Vor eine paar Tagen berichtete ich hier (und in der taz) über die jüngste Eskalation des Afghanistan-Krieges, mit neuen Rekordzahlen an Taleban-Angriffen und US-Bombenabwürfen und –Luftschlägen im Jahr 2019. Die exakten Ergebnisse an toten und verletzten afghanischen Zivilist:innen werden wir kennenlernen, wenn im Februar der UNAMA-Jahresbericht zu diesem Thema veröffentlicht wird.

Der Vizechef der UN-Mission in Afghanistan, Toby Lanzer, wiederholte, was nicht aus dem Gedächtnis schwinden sollte: „Afghanistan bleibt der tödlichste Konflikt [weltweit], zusätzlich zu den anhaltenden Auswirkungen der Dürre von 2018, und verbunden mit zunehmender Armut.“ Deshalb ruft die UNO auch die Geberländer auf, für das laufende Jahr 730 Millionen US-Dollar an humanitärer Hilfe bereitzustellen, 130 Millionen mehr als 2019. Über 9,4 Millionen Afghanen benötigen laut UNO 2020 Hilfe für minimale Ernährung und Unterbringung; 2019 waren es „nur“ 6,5 Millionen.

Nun, da der zweite Sammelabschiebeflug nach Afghanistan von Bund und Ländern des laufenden Jahres und der 32. seit der unzeitgemäßen Wiederaufnahme dieser Abschiebungen wohl für den 12.2.20 terminiert ist, hier eine Vertiefung des vorangegangenen Textes, ein etwas breiterer Blick auf die Sicherheits- und soziale Situation in Afghanistan.

Während der Kämpfe in Kundus am 31.8.19. Foto: Tameem Tawfique/Twitter 

 

Zunächst ein Blick zurück nach 2019:

Wie bereits berichtet, tobt nach UN-Angaben in Afghanistan auch der tödlichste Krieg für Kinder. Nach letzten bisher vorliegenden Angaben wurden hier von Januar bis September 2019 2400 Kinder getötet oder verletzt (hier zum bisher letzten UNAMA-Quartalsbericht von Oktober 2019; hier noch einmal im neuen Jahresbericht von amnesty international).

Kriegsbedingt mussten 2019 in Afghanistan 162 Gesundheitszentren schließen, 52 davon wurden ganz zerstört. Das beeinträchtigte die Gesundheitsversorgung von etwa einer Million Menschen. Das geht aus Angaben des afghanischen Gesundheitsministeriums hervor. Insgesamt operieren landesweit 3.100 Kliniken und Gesundheitszentren.

2019 war Afghanistan weiterhin das schlechteste Land, um als Frau zu leben. Das ging aus einer Umfrage unter Frauenrechtsexpert:innen von TrustLaw (verbunden mit der Nachrichtenagentur Reuters hervor – hier zitiert). Dort heißt es: „Frauen im heutigen Afghanistan sehen sich einer ganzen Reihe von Bedrohungen gegenüber: Gewalt der Aufständischen, Angriffen auf Schülerinnen und arbeitenden Frauen, dafür, dass sie es wagen, sich in die öffentliche Sphäre vorzuwagen; einem hohen Niveau an Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt sowie weit verbreitetem körperlichen und sexuellen Missbrauch durch regierungstreue Kräfte; Zwangs- und Kinderheiraten und ‚Ehrenmorden’. 87 Prozent der afghanischen Frauen sind Analphabeten; 70-80 Prozent sehen sich Zwangsheiraten vor ihrem 16. Lebensjahr gegenüber.

Bettlerinnen in Kabul. Foto: Tolo.

Bettlerinnen in Kabul. Foto: Tolo.

 

Die Zeitschrift National Geographic, in Zusammenarbeit mit dem Osloer Friedensforschungsinstitut (PRIO) und dem Georgetown-Institut für Frauen, Frieden und Sicherheit, kam zu einem ähnlichen Schluss. Dort rangiert Afghanistan auf dem vorletzten Platz, gemessen an 11 Indikatoren aus den Bereichen Inklusion, Gerechtigkeit und Sicherheit (nur Jemen war schlechter)  – obwohl Afghanistan bei politischer Beteiligung recht gut abschneide (hier der gesamte Bericht).

Nach Angaben einer afghanischen Nichtregierungsorganisation verlassen 63 Prozent aller eingeschulten Mädchen bis zum Alter von 13-15 Jahren das Bildungssystem. Daher sei die Analphabetenrate unter ihnen immer noch 44% höher als bei Jungen.

Das Frauenministerium berichtete im November, dass es seit dem gleichen Monat 2018 insgesamt 6449 Fälle von Gewalt gegen oder Missbrauch an Frauen registriert habe – davon 51 als besonders schwer eingestufte Fälle (Mord und Gruppenvergewaltigung). In 2886 davon seien Untersuchungen eingeleitet worden. Amnesty international schreibt in seinem jüngsten Jahresbericht, dass solche Fälle wahrscheinlich „stark unterberichtet“ werden. Die UN sagte 2014, wahrscheinlich werde „nur eine niedrige Prozentzahl“ aller Fälle überhaupt angezeigt. Da das Frauenministerium jetzt auch mitteilte, die Zahl der gemeldeten Fälle sei in etwa gleichgeblieben, könnte bedeuten, dass die UN-Einschätzung heute noch unverändert zutrifft.

Warum so wenige Fälle angezeigt werden, erklärt eine Aussage der afghanische Menschenrechtskommission (AIHRC) in diesem Monat (Januar 2020): dass innerhalb des Landes „Wohnungen und Einrichtungen von Sicherheitsbehörden(!)“ die gefährlichsten Orte für Frauen seien, weil sie dort am häufigsten Gewalt ausgesetzt seien. Das heißt, geht eine Frau zur Polizei, könnte es sein, dass sie dort weiterer Gewalt ausgesetzt wird.

682 weitere Fälle von Gewalt gegen Frauen, so das Frauenministerium, seien erfolgreich durch Mediation geklärt worden. Auch das ist problematisch: Wie ich bereits im vergangenen Jahr schrieb, benachteiligt das Frauen strukturell. Oft wird dabei „Verzeihung“ durch die Frauen verlangt, die danach in der Familie der Täter bleiben (auch die Polizei schickt Frauen, die gegen häusliche Gewalt klagen, oft in ihre Familien zurück). Im schlimmsten Fall – und nicht nur in Einzelfällen – müssen Frauen ihren Vergewaltiger heiraten (falls sie nicht schon mit ihm verheiratet sind).

Im letzten Jahr schrieb ich:

Es gibt zahlreiche Berichte, die belegen, dass die Gefahr für das Leben von Frauen in der Tat häufig aus der eigenen Gesellschaft kommt und nicht so sehr aus dem bewaffneten Konflikt. 87 Prozent aller afghanischen Frauen waren schon einmal Gewalt in der Familie ausgesetzt, so wird geschätzt, zudem sind Übergriffe am Arbeitsplatz und im öffentlichen Raum ebenfalls häufig. Ende vergangenen Jahres ging der Skandal um sexuelle Übergriffe durch (männliche) Funktionäre des afghanischen Fußballverbandes gegen Spielerinnen der Nationalmannschaft durch die Medien (z.B. hier). Berichtet wurde 2013 über sexuelle Übergriffe gegen Polizistinnen (nochmals auch 2018), 2017 gegen weibliche Strafgefangene und 2019 gegen afghanische Flüchtlingsfrauen.

2014 begingen Frauen 80 Prozent aller registrierten Selbstmorde in Afghanistan; Psychologen machen dafür einen „endlosen Kreislauf von häuslicher Gewalt und Armut“ verantwortlich. (…) Aus dem neuen Strafgesetz, das im Februar 2018 unter viel internationalem Beifall verabschiedet wurde, wurde im letzten Moment der Passus über Gewalt gegen Frauen gestrichen.

Das Time Magazine zitierte im Dezember 2018 anonym eine afghanische Diplomatin:

Die Regierung will sagen, dass sie Frauen priorisiert. Aber in Wahrheit machen sie das nicht. Frauen in Afghanistan zu unterstützen ist etwas, zu dem Menschen auf der ganzen Welt Lippenbekenntnisse abgeben.

Armutstrend: weiter steigend

Sicherheits- und sozio-ökonomische Lage sind eng miteinander verknüpft. Das sieht man u.a. an der zunehmenden Wiederverbreitung der Kinderkrankheit Polio, die weltweit fast ausgerottet war. Afghanistan gehört zu den wenigen Ländern (hier eine ausführlich Analyse bei AAN), in denen sie sich kriegsbedingt wieder ausbreitet. Viele Gegenden des Landes sind zu unsicher, als dass dort die regelmäßigen Impfkampagnen der UNO alle Kinder erreichen können. Dazu hier ein taz-Artikel, in dem auch darauf hingewiesen wird, dass nicht nur der Krieg an sich den Zugang für die Impfhelfer erschwert, sondern der Verdacht der Taleban, dass der afghanische Geheimdienst versucht, sich über die Impfhelfer Daten über die Taleban und die von ihnen beherrschten Gebiete zu beschaffen.

Bisher schienen sich die Polio-Fälle auf Süd-Afghanistan zu beschränken, wo die Taleban weite Gebiete beherrschen und die Polio-Impfungen zeitweilig untersagten. Im Dezember 2019 wurde der erste Poliofall seit 2011 in der Nordprovinz Baghlan gemeldet, ein 4-jähriger Junge im immer wieder umkämpften Distrikt Dahan-e Ghori. Ende Januar wurde dann bekannt, dass auch im Westen des Landes wieder Fälle aufgetreten sind – und zwar insgesamt vier Fälle in den Provinzen Herat, Badghis und Farah. Während Badghis und Farah (AAN-Berichte hier und hier) schon lange von den Taleban dominiert werden, haben sie ihre Aktivitäten in Herat im vergangenen Jahr erheblich ausgeweitet (zu Herat demnächst ein neuer Bericht bei AAN). In den drei Provinzen wird nach Angaben von Gesundheitsbeamten die Hälfte der etwa 1,1 Millionen Kinder unter 5 Jahre nicht von der Polio-Impfkampagne erreicht werden. Dies droht auch 58.000 Kindern in der Nordprovinz Sarepul.

Weiter zunehmende und ihrem Ausmaß nach „unakzeptable“ Armut konstatierte neben der UNO die Weltbank in ihrem jüngsten Länderbericht zu Afghanistan – trotz 2,9 Prozent Wirtschaftswachstum 2019. Die Weltbank setzt die Armutsrate nun mit 55% an. Das sei v.a. auf eine Erholung in der Landwirtschaft zurückzuführen, die langsam die Folgen der Dürre 2018 überwindet. Laut Lanzer von der UNO (s.o.) seien die Folgen aber immer noch spürbar. Außerdem blieb die Wachstumsrate damit nur knapp über dem Bevölkerungswachstum, das die Weltbank (für 2017) auf 2,5% angibt (die Regierung gibt sogar nur 2,14% an). Aber die Bevölkerungszahlen sind nur Schätzungen, die sich aus anderen Schätzungen ergeben, denn in Afghanistan hat es nie einen umfassenden Zensus gegeben.

Gleichzeitig rutschte Afghanistan auf dem Globalen Korruptionsindex von Transparency International um einen Platz, von 172 auf 173 (von 180 Ländern) ab, bei konstant hohem Korruptionsniveau. Gleichzeitig bescheinigte TI der afghanischen Regierung, dass ihre Anti-Korruptionsmaßnahmen keinen Fortschritt gemacht hätten.

Bei einer Anhörung im US-Repräsentantenhaus am 28.1.20 sagte (Video hier) der US-Sonderinspektor für den Wiederaufbau in Afghanistan, John Sopko, dass Afghanistan „weit entfernt“ von dem Ziel der afghanischen Regierung ist, das Land ökonomisch unabhängig zu machen und die Regierung aus eigenen Mitteln zu unterhalten, vor allem Polizei und Armee. Zudem sei die nach wie vor „endemische Korruption“ die „größte strategische Gefahr“ für die Legitimität der afghanischen Regierung.

Quelle: The New Humanitarian (Bildschirmfoto).

 

Zudem hält laut Weltbank die „Vertreibungskrise“ an, mit 465.000 neu durch den Krieg und Naturkatastrophen Binnenvertriebenen im Jahr 2019 (IDPs, siehe UN-Angaben hier), plus 505.000 Rückkehrern, vor allem aus Iran. 422.000 der 465.000 IDPs waren nach UN-Angaben Konfliktvertriebene. Davon waren 58 Prozent Kinder.

Die Zahl der IDPs war 2019 zwar um ein Drittel niedriger als 2018 und die niedrigste seit 2015, liegt aber immer noch deutlich höher als in allen Kriegsjahren zuvor. Zudem hat sich die Zahl der IDPs damit auf 2,6 Millionen akkumuliert.

Aber: Die Schicksale von Binnenvertriebenen und Rückkehrern gleichen sich oft. Das Displacement Monitoring Centre in Genf schrieb in einem Bericht im Januar 2020:

Die Mehrheit der Rückkehrer aus dem Ausland lebt ein Leben von Binnenvertreibung. Sie sind entweder nicht in der Lage, in ihre Herkunftsgebiete zurückzukehren oder werden in Afghanistan wieder vertrieben.

Zwischen dem 1. und dem 12. Januar 2020 wurden bereits wieder 4336 Personen als vom Konflikt Binnenvertriebene registriert.

Ein etwas ausführlicherer Rückblick auf die 40 Kriegsjahre in Afghanistan von mir hier.

Teil 2 zur Sicherheitslage folgt demnächst.