Staatsgründung Pakistans 1947 unterstützen beide Länder gegenseitig Autonomie-, Sezessions- und ideologische Aufstandsbewegungen. Die pakistanische Unterstützung für die afghanischen Taliban ist nur das jüngste Beispiel. Pakistan rivalisiert auch mit Iran um Einfluss in Afghanistan.

Gesprächsgegner oder – befürworter? Der neue Talebanchef Hibatullah Achundsada. Foto: Archiv

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Trotz aller gegenteiligen Rhetorik und westlich gesponserter „Friedens- und Versöhnungsprogramme“ der afghanischen Regierung hat es bisher keine wirklichen Friedensverhandlungen mit den Taliban gegeben. Die USA lehnten es in der gesamten Regierungszeit von George W. Bush (2001-09) ab, mit den Taliban überhaupt nur zu reden. Dahinter stand die Fehleinschätzung, dass die Taliban mit Al-Qaida Teil eines „Terror-Syndikats“ bildeten. Anstatt auf Gespräche, setzten die USA auf den militärischen Sieg über die Taliban.

Die De-facto-Kapitulation der Taliban gegenüber Karzai Ende 2001 wurde ebenso ignoriert wie die Möglichkeit, eine Gruppe hochrangiger Anführer der Taliban, die (zum Teil aus US-Haft) nach Kabul zurückgekehrt waren, als Gesprächskanal zu nutzen. Einige wurden Mitglieder des 2010 berufenen Hohen Friedensrates, der sich jedoch als ineffektiv erwies. Zwischen 2004 und 2007 schließlich versäumte es die afghanische Regierung ebenso wie ihre internationalen Alliierten, die in den Reihen der Taliban geführte Debatte zu nutzen, ob die aus Irak importierte Methode rücksichtsloser Selbstmordanschläge „islamisch“ sei, da ihnen vor allem afghanische Zivilisten und Gläubige zum Opfer fielen. Im Zuge dieser Debatte gewann vorübergehend ein Flügel der Taliban an Stärke, der eine politische Lösung zur Beendigung des Krieges befürwortete.

Ein 2011 mit deutscher und katarischer Hilfe entwickelter Gesprächskontakt zwischen den USA und der Taliban-Führung brach im März 2012 zusammen. Die Karzai-Regierung stand diesen Kontakten nicht nur ablehnend gegenüber, sondern sabotierte sie aktiv mit dem Argument, die internationale Gemeinschaft habe zugesagt, dass alle „Versöhnungsbemühungen“ unter „afghanischer Führung“ erfolgen würden.

Die seit 2014 amtierende neue Regierung unter Präsident Aschraf Ghani versucht, den Taliban-Unterstützer Pakistan über dessen Hauptverbündeten China unter Druck zu setzen, um die Aufständischen an den Verhandlungstisch zu zwingen. Die Führung in Beijing sagte Präsident Ghani dafür Unterstützung zu. Schließlich kam es im Juli 2014 zu ersten Direktgesprächen in Pakistan im Rahmen der „Vierseitigen Koordinierungsgruppe“[3], zu der Afghanistan, China, Pakistan und die USA gehören. Als die Veranstalter im Juli 2015 die vereinbarte Geheimhaltung brachen und die Nachricht vom mehrere Jahre zurückliegenden, von den Taliban bis dahin aber geheim gehaltenen Tod ihres Gründers Mullah Muhammad Omar nach außen sickern ließen, brach auch dieser Gesprächskanal zusammen. Die Gespräche in Pakistan und Druck der afghanischen Regierung ließen auch parallele zivilgesellschaftliche und Track-II-Vermittlungsversuche versiegen.

Im September 2016 schloss die Regierung in Kabul Frieden mit der Islamischen Partei Afghanistans (IPA), der bis dahin zweitstärkten Aufstandsbewegung. Die IPA verpflichtete sich zur Entwaffnung und kann sich im Gegenzug dazu politisch betätigen. IPA-Führer Gulbuddin Hekmatjar kehrte nach Kabul zurück. Im Oktober 2017 nahm die QCG ihre Konsultationen wieder auf und konzentriert sich nunmehr auf regionale Aspekte der Friedenssuche. Die Taliban lehnen offiziell Direktgespräche mit Kabul ab, jedoch nicht generell eine Verhandlungslösung. Kabul strebt dagegen zunächst einen „Friedensschluss“ mit Pakistan an, um so dessen Unterstützung für die Taliban zu unterbinden. Die USA wiederum wollen die Taliban mit militärischem Druck zwingen, mit Kabul zu verhandeln.

Sieht triumphaler aus als es war: Die letzten sowjetischen Panzer passieren die Brücke zwischen Hairaton und Termez.

Sieht triumphaler aus als es war: Die letzten sowjetischen Panzer verlassen nach zehn Jahren Besetzung im Februar 1989 Afghanistan. Foto: Archiv.

Sowjetische Hinterlassenschaft auf dem Flughafen von Kundus. Foto: Thomas Ruttig (2005)

Konfliktgeschichte

Der afghanische Staat begann 1973 zu wanken, als die Monarchie unzureichend auf eine mehrjährige Dürreperiode reagierte und durch einen Putsch gestürzt wurde. Der Putsch beendete eine 40-jährige Periode weitgehenden inneren Friedens. Gegen einen weiteren Staatsstreich afghanischer Kommunisten am 27. April 1978 und ihre von oben verordneten Reformen formierte sich schnell breiter Widerstand. Es begann ein langer Bürgerkrieg. Bereits existierende kleine Guerillagruppen erhielten die Unterstützung Pakistans. Die Entsendung sowjetischer Truppen Ende 1979 internationalisierte die Auseinandersetzungen. Die Mudschaheddin-Gruppen wurden über Pakistan von den USA und Saudi-Arabien militärisch und finanziell unterstützt. Pakistan förderte einseitig islamistische Fraktionen und drängte säkulare linke, nationalistische und monarchistische Widerstandsgruppen ins Abseits.

Nach dem Truppenabzug im Februar 1989, dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und der Einstellung der Finanzhilfe an Kabul durch Russland im Folgejahr übernahmen die Mudschaheddin im April 1992 die Herrschaft in Kabul. Versuche verschiedener Fraktionsführer, die Macht zu monopolisieren, mündeten in einen neuen Bürgerkrieg. Dies nutzten die von Pakistan unterstützten Taliban, um schrittweise die Macht zu übernehmen. Im Jahr 1996 nahmen sie Kabul ein, riefen ein Islamisches Emirat aus und gewährten Al-Qaida-Gruppen Zuflucht. Die Radikalität der Taliban und die Verletzung internationaler Standards der Menschenrechte führten in die außenpolitische Isolation. Nach dem 11. September 2001 wurde das Regime zum ersten Ziel des „Kriegs gegen den Terror“ der Bush-Administration, weil es sich weigerte, Al-Qaida-Anführer Osama bin Laden auszuliefern, den mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge.

Mit dem „Bonner Prozess“ auf der Grundlage des Petersberger Abkommens vom 5. Dezember 2001 begann der Neuaufbau politischer Institutionen, die dem Staat seine Handlungsfähigkeit zurückgeben sollten. Formal wurde durch die Präsidentschaftswahlen 2004 und 2009 und die Parlamentswahlen von 2005 und 2010 eine demokratische Transition eingeleitet. Korruption, Ineffizienz und mangelnde Bereitschaft zur Machtteilung haben jedoch verhindert, dass sich demokratische Strukturen konsolidieren.

 

Literatur

Centlivres-Demont, Micheline (Hrsg.) (2015): Afghanistan: Identity, Society and Politics Since 1980, London: I.B. Tauris.

Coll, Steve (2004): Ghost Wars: The Secret History of the CIA, Afghanistan, and Bin Laden, from the Soviet Invasion to September 10, 2011, New York. Penguin Press.

Daxner, Michael (Hrsg.) (2014): Deutschland in Afghanistan, Oldenburg. BIS-Verlag der Carl von Ossietzky Universität.

Giustozzi, Antonio (2009): Decoding the New Taliban: Insights from the Field, London: Hurst C & Co Publishers Ltd.

Rashid, Ahmed (2001): Taliban: Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München: Droemer.

Ruttig, Thomas (2014): „Einiges besser, nichts wirklich gut“, in: WeltTrends (Potsdam), Jan/Feb. 2014.

Ruttig, Thomas (2008): Afghanistan: Institutionen ohne Demokratie, SWP Berlin.

Schetter, Conrad (2004): Kleine Geschichte Afghanistans, München: C.H. Beck.

Vogelsang, Willem (2008): The Afghans, Chichester: Wiley-Blackwell.

 

Wichtige Berichte (auf Englisch)

Berichte des UN-Sondergesandten an den Weltsicherheitsrat.

Berichte der UN-Mission über zivile Opfer in Afghanistan.

Vierteljahresberichte des Sondergeneralinspekteurs der US-Regierung für Wiederaufbau in Afghanistan (SIGAR).

Costs of War Project der Brown University.

 

Links

Aktuelle Analysen zu den Entwicklungen in Afghanistan: Afghanistan Analysts Network

darunter: ‘Snapshots of an Intervention’: The Unlearned Lessons of Afghanistan’s Decade of Assistance (2001–11), E-Book, Juli 2012. Themendossier Afghanistaneinsatz der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin

Studien zu verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen in Afghanistan: Afghanistan Research and Evaluation Unit. Berichte und Analysen der International Crisis Group zu Afghanistan

Aktuelle Bibliografien und Link-Listen bei: The Afghanistan Analyst: A Resource for Researching Afghanistan

Blog von Thomas Ruttig zu Afghanistan: Afghanistan Zhaghdablai

Sendungen von ARTE zu Afghanistan

 

Fußnoten

1.

https://unama.unmissions.org

2.

Die offizielle Bezeichnung ist Chief Executive. Die afghanische Verfassung sieht eigentlich keinen Premierminister vor. Der Posten wurde extra geschaffen, um das Lager des bei den Präsidentschaftswahlen von 2014 unterlegenen Abdullah in die politische Führung des Landes einzubinden.

3.

Quadrilateral Coordination Group – QCG (siehe z.B. Artikel der Zeitung „The Diplomat“ über die Friedensgespräche).

 

 

Thomas Ruttig ist einer der Direktoren und Gründer des „Afghanistan Analysts Network“.

 

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/

Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-nd/3.0/

Autor: Thomas Ruttig für bpb.de