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Die Initiative FragDenStaat, die sich für Informationsfreiheit einsetzt, hat die Bundesregierung gezwungen, den neuesten „Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage“ in Afghanistan des Auswärtigen Amtes zu veröffentlichen, wenn auch mit Schwärzungen. Dieser Bericht war in seinem Gesamttext bisher als Verschlusssache klassifiziert und wurde nur an die Mitglieder des Bundestags, Gerichte, die über Asylanträge entscheiden, und wohl auch Anwälte, die Klagen gegen bestimmte Urteile führen, herausgegeben. Diese mangelnde Transparenz ist – und bleibt, wegen der Schwärzungen – weiterhin problematisch, weil die vollständige Grundlage, auf der über Asylanträge entschieden und in vielen Fällen Abschiebungen bzw zumindest Abschiebungsandrohungen resultieren, weiterhin der Öffentlichkeit unbekannt bleibt. Die Schwärzungen betreffen ja gerade heikle Feststellungen, zum Beispiel was die Verlässlichkeit der Regierung und von Gerichten in Afghanistan betrifft.

Die Initiative schreibt auf ihrer Webseite:

Teile des an uns herausgebenen Berichts enthalten Schwärzungen. Sie betreffen vor allem eigene Einschätzungen des Auswärtigen Amts, in denen afghanische Institutionen wie Behörden und Gerichte kritisiert werden. Zum Schutz der internationalen Beziehungen seien diese unkenntlich gemacht worden. Damit konnte auch die ursprüngliche Einstufung des Dokuments mit der Geheimhaltungsstufe „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebraucht“ aufgehoben worden.

Die teilgeschwärzte Version des AA-Berichts kann man bei FragDenStaat hier lesen.

Bildschirmfoto. Quelle: FragDenStaat

 

Hier mein eigener Kommentar zum AA-Asyllagebericht, vorgetragen in einer Veranstaltung im Bundestag am 29.6.18, organisiert von der B’90/Grünen-Fraktion

(Volltextfassung auf der Grundlage verwendeter Stichpunkte)

Inhaltlich ist der AA-Bericht – wie sein Vorgängerbericht von 2016 – erneut thematisch ungleich gewichtet. Die „Bedrohungslage für die afghanischen Sicherheitskräfte, Amtsträger und lokale Mitarbeiter internationaler Organisationen“ und „für afghanische Zivilisten (Kapitel 2.1., 2.2) sowie die militärische Gesamtlage (Kap. 4) – aus denen die Fluchtursachen der meisten in Deutschland um Asyl nachsuchenden Afghanen hervorgehen – werden auf nur 5 der insgesamt 30 Seiten abgehandelt.

Das mag den Vorgaben des Berichtsformats entsprechen (gleichartige Berichte müssen offenbar von allen Botschaften oder zumindest von denen in Herkunftsländern für Flüchtlinge eingereicht werden), den Realitäten in Afghanistan und ihrer Komplexität entspricht das aber in dieser Kürze nicht.

Daran ändert auch der Verweis auf die sehr viel ausführlicheren EASO-Länderberichte mit ihren nach Provinzen aufgeschlüsselten Daten nicht (zu dem im übrigen die deutschen Behörden nichts beitragen, im Gegensatz zu denen anderer EU-Mitgliedsländer). Hier möchte man schon wissen, welche Schlussfolgerungen das AA v.a. aus den provinzbezogenen Daten (z.B. zu der hohen Zahl an Sicherheitsvorfällen) von EASO für seine Aussagen zieht.

Viel größeren Raum nehmen im AA-Bericht „asylrelevante Tatsachen“ und die Bewertung der Menschenrechts- und innenpolitischen Lage ein, was für Anträge auf Gewährung von politischem Asyl (gemäß Art. 16a GG) von Belang ist. Solche Fälle sind in der Praxis jedoch eher selten. 2018 gab es bisher (Stand Juni 2018) nur 14 Anerkennungen von Afghanen auf dieser Grundlage.

In diesem Teil ist die Bewertung allerdings überwiegend realistisch, wenn auch hier und da unvollständig.

In den Teilen zur Sicherheitslage fällt auf, dass das AA meist nur „statische“ Einschätzungen vornimmt, aber keine Trends aufzeigt. (Im Vorgängerbericht 2016 war ja noch eine „Verbesserung“ der Sicherheitslage konstatiert worden.) Der neue AA-Bericht spricht etwa nur von einer „volatilen Sicherheitslage“ und einem „Patt“, während die UNO etwa von einem „erodierendenPatt“ spricht. Weder die Wieder-Einstufung Afghanistans durch den UN-Sicherheitsrat als „Krisenland“ (in conflict, nicht mehr post conflict) noch die Aussage von UNOCHA vom Dezember 2017, dass es „zunehmend Anzeichen dafür gibt, dass der ehemalige Konflikt niedriger Intensität [wahrscheinlich auf die frühen 2000er Jahre bezogen] jetzt zu einem Krieg eskaliert ist“, kommen in dem AA-Bericht vor – während sie z.B. im EASO-Bericht enthalten sind. Das ist eine verzerrende Auslassung.

Im übrigen führt das auch die Behauptung der Autor*innen ad absurdum, man tausche Informationen mit den UN und Nichtregierungsorganisationen aus: Diese werden, wie in diesem Falle, offenbar zwar gehört, aber nicht zur Kenntnis genommen. Das offenbart eine selektive Wahrnehmung der vorliegenden Quellen – im Gegensatz zum EASO-Bericht, der ebenfalls nur Fremdquellen zitiert und sich eigener Einschätzungen enthält.

Bis 2016 war, wie gesagt, noch von einer (wenn auch damals schon nicht durch Tatsachen nicht gedeckten) Verbesserung der Gesamtlage in Afghanistan die Rede. Dies wurde nun fallengelassen. Gleichzeitig wird auch nicht zugegeben, dass der Trend – von 2014 (dem Ende der ISAF-Mission) aus gerechnet – negativ ist, wie die meisten zugänglichen Parameter (Zahl der sicherheitsrelevanten Zwischenfälle, zivilen Opfer, Binnenvertriebenen, Verluste der afghanischen Streit- und Sicherheitskräfte; territoriale Taleban-Kontrolle) belegen. (Hier meine Lage-Einschätzung für das Jahr 2017 bei AAN, noch einmal aktuellere Zahlen demnächst hier.)

Aber trotzdem wäre es notwendig, dass der Bericht Trends aufzeigt, z.B. bei der militärischen Lage (ganze 4 Absätze!), in dem er verwendete und fehlende Eckwerte (z.B. die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle) über die Jahre vergleicht. Solche Trends üben einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Fluchtentscheidungen von Afghanen aus.

Insgesamt finden sich die meisten im AA-Bericht enthaltenen Informationen in öffentlich zugänglichen Quellen. Daher drängt sich der Eindruck auf, dass die Einstufung als Verschlusssache vor allem damit zu tun, einer öffentlichen Debatte über die Details des Berichts aus dem Weg zu gehen.

Verbrüderung zwischen Taleban und Polizisten in Zabul während des Eid-Waffenstillstands im Juni 2018. Foto: Tolo

 

Zu einzelnen Teilen des Berichts:

Zusammenfassung

Dieser Teil des Berichts enthält zahlreiche Euphemismen wie „schwierige Aufbauphase“, „staatliche Strukturen… noch nicht voll arbeitsfähig“ (in der Realität sind einige staatliche Strukturen nur sehr rudimentär arbeitsfähig, wenn überhaupt, v.a. auf subnationaler Ebene). Es ist von „starken regionalen Unterschieden“ in der Sicherheitslage die Rede. „Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen“ stehen andere gegenüber, in denen „trotz punktuelle[r] Sicherheitsvorfälle“ (die offenbar keine „Kampfhandlungen“ beinhalten) die Lage „vergleichsweise stabil“ sei. Kämpfe finden jedoch in fast allen Provinzen statt. Dass die Intensität dabei zeitlich und räumlich unterschiedlich ist, ist eine Binsenwahrheit.

Auch die UN weisen darauf hin, dass sich die Hälfte aller Sicherheitsvorfälle in fünf Provinzen ereignet. Rechnet man diese Provinzen heraus, zeigen die Zahlen des EASO-Berichts für 2017 immer noch durchschnittlich 400 Vorfälle, d.h. mehr als einen pro Tag, für alle anderen 29 Provinzen. (Bei allen Provinzen wären das 700 pro Jahr pro Provinz, also etwa 2 pro Tag.)

Erneut sind keine Angaben enthalten, welche angeblich „vergleichsweise stabil“ seien. Dabei ist klar, dass Provinzen mit geringer Zahl an Sicherheitsvorfällen (Samangan, Bamian, Daykundi, Pandschir) so isoliert und bevölkerungsarm sind, dass sie Inseln in Feindesland darstellen und man sie kaum als sicher oder stabil ansehen kann. Zudem gibt es selbst dort (mit Ausnahme Pandschirs) Distrikte mit relativ hoher Kampfintensität und sogar Taleban-Kontrolle.

Ähnlich sieht es bei Distrikten aus. Die Zahl der „stark konfliktbetroffenen Distrikte hat sich seit 2015 um 50% erhöht (UNOCHA-Angaben von Ende 2017). Zudem bewegen sich die Aufständischen regelmäßig über Distrikt- und Provinzgrenzen. Bei „ruhigen“ Distrikten kann es sich um Gebiete mit stabiler Talebankontrolle oder deren Rückzugsgebiete handeln, sowie solche, in denen die Regierung auf (Teile von) Distriktzentren beschränkt sind, es de facto-Nichtangriffspakte gibt oder die Taleban darauf verzichten, sie zu übernehmen, um Gegenschläge zu vermeiden.

V.a. terroristische Anschläge sind auch geografisch unberechenbar – d.h. können sich überall ereignen, auch in Gebieten, die mal für eine Weile „ruhig“ sind – der AA-Bericht spricht ja von einer „volatilen“ Lage. (Vergleichsweise) „ruhig“ bedeutet also nicht „stabil“ oder „nicht konfliktbetroffen“; „vergleichsweise stabil“ bedeutet nicht „stabil“.

Dass keine Trends aufgezeigt werden, wiederholt sich z.B. auch in den Abschnitten zur Regierungsführung und zum demokratischen Prozess, der als „weiterhin oft mangelhaft“ bezeichnet wird, ohne in Einzelbereichen eine positive oder negative Entwicklung zu konstatieren. In wichtigen Bereichen gibt es eher Rückschritte, z.B. bei den weitgehend ausgebliebenen Wahlreformen, die in eine dreijährige Verspätung der Parlamentswahlen resultierte. Im Bereich der Parteien, sozialen Organisationen und Medien gibt es eine “Austrocknung“ demokratischer oder zumindest unabhängiger Kräfte; bei den Parteien haben von wenigen Ausnahmen abgesehen die bewaffneten Ex-Mudschahedin-Fraktionen überlebt. Im Bereich der zivilgesellschaftlichen Organisationen (was auch Wahlbeobachter-Organisationen betrifft) ist eine Spaltung und Kooptierung durch die beiden Lager (Ghani und Abdullah) in der Regierung und damit eine zunehmend Ethnisierung zu verzeichnen, die zunehmend die Unabhängigkeit einzelner Akteure untergräbt. Bei den Medien sind v.a. kommerzielle Unternehmungen erfolgreich.

Ebenfalls hören sich Bemerkungen wie über den „rasanten Veränderungs- und Modernisierungsprozess“ oder die „selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen“, die „der Zivilgesellschaft eine stärkere Stimme verleiht“, positiv an, aber dies wird nicht einmal in Ansätzen qualifiziert. Insgesamt scheint aber eher eine weitere soziale Fragmentierung (ethnisch, arm/reich) vonstatten zu gehen. Dass eine „gebildete, moderne“ Jugend existiert, sagt noch nichts z.B. über deren Unterstützung der afghanischen Verfassungsnormen aus – auch Islamisten können modern und gebildet sein, und „neo-fundamentalistische“ Kräfte verzeichnen durchaus Einfluss und Zulauf, zumindest in gewissen Kreisen wie Studenten und jungen professionals.

Zudem enthält der Bericht einige, in Anbetracht des knappen zu Verfügung stehenden Raumes ärgerliche Füllsel, die offenbar eine krampfhafte Suche nach Positivem widerspiegeln – etwa dass Afghanistan für 2018-20 „erstmals in den UN-Menschenrechtsrat gewählt“ worden ist. Das ist kein Kriterium für positive Entwicklungen im Innern, wo es erhebliche, im Bericht auch benannte Defizite gibt. Mitglied im UN-Menschenrechtsrat ist auch Saudi-Arabien.

Schulkinder fliehen vor dem IS-Anschlag in Dschalalabad am 24.1.2018. Foto: Twitter

 

Abschnitte zu asylrelevanten Hintergründen

Richtig ist, dass es keine „systematische, staatlich organisierte Gewalt gegen die eigene Bevölkerung“ gibt. Ob dies auch für LGBT* und religiöse Konvertiten zutrifft (v.a. in ländlichen Gebieten, in denen außerhalb staatlichen Einflusses „traditionelle“ Rechtsprechung ausgeübt wird), ist trotz Abwesenheit berichteter Fälle aus jüngerer Zeit aber fraglich. Hierbei handelt es sich um „strukturelle“ Damokles-Schwerter, die jederzeit fallen können. Die starke Rolle der Scharia-Rechtsprechung im afghanischen Justizsystem und der „Islam-Vorbehalt“ in der Verfassung tragen zu dieser latenten Bedrohung bei. Sollte es zu Anklagen kommen (und das ist aus Fällen in der Vergangenheit bekannt), tut sich die Regierung schwer, die Rechte solcher Bürger zu verteidigen.

Insgesamt zeigt sich, dass der Staat für staatliche Gruppenverfolgung eifach nur zu schwach ist und bestimmte (islamistische) Kräfte, die hin und wieder (siehe EVAW Law) ihre Muskeln spielen lassen, nur durch die Anwesenheit westlicher Akteure tendenziell gezügelt werden.

Der Bericht weist aber zurecht auch auf den „beschränkten Einfluss“ der Zentralregierung auf örtliche Machthaber hin und dass deshalb die „Lebensbedingungen des Einzelnen“ von seiner „Stellung im örtlichen Machtgefüge“ abhängen. Das heißt, in weiten Teilen des Landes herrscht potenziell Willkürherrschaft und nicht Rechtstaatlichkeit. Nicht gesagt wird, dass das in quasi-staatliche Verfolgung ausarten kann, v.a. entlang lokaler und ethno-politischer Konfliktlinien.

Im Abschnitt über Pro-Regierungs-Milizen werden sie sogenannten Uprising Forces (eine nicht mehr so neue Kategorie) nicht erwähnt.

Zudem können existierende strukturelle Vorurteile (genderbasiert gegen Frauen, LGBT* etc; ethnischer Natur, v.a. gegen lokale Minderheiten; politischer Natur gegen tendenziell säkulare pro-demokratische Kräfte) in staatliche Diskriminierung oder Verfolgung ausarten, weil sie sichtbar bei staatlichen Behördenvertretern (z.B. in Gerichten oder bei der Polizei) vorkommen. Das wird dann – auch wegen der Schwäche des Staates – von den Betroffenen als staatliche Verfolgung begriffen (oft z.B. bei den Hazara, trotz ihrer rechtlichen Gleichstellung).

Die Feststellung, dass „die afghanischen Gerichte … weitgehend unabhängig von offizieller staatlicher Einflussnahme“ seien (nur ihre schlechte Ausstattung wird erwähnt) ist deutlich unterkomplex. Hier existiert starker Einfluss der Regierung (v.a. auf hoher und höchster Ebene, z.B. Oberstes Gericht), von lokalen Machthabern, bewaffneten Fraktionen und des religiösen Establishments.

Dass die hanafitische (sunnitische) Rechtsprechung „für alle Bürger“ gelte ist nicht ganz richtig: Sie gilt zumindest nicht bei Rechtsstreitigkeiten unter Schiiten, dafür existieren eigene Regelungen.

Behauptet wird, Kritik an der Regierung werde nicht sanktioniert. Das trifft so v.a. auf die Medien nicht zu. Dort wird bereits starke Selbstzensur geübt, d.h. über Korruption wird zwar berichtet, aber nicht in konkreten Fällen, v.a. wenn Mächtige beteiligt sind. Das berichten seit längerem auch afghanische Journalistenverbände. Diese berichten durchgehend auch von zunehmender Gewaltandrohungenvon Regierungsseite, die quantitativ (Zahl der Fälle) stärker als von Taleban-Seiten ist – wenn auch Taleban und IS mehr direkte Gewalt an Journalisten verüben als die Regierung. Im Bericht ist dann im nächsten Kapital (unter „Meinungs- und Pressefreiheit“) nur allgemein von einer erhöhten Bedrohungslage (zitiert wird „blutigstes Jahr“ 2017) und nur von „wachsender Kontrolledes Staates“ die Rede, die afghanische Journalisten beklagten. Später werden nebenbei dann auch staatliche Drohungen und „inhaltliche Einschränkungen“ erwähnt (S. 8/9).

Unter Vereinigungsfreiheit fehlt der Hinweis auf Versuche der Regierung in 2017, dieses Recht einzuschränken. Selbst wenn solche Gesetze manchmal nicht durchkommen – aufgrund der institutionellen Fragmentierung und gegenseitiger Blockade von Exekutive und Legislative –, hängen sie wie ein Damokles-Schwert über den betroffenen Teilen der Öffentlichkeit. Es scheint auch, dass die Regierung ein solches Vorgehen regelrecht zur Methode gemacht hat.

Weiter heißt es: „Eine systematische Politik der Einschränkung der Arbeit von Menschenrechtsverteidigern oder zivilgesellschaftlichen Akteuren von Seiten der Regierung gibt es in Afghanistan nicht.“ Auch das ist nicht ganz richtig. Z.B. hat die Ernennung von Hezb-e Islami-Mitgliedern und Ex-Taleban durch Präsident Karsai bereits vor Jahren zu einem spürbaren qualitativen Nachlassen der Aktivitäten der Unabhängigen Menschenrechtskommission (AIHRC) geführt – und man wird erst sehen, ob das von Ghani rückgängig gemacht wird. (In diesem Jahr stehen Neubesetzungen der AIHRC an). Die Kooption von zivilgesellschaftlichen Schlüsselaktivisten durch die Regierung führte in eine ähnliche Richtung.

Der Bericht konstatiert für Schiiten eine „verstärkte gesellschaftliche Ausgrenzung“, verengt das aber auf „Angst vor terroristischen Übergriffen“. Hingegen existieren weit verbreitete gesellschaftliche Vorurteile, die in quasistaatliche Diskriminierung münden können.

Dass „zwei Drittel aller Kinder eingeschult“ seien, muss stark angezweifelt werden, und wird das auch, z.T. sogar aus der Regierung selbst. Dies ist ein  Beispiel ungeprüfter Positivberichterstattung.

Dass die „Tätigkeit als Soldat oder Polizist … eine der wenigen vorhandenen Verdienstmöglichkeiten“ für junge Männer darstellt und deshalb für Zwangsrekrutierungen „kein Anlass“ bestehe, scheint eine bloße Annahme zu sein und sollte zumindest hinterfragt werden.

Höhlenschule in Bamian. Die Lehrerin – selbst ein Binnenflüchtling – und ihre Schüler. Foto: Thomas Ruttig (2016)

Abschnitt zur Binnenfluchtalternative („Ausweichmöglichkeiten“)

Positiv ist die deutlich realistischere Einschätzung im Vergleich zum Vorgängerbericht, z.B. die Feststellungen, dass die realistische Existenz einer solchen „vom Grad der sozialen Verwurzelung“ der/des einzelnen abhängt; dass auch in den Städten „kaum Anonymität zu erwarten“ (also Untertauchen sehr schwer möglich) ist und die früher postulierte „Absorptionsfähigkeit [sozialer und Familiennetzwerke] … durch die hohe Zahl an Binnenvertriebenen und Rückkehrern… bereits stark in Anspruch genommen“ ist. Das wird durch die jüngste Heraufstufung der unter der Armutsgrenze lebenden Afghan*innen durch die Regierung von 38 auf 54,5% unterstrichen – die allerdings im Bericht nicht erwähnt wird, obwohl die drei Wochen vor seinem Fertigstellungsdatum erfolgte.

Auch hieraus ergibt sich: eine Einzelfallprüfung ist bei allen Asylbewerbern notwendig, wenn Rückkehrmöglichkeiten analysiert werden. (In der Praxis wird dies z.B. durch die Festlegung von Herkunftsländern „geringer Bleibeperspektive“ ja untergraben.)

Kleidungsstücke von Opfern des Kabuler Anschlags am 22.4.18. Foto: 1TV

 

Abschnitte zur militärischen und Bedrohungslage

Neben deren Kürze sind diese Abschnitte z.T. auch inhaltlich problematisch, auch wenn es sich bei einigen Details eher um Beschönigungen als Falschdarstellungen handelt. Auch hier werden keine Trends herausgearbeitet.

Z.B. heißt es, „Kabul ist immer wieder Ziel von Anschlägen“ und deren Zahl liege „leicht über dem landesweiten Durchschnitt“. Die UNAMA-Zivilopfer- und andere UN-Berichte der letzten Jahre aber weisen deutlich nach, dass die Tendenz steigend ist: Die Zahl der von den UN dokumentierten Zwischenfälle hat sich dort von 2008 bis 2017 verfünffacht, die der zivilen Opfer von 2012 bis 2016 sogar verzehnfacht und ist 2017 noch einmal um 13% gestiegen – nicht nur durch das Auftauchen des IS. (Dessen erster großer Anschlag erfolgte im Juli 2016; seine besonderen Anschlagsziele sind Schiiten und ihre religiösen und sozialen Einrichtungen; eine ähnliche Tendenz zeigt sich auch in Herat.) Das wirft Licht auf die – durch ihre Abschiebepraxis belegte – Fehleinschätzung der Bundesregierung, dass Kabul als Abschiebeziel hinreichend sicher sei. (Es handelt sich eher um eine „Abwurfstelle“, denn es gibt nur eine sehr embryonale und kurzfristige Nachsorge für die Ankommenden und – mit dem Hinweis, das liege in afghanischer und UN-„Verantwortung“ – keinerlei Nachforschungen, wie es ihnen hinterher ergeht. Das gilt ähnlich auch für „freiwillige“ Rückkehrer.

Ähnlich „statisch“ sind die Angaben zur Verhältnis der territorialen Kontrolle von Taleban und Regierung. Laut US-Militär (via SIGAR-Berichte) hat die Regierung von Januar 2016 bis Januar 2018 etwa 15% ihres Territoriums verloren. Erwähnt wird zwar, dass „wie in einem asymmetrischen Konflikt nicht unüblich, primär die Aufständischen… bisher noch … die Initiative ergreifen“ – dass sie doppelt so viele Operationen initiieren (und zwar schon seit mehreren Jahren) wie die Regierungstruppen, bleibt ebenfalls ungesagt.Die Feststellung, die Aufständischen „konzentrier[t]en“ ihre Angriffe „auf einzelne Distriktzentren“ in fünf namentlich genannten Provinzen, während alle Provinzhauptstädte „unter Regierungskontrolle“ stehen, zeichnet ein deutlich unrichtigeres völlig Bild. Tatsächlich stehen 5 bis 8 Provinzhauptstädte unter permanentem Druck bis de-facto-Einkreisung der Taleban, darunter der ehemalige Hauptstationierungsort der Bundeswehr, Kunduz. Bei mehrmaligen Stichproben über jeweils wenige Tage habe ich in öffentlich zugänglichen Quellen Berichte über Kämpfe in 8 bis 15 (wechselnden) Provinzen ausgemacht. UNOCHA-Angaben von Ende 2017 sehen „mindestens 30 der 34 Provinzen von Konflikt und Vertreibung betroffen“ (was nicht heißt, dass es in den übrigen Provinzen keine Kampftätigkeit oder Anschläge gebe – das ist nur in Panjschir der Fall) und 120 von ca. 400 Distrikten seien „stark konflikt-betroffen“, eine Verdopplung gegenüber 2015 .

Der Landesnorden – z.B. die besonders stark betroffenen Provinzen Kunduz und Faryab im deutschen Verantwortungsbereich bei Resolute Support – werden bei Kampfhandlungen am Boden (trotz hoher Zahlen im EASO-Bericht) nicht erwähnt.

Dass in diesem Zusammenhang das „subjektive Sicherheitsempfinden“ der Afghanen indirekt der Darstellung der Gesamtlage gegenübergestellt wird, schient mir zu insinuieren, dass die Afghanen – salopp gesagt – die Dramatik der Lage übertrieben (S. 19).

Wo ein Trend angeführt wird – der 9prozentige Rückgang der Zahl der Zivilopfer 2017 gegenüber 2016 – handelt es sich um eine positive Entwicklung. Nicht erwähnt wird aber, dass – mit einer Ausnahme (2012) in allen Vorjahren Steigerungen zu verzeichnen waren.

Zu begrüßen ist im Gegenteil, dass frühere Aussagen, die Taleban würden eigentlich gar nicht auf Zivilisten zielen (etwa der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière in einem ARD-Interview im Februar 2017) nicht in den Bericht aufgenommen wurde. (Auch wenn die Zahl der Opfer bei den Regierungsstreitkräften tatsächlich doppelt so hoch wie die der zivilen Opfer ist.)

Rückkehrerfragen

Dass in Afghanistan ein „eklatantes“ soziales urban/rurales Gefälle bestehe, ist m.E. nicht hinreichend belegt. Verschiedene Studien ziehen hier unterschiedliche Schlussfolgerungen; die Samuel-Hall-Consultancy etwa setzt in einer Studie von 2014 die städtische Armut sogar höher an als die in ländlichen Gebieten. (Es kann davon ausgegangen werden, dass sich das Verhältnis nicht dramatisch verändert hat – bei einer Steigerung der Gesamtarmutsrate von 38 auf 54,5% von 2011 bis 2018. Diese Zahl ist im Bericht ebenso nicht enthalten wie die neuesten UN-Zahlen zur food vulnerability, die über den gleichen Zeitraum von 30,1% auf 44,6% stieg.)

Ebenso selektiv sind die Aussagen zu Rückkehrerprogrammen(es fehlen Hinweise auf abschreckende Bürokratie und Korruption) sowie zur europäischen Abschiebepraxis: Hierwerden dienach Afghanistan abschiebenden Länder aufgezählt, aber nicht welche Abschiebehindernisse in einigen bestehen, die in Deutschland nicht gelten. Z.B. liefert Österreich keine wegen Terrorismus verurteilten Straftäter aus; die Schweiz schiebt keine lange in Iran ansässig gewesene afghanische Asylbewerber aus – obwohl an anderer Stelle im Bericht anerkannt wird, dass letzteres Schwierigkeiten bei der Reintegration in Afghanistan haben könnten.

Der weibliche Teil einer Nomadenfamilie, Paktia, 2006. Foto: Thomas Ruttig.

 

Detailfehler

Die Afghan Special Forces werden unter den Regierungskräften separat aufgelistet, gehören aber zur Armee (ANA).

Die unter den ethnischen Gruppen aufgelisteten Kuchi (Nomaden) sind eine soziale Gruppe; Angaben zur angeblichen Zusammensetzung der Jat unterkomplex. Dass es eine besondere Diskriminierung der Kuchi gebe, da sie „aufgrund ihres nomadischen Lebensstils als Außenseiter“ gälten, bedarf zumindest einer Differenzierung: Sie sind in Teilen inzwischen eine eher mächtige Gruppe (mit Wirtschaftskraft und Taleban-Verbindungen).

Dass nicht islamische Minderheiten „nicht mehr als 1% der Bevölkerung“ ausmachen ist zwar richtig, stellt die Dimensionen aber wahrscheinlich falsch dar. Es geht wohl eher um 0,01-0,05%. Offenbar werden die  Zahlen für Baha’i und (konvertierte) Christen überschätzt.

Die Bilanz der Realitätsnähe dieses Berichts muss also ambivalent ausfallen: Es gibt dabei einen positiven Trend, aber noch wird zu vieles (Negatives) ausgeblendet. Das zeigt z.B. die Unterlassung der Behauptung einer positiven Entwicklung der Sicherheitslage; aber es reicht noch nicht dafür zuzugeben, dass sich die Sicherheitslage verschlechtert hat.

Abschließend eine Feststellung des UNHCR-Deutschlandrepräsentanten vom 7.6.18, der sich der Verfasser anschließt:

„Die Situation ist nach wie vor schlecht, sowohl hinsichtlich der Gefahren aufgrund des bewaffneten Konflikts und der Terroranschläge, als auch im Hinblick auf die gezielten Menschenrechtsverletzungen gegenüber Einzelpersonen oder bestimmten Bevölkerungsgruppen“, sagte Dr. Roland Bank vom UNHCR am Donnerstag in Berlin. „Die Situation ändert sich ständig, ist aber immer kritisch. Der Schutzbedarf muss in jedem Einzelfall stets aufgrund aller zum Zeitpunkt der Entscheidung verfügbaren aktuellen Erkenntnisse bewertet werden.“ Sollte die Ablehnung im Asylverfahren länger zurückliegen, müsse der Schutzstatus möglicherweise neu geprüft werden. „Das gilt auch gerade für die in den Asylverfahren häufige Praxis, Schutzsuchende bei Gefahr in ihrem Heimatort auf die Ansiedlung an einem anderen Ort zu verweisen.“

 

Hier die Bewertung des AA-Asyllageberichts von Pro Asyl.

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