In großer Trauer habe ich die Nachricht vom Tod Ursula („Ulla“) Nölles erhalten, die am 8. September 2019 im 95. Lebensjahr in ihrem Heimatort Oststeinbek bei Hamburg friedlich eingeschlafen ist. Seit über 35 Jahren gehört Ulla zu den herausragenden Personen der nichtstaatlichen und ehrenamtlichen deutschen Afghanistan-Hilfe. Mit 91 Jahren hatte sie Afghanistan zuletzt besucht. Wer die charismatische Hamburgerin – hanseatisch-geradeaus und gleichzeitig warmherzig und bescheiden („ich bin nichts besonders“, pflegte sie ihre Auszeichnungen wie das Bundesverdienstkreuz am Bande und 1. Klasse zu kommentieren) – einmal kennengelernt hat, wird sie nie wieder vergessen.

Ulla Nölle (1924-2019)

 

1983 war es, als sie – wie sie selbst es nannte – vom „Afghanistan-Virus“ angesteckt wurde. Damals besuchte sie ihre Tochter Christine Nölle-Karimi, heute Professorin an der Universität Wien, die gerade an der Universität Lahore in Pakistan studierte. Beim Besuch eines afghanischen Flüchtlingslagers bei Peschawar lernten sie Nazanin kennen, eine junge afghanische Lehrerin, die in ihrem Haus eine kleine Schule aufgebaut hatte, in die sie Mädchen aus einem Flüchtlingslager holte und gemeinsam mit ihrer Schwester unterrichtete, aber der nun das Geld ausgegangen war, um den Transport zu finanzieren.

Auf dem Rückflug nach Deutschland am Münchner Flughafen berichtete Ulla einer fremden Frau davon und erhielt ihre erste Spende. Die zweite kam von ihrem Arzt und die nächsten von den Müttern der Mutter & Kind-Gruppen, in denen sie als Turnlehrerin unterrichtete. In den folgenden Monaten bat sie ihren Mann darum, ihr keine Geburtstags- oder Weihnachtgeschenke zu machen, sondern er sollte ihr einen Flug nach Pakistan schenken, damit sie die Spenden dort übergeben konnte. Bald wurden ihr, ihren Verwandten und Freunden bewusst, dass die Spender/innen sicherlich eine Bescheinigung haben wollten. Spendenbescheinigungen konnte aber nur ein Verein ausstellen. So wurde 1984 der Verein zur Unterstützung von Schulen für afghanische Flüchtlingskinder e.V. (VUSAF) gegründet, dessen Vorsitz Ulla bis 2003 innehatte; danach wurde sie Ehrenvorsitzende (Quelle diesen Teils: VUSAF).

Aber das war auch nicht so einfach, wie sie 2014 dem WDR berichtete: Ihre „gutsituierten Nachbarn“ fanden ihr Engagement „Blödsinn; mach lieber Kaffeeklatsch mir uns und geh mit uns in Theater.“ Dann fand sie die nötigen sieben Gründungsmitglieder unter jungen Leuten an der Universität Hamburg, borgte sich die Satzung eines Dritte-Welt-Ladens – und los ging es (bitte das ganze Audio hier anhören).1986 entstand die erste eigene Schule des Vereins in einem Flüchtlingslager in Pakistan.

1988 begann die Arbeit direkt in Afghanistan. Wieder in einem Flüchtlingslager in Pakistan berichteten ihr Mudschahedin aus der Gegend von Andkhoi – einem vor allem von Turkmenen besiedeltes Gebiet in der Nordprovinz Farjab –, dass sie das örtliche Hauptquartier der Sowjets zerstört hätten – aber das war die örtliche Schule, und die Bevölkerung beklagte diesen Verlust und bat um Wiederaufbau. (VUSAF fand dort auch eine gut laufende Mädchenschule.)

Seither hat der Verein zusammen mit der örtlichen Bevölkerung 63 Schulen für mehr als 71.000 Jungen und Mädchen erbaut. Er unterstützt staatliche Schulen, unterhält eigene Ausbildungsprojekte und leistet Nothilfe. In der Stadt Andkhoietwa gibt es ein Ausbildungszentrum für rund 1000 Jungen und Mädchen, die einen Universitätsbesuch anstreben und dort ab Klasse 7 Förderkurse besuchen können. In den Ferien organisiert VUSAF Lehrerfortbildungen, auch für Lehrkräfte, die an staatlichen Schulen unterrichten – „fast wie in einem Referendariat“.

In zwei Frauenzentren in Andkhoi und Bagh-e Bustan lernen junge Frauen Lesen, Schreiben, Rechnen und das Nähen und Besticken von Frauen- und Kinderbekleidung, so dass sie später selbst Geld verdienen können. Es gibt Vorträge zu Gesundheitsfragen und Frauenrechten – und ein Fitness-Centre.

2017 entstanden fünf neue Schulen für mehr als 10.000 Kinder, finanziert vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dem Auswärtigen Amt und privaten Spendern. 1,5 Millionen Euro öffentlichen Mittel und Zuwendungen wurden ergänzt durch mehr als 326.000 Euro private Spenden. Mit einem Teil der Spenden kann VUSAF die Eigenbeteiligung für einige Bauprojekte bezahlen; die Menschen im jeweiligen Dorf bauen in Eigenleistung immer die Mauer um das Schulgelände herum. 2018 waren VUSAF neben Farjab auch in den Provinzen Balch und Samangan tätig, heißt es im Jahresbericht.

Imam-Hussain-Schule in Masar-e Scharif _ hier bemüht sich VUSAF, ein Schulgebäude zu erreichten. Foto: VUSAF.

 

Ulla und der von ihr gegründete Verein stand und stehen aber auch für eine ganze Reihe ähnlicher deutscher Vereine, die zum Teil seit Jahrzehnten Projekte in Afghanistan unterstützen, dabei vollständig ehrenamtlich arbeiten, in der Öffentlichkeit aber – trotz aller Auszeichnungen – eher weniger wahrgenommen werden – ganz im Gegensatz zur sich als auch „Entwicklungshelfer in Uniform“ gerierenden Bundeswehr. Diese Vereine, die auch nach einem Ende der Militärmission in Afghanistan weiterarbeiten werden, benötigen finanzielle und personelle Verstärkung.

Auch für solche Vereine ist die Arbeit in Afghanistan zunehmend gefährlich. Im Falle von VUSAF etwa wurde 2007 der wichtigste lokale Mitarbeiter des Vereins, Rahmanqul, erschossen, wahrscheinlich von Taleban, die in Farjab in den letzten Jahren verstärkt aktiv wurden (hier und hier Analysen von AAN; hier ein VUSAF-Lagebericht von Dezember 2018 in meinem Blog). „Aber wenn man das Land und die Aufgabe, die man sich gestellt hat, liebt, macht man weiter und hofft“, sagte Ulla Nölle 2010 der Welt.

Der Verein hat auch andere harte Zeiten gesehen, etwa als 1998 die Taleban Andkhoi eroberten und zunächst alle Schulen schlossen – der Druck der Bevölkerung sorgte damals dafür, dass zunächst die grund- und später auch die Mädchenschulen wieder öffnen durften. Anfang Dezember 2018 rückten die Taleban wieder in die Nähe von Andkhoi vor, und der Schulbetrieb wurden unterbrochen, weil die Furcht bestand, die Stadt könne erneut an die Taleban fallen – dies trat dann aber nicht ein.

Ebenfalls 1998 unterstützte VUSAF Hausschulen (home schools) für Mädchen in Assadabad (Kunar) und anderen Gebieten Ost-Afghanistans, dort die einzige Form von Mädchenbildung, die die Taleban duldeten.Ein Jahr später schrieb der Verein an seine Spender: „Im vergangenen Herbst habe ich von der Jungenschule in Assadabad berichtet. Dort geht der Zerfall weiter. (…) Da die neue Bundesregierung [die erste rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder] alle Anträge für Afghanistan ablehnt [wegen des Taleban-Regimes], müssen wir einen anderen Weg suchen: Darf ich Sie alle bitten, auf ein gutes Abendessen zu verzichten und uns das Geld dafür zu spenden, damit diese 792 Kinder auch im kommenden Winter zur Schule gehen können?“

Marga Flader, die sie seit 2003 als Vereinsvorsitzende abgelöst hat, schrieb jetzt: „Wir werden [Ullas] Lebenswerk – wie schon in den vergangenen Jahren – fortsetzen. Unsere Hilfe wird weiter benötigt. Man könnte sagen, mehr denn je. Es wäre schön, Sie weiter an unserer Seite zu wissen“. VUSAF ist als Verein in der Tat so gut aufgestellt, dass die Arbeit nahtlos weitergehen kann. Auch Ulla wusste das.

 

Die Trauerfeier für Ulla Nölle findet am Montag den 16. September 2019 um 12:00 Uhr in der Kapelle 3 auf dem Friedhof Öjendorf (Hamburg) statt.

Wer spenden möchte, kann das wie folgt tun:

Spendenkonto: Hamburger Sparkasse, Afghanistan-Schulen, DE37 2005 0550 1008 2258 05, HASPDEHHXXX, oder Ethik-Bank, Afghanistan-Schulen, DE71 8309 4495 0103 0410 50, GENODEF1ETK.

Kontakt: info@Afghanistan-Schulen.de

http://www.afghanistan-schulen.de

 

Hier noch einmal der Link zu Ullas „Erlebten Geschichten“ von 2014 auf WDR 5.

Und hier eine Foto-Kollage von VUSAF zur Erinnerung an Ulla. 

RIP.